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GAZA/071: Waffengang und Widerstand - Bomben, Bremsen, Wirtschaftsnot ... (Martin Lejeune)


Zur Lage der Wirtschaft im Gazastreifen

Tagebuchaufzeichnungen eines Journalisten aus Gaza-Stadt

von Martin Lejeune



Gaza-Stadt, am Donnerstag, dem 14. August 2014

Jamal Abdallah al-Hurani, dreifacher Vater und Eigentümer einer Tischlerei in der Salah-al-Din-Straße in Jabalya, einer 100.000 Einwohner großen Stadt im Norden des Gazastreifens, wandelt durch ein Trümmerfeld. Niedergerissene Wände, zerbrochene Fensterscheiben, zerschmetterte Steine, verkohltes kostbares Sandelholz liegen dort, wo bis vor kurzem noch al-Huranis Betrieb stand. In der Nacht von 27. auf den 28. Juli, dem ersten Tag von Eid-Al-Fitr, dem Fest der Muslime am Ende des Fastenmonats Ramadan, das von seiner Bedeutung her mit dem Weihnachtsfest der Christen vergleichbar ist, warf die Luftwaffe der israelischen Streitkräfte drei Bomben über al-Huranis Tischerlei ab. Jede der drei Bomben hatte eine Sprengkraft von 250 Kilogramm. Al-Hurani zeigt auf die zerstörten und verschmorten Überreste von Tischen, Stühlen, Sesseln und Betten. "Alle exakt nach Maß für unsere Kunden angefertigt, mit den besten Hölzern liebevoll verarbeitet und aufwendig verziert, so wie es unsere Kunden von uns erwarten", bedauert al-Hurani die Vernichtung seiner Werke. Die Tischlerei der Familie al-Hurani ist über die Stadt Jabalya hinaus im ganzen Gazastreifen bekannt und sehr geschätzt als präzise arbeitende Tischler. Neben den Familienmitgliedern beschäftigte al-Hurani 25 Arbeiter in seiner großen Werkstatt. "Sie alle sind durch die vollständige Zerstörung unseres Betriebs jetzt arbeitslos und wissen nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollen. Wir alle wissen nicht, wie es für uns weitergehen soll ", klagt al-Hurani. Rücklagen für den Bau einer neuen Werkstatt habe er nicht und eine Klage auf Entschädigung des laut al-Hurani 450.000 US-Dollar großen Schadens vor einem Zivilgericht in Israel ist auch nicht möglich. In Israel gibt es seit dem Jahr 2007 ein gültiges Gesetz, das den Gazastreifen als feindliches Gebiet definiert und Klagen auf Entschädigung für Bombardierungen im Gazastreifen vor israelischen Gerichten verbietet.

Links: Komplett zerstörte Wohnhäuser und Ruinen, rechts: Gruppen von Menschen zwischen Schutt und Ruinen - Fotos: © 2014 by Martin Lejeune Links: Komplett zerstörte Wohnhäuser und Ruinen, rechts: Gruppen von Menschen zwischen Schutt und Ruinen - Fotos: © 2014 by Martin Lejeune

Fotos: © 2014 by Martin Lejeune

Abu Eida, eine der größten Baufirmen des Gazastreifens, hat ihren Hauptsitz im Industriegebiet östlich von Jabalya. Mehrere 250-Kilobomben warf die Luftwaffe am 2. August über dem Firmenkomplex ab, die genaue Anzahl kann Abed Rabou Abu Eida, der Geschäftsführer des Baukonzerns, nicht nennen, da er zum Zeitpunkt der Bombardierungen zu Hause war. Ein Augenschein auf dem zerstörten Betriebsgelände macht das Ausmaß der Zerstörung deutlich: Die drei großen Betriebsstätten, alle solide aus Stahlbeton gebaut, die Lagerhalle mit Zement und Bausteinen sowie der Fuhrpark mit den Baumaschinen sind zerstört. Abu Eida beziffert die Schadenssumme auf 7,5 Millionen US-Dollar. Seine 70 festangestellten Arbeiter habe er umgehend entlassen müssen, da die Firma nicht mehr operieren könne. Weitere Hunderte Zeitarbeiter, die Abu Eida für größere Bauprojekte zusätzlich beschäftigte, haben nun auch keine Arbeit mehr. "Die Luftwaffe hat bereits 2008 und 2012 unser damaliges Werksgelände vollständig zerstört und unsere Firma hat bereits 2008 und 2012 aufgrund des 2007 erlassenen Gesetzes keine Entschädigung erhalten", berichtet Abu Eida. "Diesmal haben wir kein Geld mehr, um unsere Firma ein drittes Mal neu aufzubauen."

Am Ende der Abu-Khayr-Straße im Industriegebiet bei Jabalya stand der Bauernhof der Al-Fayoumi-Familie. Sie hatte 150 Kühe und verkaufte die Milch zweimal am Tag an Molkereien. 130 Kühe wurden während der Bombardierungen am 2. August der Ställe getötet, erzählt ein Arbeiter auf der Farm der Al-Fayoumis. Während des Besuches auf dem zerstörten Hof am 13. August ist er noch dabei, die Kadaver einzusammeln und zu verbrennen. Die halbverwesten und furchtbar stinkenden Kadaver einiger Rinder liegen noch neben verkohlten Hühnern. Eine Fliegenschar bedeckt die Kadaver. "Woher sollen die Al-Fayoumis jetzt neue Kühe bekommen?", fragt der Arbeiter, der seinen Namen nicht nennen will. "Die Grenzen nach Gaza sind zu und die Schmugglertunnel zerstört."

Wael al-Wadia, Eigentümer der Saraio-Süßwarenfabrik im Industriegebiet von Jabalya, führt durch seine zerstörten Fabrikhallen, in denen Speiseeis, Biskuits und Kuchen hergestellt wurden, bevor die Fabrik vollständig zerstört wurde. "100 Arbeiter hatte ich fest angestellt. 100 Arbeiter, die 100 Familien ernährt haben und jetzt ohne Einkommen sind", sagt al-Wadia. Fünf Tonnen Süßwaren habe er täglich in der Fabrik produziert, nun sind alle Maschinen und Fabrikhallen zerstört. 7 Millionen US-Dollar würde eine Neuanschaffung der modernen Maschinen kosten, so al-Wadia, die er aus Italien importiert habe. "Wir haben hier die besten Biskuits des Gazastreifens hergestellt. Alle Märkte in Gaza verkauften unsere Produkte, die so gut waren wie die Biscotti, die es in Italien gibt", berichtet al-Wadia.

Schutt, Ruinen, eine schlammig-trübe Wasseransammlung; aus einem daneben verlaufenden, lecken Rohr holen Menschen mit Kanistern Wasser - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Nicht nur Fabriken, Krankenhäuser, Schulen, Bauernhöfe, landwirtschaftliche Flächen und die berühmten Orangenplantagen bei Beit Hanoun wurden zwischen dem 6. Juli und dem 3. August zerbombt. Auch das einzige Elektrizitätskraftwerk des Gazastreifens, die größten Moscheen, darunter die Imam Schafiye-Mosche in Zaytun, die 8.000 Betenden Platz bot, sondern auch das Gebäude von Al-Quds-TV, der größten Rundfunkanstalt im Gazastreifen. Auch Zehntausende Wohnhäuser wurden zerbombt. Im persönlichen Gespräch sagt Abdallah al-Frangi, der Gouverneur von Gaza und hoher Funktionär der Fatah, daß 600.000 Menschen obdachlos geworden seien durch die Bombardierung von Wohnhäusern. 600.000 Menschen, die nun in Kindergärten, Schulen, bei Verwandten, Freunden, Fremden oder sogar zwischen den Trümmern ihrer Häuser schlafen. 600.000 Menschen von 1,8 Millionen Bewohnern des Gazastreifens. Andere Quellen, hochrangige Politiker der Hamas, behaupten, es seien 700.000 Menschen obdachlos geworden. Angesichts der verheerenden Zerstörungen der zivilen und ökonomischen Infrastruktur, erklärte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am 31. Juli in Ramallah den Gazastreifen zum «humanitären Katastrophengebiet». Der Fatah-Vorsitzende forderte die Vereinten Nationen öffentlich dazu auf, alles zu unternehmen, um den Menschen zu helfen. "Sind daraufhin im deutschen, österreichischen und Schweizer Fernsehen Spendengalas gesendet worden oder zumindest in Nachrichten Spendenkonten für die notleidende Bevölkerung des Gazastreifens eingeblendet worden?", fragen die Menschen in Gaza den deutschsprachigen Reporter.

Vier Jugendliche inmitten von zerstörten Häusern und Schutt - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Der Sozialökonom Muhsen Abu Ramadan, Direktor des Arabischen Zentrums für agrarökonomische Entwicklung im Gazastreifen, gilt als einer der renommiertesten Wirtschaftsexperten Palästinas. "Die ökonomische Krise begann aufgrund der seit acht Jahren anhaltenden Blockade des Gazastreifens lange vor der jüngsten Aggression", sagt Abu Ramadan. Vor Beginn der Angriffe am 7. Juli waren 40 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos, 30 Prozent lebten unter der Armutsgrenze, 57 waren von Unterernährung bedroht und 70 Prozent erhielten Lebensmittelpakete des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten oder anderer Hilfsorganisationen. "Diese Zahlen haben sich seit den Bombardierungen dramatisch erhöht", so Abu Ramadan. 220 Fabriken zerstörte die israelische Armee im Juli und August vollständig und weitere Hunderte teilweise. Die Höhe der direkten Schäden durch die Zerstörung landwirtschaftlicher Nutzflächen schätzt Abu Ramadan auf 200 Millionen US-Dollar und die Höhe des gesamtwirtschaftlichen Schadens und zerstörter Infrastruktur auf mehrere Milliarden US-Dollar. "Fünf Jahre würde Gaza brauchen, um die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen", schätzt Abu Ramadan. Aber unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen der Besetzung und der Blockade des Gazastreifens würde auch in zehn Jahren der Wiederaufbau nicht zu schaffen sein. "Wir haben das Recht auf Einfuhr von Baumaterialien und dieses Recht muß umgehend umgesetzt werden, vor allem mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Ansonsten können wir unsere zerstörten Häuser und Fabriken nicht wiederaufbauen", fordert Abu Ramadan.

Ein Junge mit einer Ziegenherde auf Sand, im Hintergrund Geröll, einige Bäume und Gebäude - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Beschäftigungszahlen belegen eindrücklich den Niedergang der Wirtschaft in Gaza. Vor Beginn der Blockade im Jahre 2007 haben 54.000 Menschen in der Industrie und 60.000 in der Landwirtschaft gearbeitet, vor Beginn der Angriffe am 6. Juli immerhin noch 20.000 in der Industrie und 28.000 in der Landwirtschaft. Nach dem Inkrafttreten mehrerer humanitärer Waffenruhen seit dem 4. August sind es wohl nur noch einige wenige Tausend Beschäftigte in beiden Sektoren. Wenige Tausend von 1,8 Millionen Menschen. Hinzu kommen einige Tausend Angestellte des öffentlichen Dienstes, die jedoch ihre Gehälter nicht immer pünktlich bekommen und einige Tausend, die im Dienstleistungssektor arbeiten, z. B. in den Journalistenhotels oder als Übersetzer und Taxifahrer, sowie einige Tausend selbständige Händler. "Israel greift nicht nur Zivilisten und ihre Häuser an, sondern zerstört auch systematisch die Wirtschaft des Gazastreifens, um die Bevölkerung von Nothilfe abhängig zu machen. Jetzt, wo beinahe die gesamte Wirtschaft zerstört ist, die Menschen nicht mehr arbeiten können und keine Kaufkraft mehr vorhanden ist, wollen noch mehr Jugendliche als zuvor auswandern. Durch das Abwandern von jungen qualifizierten Fachkräften wird die Wirtschaft noch mehr geschwächt. Israel hat innerhalb von acht Jahren Embargo und drei Angriffen in fünf Jahren die Transformation einer funktionierenden Wirtschaft in ein Dritte Welt Land erreicht. Ohne die Beendigung des Embargos ist es uns nicht möglich, aus eigener Kraft diesen Teufelskreis zu durchbrechen", konstatiert Abu Ramadan.

Porträt - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für ARD, dpa, Neues Deutschland und taz.

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Quelle:
Martin Lejeune
Freier Journalist, Berlin
derzeit: Gaza-Stadt
Facebook: www.facebook.com/lejeune.berlin
Blog: martin-lejeune.tumblr.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2014