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REDE/062: Annette Schavan zum Nationalen Bildungsbericht 2010, 27.01.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, zum Nationalen Bildungsbericht 2010 vor dem Deutschen Bundestag am 27. Januar 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!

Der Nationale Bildungsbericht, den Bund und Länder zum dritten Mal vorlegen, enthält zentrale Botschaften zur Leistungsfähigkeit des Bildungssystems in Deutschland, zeigt Perspektiven unseres Bildungssystems im demografischen Wandel und geht auf die wichtigsten Problemlagen ein. Zusammen mit der zuletzt vorgestellten PISA-Studie kann er auch als so etwas wie eine Bilanz über zehn Jahre Bildungsreform in Deutschland gewertet werden.

Beide Studien zeigen, dass die Reformbemühungen zu positiven Ergebnissen führen. Ich sage vor allem mit Blick auf unsere Schulen: Wer immer den Eindruck erweckt, dass sich in diesen zehn Jahren nichts verändert hat, der ignoriert die Anstrengungen in unseren Schulen. Anstatt anzufangen, uns über Bildungspolitik zu streiten, sollten wir den vielen Lehrerinnen und Lehrern an diesen Schulen für ihre erheblichen Anstrengungen danken, die in den letzten Jahren zu Verbesserungen geführt haben.

Wir wissen zugleich, dass es Problemlagen gibt, mit denen wir uns schon geraume Zeit befassen und bei denen wir noch nicht am Ziel sind. Auch deshalb räumt die christlich-liberale Koalition der Bildungs- und Hochschulpolitik Priorität ein und setzt Schwerpunkte dort, wo wir noch nicht gut genug sind. Ich appelliere ausdrücklich an die Länder, es ebenso zu tun. Bildungspolitik muss überall Priorität haben, braucht nicht immer neue ideologische Debatten, braucht nicht immer neue Alleingänge, die den Bürgern gar keine Chance mehr geben, den Überblick zu behalten. Vielmehr muss alles, was in der Bildungspolitik in Deutschland geschieht, mit mehr Gemeinsamkeit unter den Ländern, mehr Vergleichbarkeit und dem konsequenten Abbau von Mobilitätshindernissen verbunden sein.

Die zentralen Botschaften des Nationalen Bildungsberichts lauten kurz zusammengefasst:

• mehr Krippen- und Kindergartenplätze,
• mehr Ganztagsschulen,
• bessere Schulleistungen in Mathematik, den Naturwissenschaften und auch bei der Lesekompetenz,
• deutlich mehr Studienplätze,
• mehr Ausbildungsplätze,
• weniger Schulabbrecher.

Genau mit diesen Themen haben wir uns in den letzten Jahren befasst. Genau dazu haben Bund und Länder eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Sie zeitigt erste Erfolge. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.

Diese Stichworte - ich könnte noch mehr nennen; ich sage aber nur noch wenige Sätze dazu - zeigen auch: Wir können vor allen Dingen Erfolge sehen, wo sich Bund und Länder jenseits von Parteigrenzen und jenseits aller möglichen ideologischen Kämpfe durchgerungen haben, zu gemeinsamen Strategien zu kommen.

Ich nenne beispielhaft Bildung und Betreuung vor der Schule. Das Krippenprogramm - alle haben miteinander gerungen und es dann durchgesetzt - führt dazu, dass in Deutschland so viele Erzieherinnen wie noch nie zuvor in den Kitas tätig sind. Oder: Jede zweite Schule im Primar- und Sekundarbereich in Deutschland ist bereits eine Ganztagsschule. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die eine solche Schule besuchen und an den Angeboten teilnehmen, hat sich verdoppelt.

Deutschland gilt in der OECD als ein Land mit signifikanten Verbesserungen in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung. Darüber hinaus liegt uns allen besonders am Herzen, dass die Zahl der Schulabbrecher kontinuierlich sinkt. Wir wollen eine konsequente weitere Verringerung, weil wir wissen, dass der Schulabschluss für jeden Jugendlichen die Eintrittskarte für eine Ausbildung ist. Deshalb müssen wir das schaffen. Deshalb haben wir uns das mit Priorität vorgenommen. Deshalb gibt es Bildungsketten, Bildungslotsen und viele andere Programme, damit in Deutschland jeder Jugendliche die Voraussetzung hat, um eine gute Ausbildung zu beginnen.

Wenn wir uns an die Debatte über den Ausbildungsmarkt vor sechs bis sieben Jahren erinnern, ist jedem, auch jedem Fachpolitiker, klar, dass sich die Situation grundlegend verändert hat. Es gibt wesentlich mehr Ausbildungsplätze und durch die demografische Entwicklung weniger Bewerbungen. Also liegt der Schwerpunkt des Ausbildungspakts jetzt - auch das ist übrigens eine gemeinsame, ressortübergreifende Initiative von Bund und Ländern - auf der Qualifizierung, damit sich jeder Jugendliche erfolgreich auf eine Ausbildungsstelle bewerben kann. Das gesamte Potenzial auszuschöpfen, ist ein ganz wichtiger Beitrag mit Blick auf den Fachkräftemangel. Der Qualifizierung gilt vor allen weiteren Maßnahmen der Zuwanderung unsere besondere Verantwortung. Die Verantwortung dieses Parlaments, dieser Regierung und jeder Landesregierung besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zunächst eine gute Chance für Ausbildung und Studium bekommt.

Ich habe in dieser Woche die Bilanz des Hochschulpakts gezogen. Die erheblichen Bemühungen der Länder und des Bundes tragen Früchte. Statt geplanter 90 000 Studienplätze sind es 180 000 geworden. Studieren ist attraktiv. Noch nie haben so viele junge Leute in Deutschland studiert wie im Moment. Wir sind bei 46 Prozent. Jeder hier im Haus erinnert sich daran, dass wir uns jahrelang das Ziel gesetzt haben, die 40-Prozent-Marke zu erreichen. Jetzt stehen die Universitäten vor einer anspruchsvollen Aufgabe, zumal aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht zusätzliche Studienanfänger kommen. Ich sage es auch an dieser Stelle: Wir lassen die Studierenden nicht im Stich. Jetzt ist es wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, damit diese positive Entwicklung auch in den nächsten Jahren weitergehen kann.

Zum deutlich gewachsenen Interesse am Studium haben ganz gewiss auch die deutlichen Verbesserungen bei der Studienfinanzierung beigetragen. Ich nenne das BAföG, das Deutschlandstipendium und das Aufstiegsstipendium. Die Studierenden, die jungen Leute spüren, dass die Grundlagen für die Finanzierung ihres Studiums vielfältiger, elterneinkommensunabhängiger und damit für sie attraktiver geworden sind. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.

Dessen ungeachtet zeigt der Bericht, wo wir noch besser werden müssen, welche Problemlagen wir abbauen müssen. Das alles überragende Thema ist die Entkoppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung.

Die Überwindung von Bildungsarmut, das ist unser großes Thema.

Ich finde es bedauerlich, dass das, worüber am meisten geredet wird, wenn es um das Handeln geht, schlicht ignoriert wird. Deshalb sage ich auch: Wenn wir das jetzt korrigieren - das tun wir gerade; die Kollegin von der Leyen sowie die Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen arbeiten im Vermittlungsausschuss daran -, dann sollten Sie wenigstens aufhören, zu blockieren. Wir wollen das korrigieren. Hören Sie auf, das Zustandekommen des Bildungspakets weiter zu verzögern!

Die Überwindung von Bildungsarmut ist kein gutes Thema für Rhetorik. Es müssen Fakten geschaffen werden. Helfen Sie deshalb mit und hören Sie auf, zu blockieren und zu feilschen! Vergessen Sie nicht, dass Sie selbst damals gar nichts zuwege gebracht haben!

Wir werden über das Bildungspaket hinausgehend mit Allianzen für Bildung Bildungspartnerschaften vor Ort auf den Weg bringen, weil für uns völlig klar ist, dass die Gruppe der Kinder, die mit Risikolagen leben und deshalb eine schwierigere Bildungsbiografie haben, weit über die Gruppe der Hartz-IV-Kinder hinausgeht. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen in Kooperation mit Sportvereinen, Bibliotheken, der Stiftung "Lesen", den Einrichtungen der kulturellen Bildung und mit vielen anderen Partnern Allianzen für Bildung vor Ort schaffen. Wir wollen eine gesellschaftliche Bewegung für Bildung mit dem Ziel einer besseren Bildungsteilhabe. Bildung ist nicht nur eine Frage des Staates. Das ist auch eine Anfrage an unsere Gesellschaft, die eine bildungsbegeisterte und bildungshungrige Gesellschaft werden muss.

Wir werden die Integration durch Bildung weiter verstärken. Nehmen Sie die Akzente, die wir im Bereich der frühkindlichen Bildung setzen - ihr Erfolg ist augenscheinlich: die flächendeckende Sprachförderung, die Erzieherinnenfortbildung, die Häuser der kleinen Forscher. Jedes Kind hat Talente. Wir wissen, je stärker wir unsere Kindertagesstätten bei der frühkindlichen Bildung unterstützen, umso besser werden die Voraussetzungen zu Schulbeginn sein und umso größer ist die Chance, dass sich die Bildungsbiografien der Kinder gut entwickeln.

Das Thema Weiterbildung wird uns auch aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten Jahren stärker beschäftigen als in der Vergangenheit. Der Schwerpunkt des Nationalen Bildungsberichtes ist das Bildungssystem im demografischen Wandel. Der demografische Wandel wird vor allen Dingen bei Standortfragen im ländlichen Raum Konsequenzen haben. Wir brauchen Veränderungen in der beruflichen Bildung. Wir müssen von der Spezialisierung der Ausbildungen weg und hin zu den Berufsfeldern. Das werden wir im Laufe des Jahres angehen. Wir werden dafür sorgen müssen, dass der Hochschulpakt weiterentwickelt wird. Wir werden sehr genau beobachten, wie mit der demografischen Rendite in den Ländern umgegangen wird. Es ist wichtig, dass das Geld trotz rückläufiger Schülerzahlen weitestgehend im System bleibt. Wir halten am 10-Prozent-Ziel für Bildung und Forschung in den nächsten Jahren fest.

Alle Akteure im Bildungssystem - der Bund befindet sich da in einem guten Dialog mit einer Reihe von Ländern - werden darauf achten müssen, dass die Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland zu mehr Leistungsfähigkeit, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Vergleichbarkeit und zu weniger Alleingängen führen. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder, egal wo sie zur Schule gehen, ob in Hamburg, in Dresden oder in Berlin, vergleichbare Leistungen, vergleichbare Bildungsabschlüsse und vergleichbare Schulmaterialien haben. Das muss in einer globalen Welt so sein, und das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Deshalb lade ich Sie parteiübergreifend ein: Lassen Sie uns - dies hat sich in mancher Region in Deutschland schon bewährt - mit möglichst viel Konsens die Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland gestalten.


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Quelle:
Bulletin Nr. 10-3 vom 27.01.2011
Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan,
zum Nationalen Bildungsbericht 2010 vor dem Deutschen Bundestag
am 27. Januar 2011 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2011