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OSTEUROPA/001: Ukrainekrieg - wer bestimmt den Rhythmus ... (SB)


Russische Panzer in der Ukraine und woher ...



In der Ukrainekrise überschlagen sich die Ereignisse. Noch am Dienstag hatte der erste Handschlag sowie ein Direktgespräch zwischen den Präsidenten der Ukraine und Rußlands, Petro Poroschenko und Wladimir Putin, bei ihrem ersten Zusammenkommen seit Monaten im weißrussischen Minsk international für einen wenn auch skeptischen Optimismus gesorgt. Unter Vermittlung Weißrußlands und im Beisein der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton hatten sich die Beteiligten auf einen von Poroschenko vorgelegten Friedensplan verständigt sowie unter Einbeziehung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Bildung einer ständig tagenden Kontaktgruppe vereinbart mit dem Ziel, eine Feuerpause in den im Osten des Landes zwischen der regulären Armee und pro-russischen Separatisten tobenden Kämpfen zu erwirken.

All dies ist inzwischen Schnee von gestern. Die Regierung in Kiew wie auch der USA werfen Rußland eine Invasion in die Ukraine vor und behaupten, Moskau habe am Mittwoch eine Kolonne militärischer Fahrzeuge in das Land geschickt. Beweise, beispielsweise Fotos, auf denen die rollenden russischen Panzer in der Ukraine zu sehen wären, gibt es allerdings nicht. In der bundesdeutschen Tagespresse wird nicht verhehlt, auf wie wackeligen Füßen dieser schwerwiegende, weil eine weitere militärische Zuspitzung der Lage riskierende Vorwurf steht. So heißt es in der "Welt" unter dem Titel "USA werfen Moskau tiefes Eindringen in Ukraine vor" am heutigen Donnerstag [1]:

Nach unbestätigten Angaben der ukrainischen Streitkräfte soll Russland am Mittwoch eine Militärkolonne in die umkämpfte Region bei Donezk geschickt haben. Insgesamt seien mehr als 100 Fahrzeuge im Osten der Ukraine unterwegs, teilte ein Armeesprecher am Mittwoch mit. Allerdings konnte der nationale Sicherheitsrat in Kiew diese Angaben am Abend nicht bestätigen. Kiew hat in der Vergangenheit schon häufiger von eingedrungenen Militärkonvois aus Russland gesprochen, dafür aber keine stichhaltigen Beweise vorgelegt. Auch die USA werfen Russland eine militärische Offensive auf ukrainischem Territorium vor. Russland habe weitere Kolonnen von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen auf das Gebiet des Nachbarlands geschickt, erklärte das Außenministerium am Mittwoch in Washington.

Dabei mutet höchst seltsam an, daß der Vorwurf einer russischen Invasion in die Ukraine nicht einmal in Kiew von allen verantwortlichen Regierungsstellen übereinstimmend bestätigt wird. So meldete auch der Focus bereits am Mittwoch um 18.07 Uhr in seinem Nachrichtenticker [2]:

Der nationale Sicherheitsrat in Kiew hat Berichte über einen angeblichen russischen Militärkonvoi nicht bestätigt (siehe FOCUS Online 16.56 Uhr). Von einer Panzerkolonne aus 100 Fahrzeugen im Grenzgebiet sei nichts bekannt, sagt Sprecher Andrej Lyssenko in der ukrainischen Hauptstadt. "Heute haben wir dort keine Bewegung einer Kolonne festgestellt", betonte er. Zuvor hatte das Pressezentrum der militärischen "Anti-Terror-Operation" gegen prorussische Separatisten mitgeteilt, im Raum Telmanowo sei ein solcher Konvoi gesehen worden.

Die deutsche Regierung gibt sich moderat, ohne sich zu der Frage der Glaubwürdigkeit dieser Anschuldigungen zu äußern, und drängt die ukrainische wie russische Regierung, ihren Gesprächsdialog fortzusetzen. Am frühen Mittwochabend, als auch in deutschen Medien, so auch im Spiegel, gemeldet wurde, daß der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine den russischen Militäreinmarsch nicht bestätigte, wiederholte die Bundesregierung ihre Forderung, Rußland solle - was Moskau stets bestritt - die Lieferung von Waffen und Kämpfern über die Grenze stoppen. Dies sei ein "Unding, ein schlimmer Zustand, der zur permanenten Eskalation beiträgt", so Regierungssprecher Steffen Seibert. [3]

Am heutigen Donnerstag eskalierte die militärische wie auch mediale Lage abermals. Die ukrainische Regierung gab an, russische Truppen hätten eine Kleinstadt nahe Mariupol besetzt. Beweise scheint es nicht zu geben. In "n-tv" wird dazu angemerkt, daß die Indizien eine klare Sprache sprächen und daß die Kämpfe in der Ostukraine zu einem "offenen Krieg zwischen der Ukraine und Rußland" zu werden drohten. Poroschenko verlangte bereits eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats, die Staats- und Regierungschefs der EU forderte er zu einer Dringlichkeitssitzung auf. Aus russischer Sicht stellt sich die Lage nt-v zufolge so dar [4]:

Russland bezeichnete die ukrainischen Angaben über einen Einmarsch der russischen Armee als Lüge. In der Ukraine gebe es keine russischen Streitkräfte, sagte Jewgeni Serebrennikow, Vizechef des Verteidigungsausschusses des russischen Föderationsrats.

Auf einer Sondersitzung der OSZE hat Rußland ebenfalls klargestellt, an einem Einmarsch in die Ukraine - wie unterstellt - überhaupt kein Interesse zu haben. Der am 30. August bevorstehende EU-Gipfel könnte sich in dieser auch zwischen den westlichen Staaten und Rußland aufgeheizten Lage als eine diplomatische Plattform erweisen, auf der die Eskalationspolitik weiter vorangetrieben werden könnte.

Der NATO-Gipfel, der am 4. und 5. September in Wales stattfinden wird, wirft seine Schatten voraus, veranlaßte er doch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zu Äußerungen, die keineswegs geeignet scheinen, zur Deeskalation der Ukraine-Krise beizutragen. "Wir müssen uns heute der Realität stellen, dass Russland die Nato nicht als Partner sieht", erklärte Rasmussen gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Desweiteren kündigte der NATO-Generalsekretär bereits an, daß das westliche Militärbündnis neue Stützpunkte im Osten des Bündnisgebietes errichten sowie seine Einsatzbereitschaft in einem völlig veränderten Sicherheitsumfeld in Europa verbessern wird. Schweden und Finnland, bislang neutral, haben Medienberichten zufolge schon zu erkennen gegeben, NATO-Übungen in ihren Ländern zulassen zu wollen.

All dies scheint in Rußland große Sorge hervorzurufen, wie folgender Focus-Tickermeldung vom 27. August, 20.05 Uhr, zu entnehmen ist [2]:

Russland hat den Westen vor einer Ausweitung seiner Militärpräsenz in Osteuropa gewarnt. "Russland wird auf Schritte der Nato im Osten reagieren", teilte Moskaus ständige Vertretung bei dem Militärbündnis mit. Die Nato hält kommenden Woche in Wales ihr Gipfeltreffen ab. Eine Verstärkung der Truppen in Osteuropa gefährde die euro-atlantische Stabilität, schrieb die Vertretung im Kurznachrichtendienst Twitter. Es dränge sich der Verdacht auf, dass die Nato Russland nicht als Partner sehe. Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen hatte im Zuge der Ukraine-Krise eine Verlegung von Truppen ins östliche Bündnisgebiet erwogen.

Von gänzlich unerwarteter Seite erhält Rußland in seiner Entschätzung und Bewertung der aktuellen Entwicklung Rückenstärkung. Wie das Online-Magazin Telepolis berichtete, ist in der September-Oktober-Ausgabe des renommierten US-amerikanischen Journals zur Außenpolitik, Foreign Affairs, ein bemerkenswerter Artikel des US-Politologen John J. Mearsheimer erschienen, in dem dieser die Verantwortung für den Ukraine-Konflikt der Europäischen Union und den USA zuweist. [6] Mearsheimer erläuterte deren Vorgehen laut Telepolis folgendermaßen [5]:

Beide hätten mit voller Absicht und in Kenntnis der - aus dem Sicherheitsinteresse Russlands heraus verständlichen - ablehnenden Haltung Russlands die Ostausdehnung der EU und, mit ihr verbunden, der NATO vorangetrieben, außerdem die "Demokratisierung" der Ukraine auch mit hohem finanziellen Einsatz und Manipulationen ("Social engineering") unterstützt, um die Ukraine für den Westen zu gewinnen. Der "Putsch" ("coup") gegen Janukowitsch sei offensichtlich von den USA unterstützt worden. Putins Reaktion sei verständlich, die Ukraine als Puffer sei für Russlands Sicherheitsbedürfnis unabdingbar.

Angesichts einer solchen Analyse und Einschätzung der prekären Lage bzw. ihrer Entstehungsgeschichte kommt der US-Politologe zu völlig anderen Schlußfolgerungen als die westlichen Staaten, die mehrheitlich offenbar bevorzugen, den "Druck" auf Rußland noch weiter zu erhöhen. Mearsheimer vertritt die Auffassung [5]:

Der einzige sinnvolle Weg aus der Krise sei, die Sicherheitsinteressen Russlands nüchtern einzukalkulieren. Die Ukraine müsse die Rolle des Puffers oder der Brücke akzeptieren, die ihr von der geostrategischen Situation vorgegeben sei. Alles andere sei abstrakt und realpolitisch bedeutungslos. Außerdem zeige das Desinteresse des Westens, der Ukraine militärisch zu Hilfe zu kommen, dass sie nicht die strategische Bedeutung habe, die dafür nötig sei. Die konstruktive Zusammenarbeit des Westens mit Russland sei zur Lösung wichtiger bestehender und anstehender Probleme von großer Bedeutung und sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/politik/ausland/article131662241/USA-werfen-Moskau-tiefes-Eindringen-in-Ukraine-vor.html

[2] http://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-im-news-ticker-putin-laesst-fabrik-von-luhansk-nach-russland-bringen_id_4089849.html

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-kiew-meldet-eindringen-russischer-militaerkolonne-a-988383.html

[4] http://www.n-tv.de/politik/Russische-Truppen-haben-ukrainische-Stadt-erobert-article13506041.html

[5] http://www.heise.de/tp/artikel/42/42618/

[6] http://www.foreignaffairs.com/articles/141769/john-j-mearsheimer/why-the-ukraine-crisis-is-the-wests-fault


28. August 2014