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SYRIEN/048: Dominostein Damaskus - bröckelnde Träume ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Mai 2014

Syrien: Kurden von der Außenwelt abgeschnitten - Iraks Kurdenführung und Türkei halten Blockade aufrecht

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Grenzübergang zwischen Syrien und Irak bei Til Kocer
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Til Kocer, Syrien, 20. Mai (IPS) - "Wir alle wissen, dass Ankara und Erbil den gemeinsamen Plan verfolgen, die gesamte Region zu evakuieren", sagt Abdurrahman Hemo, Leiter des Kurdischen Komitees für humanitäre Hilfe. "Sie treiben die Menschen hier so lange in die Enge, bis sie in Scharen fliehen."

Von seinem Büro in Derik aus, 700 Kilometer nordöstlich der syrischen Hauptstadt Damaskus, wirft Hemo der kurdischen Regionalregierung im Irak und auch der Türkei vor, eine Blockade der Kurdengebiete in Syrien durchgesetzt zu haben. "Der letzte Beweis ist der Graben, den die Behörden in Erbil (der Verwaltungshauptstadt der irakischen Kurdenregion), entlang der gemeinsamen Grenze ziehen."

Dieser Graben ist 17 Kilometer lang, drei Meter breit und zwei Meter tief. Erst kürzlich wurde zudem die Brücke über den Habur-Fluss, am einzigen offiziellen Grenzübergang zwischen den Kurdengebieten Iraks und Syriens, abgebaut.

Bewaffnete Gruppen, die dem Terrornetzwerk Al Qaeda nahestehen und offenbar in vielen Fällen über die türkische Grenze in das Gebiet kommen, belagern die Region seit Herbst 2012. "Die Menschen haben Angst, viele sind weggegangen", sagt der Krämer Isham Ahmed aus Derik. Trotz aller Schwierigkeiten will Ahmed sein Geschäft nicht aufgeben. Die Lebensmittelpreise haben sich inzwischen verfünffacht, weil viele Waren geschmuggelt werden oder Felder wegen des Krieges nicht bestellt werden können.

Seit die syrischen Kurden im Juli 2012 die Kontrolle über die Gebiete übernommen haben, sind so gut wie alle Waren knapp geworden. Obgleich sich die Türkei sowohl von der Regierung als auch von der Opposition in Syrien distanziert hat, wird die Demokratische Unionspartei - die größte politische Kraft der syrischen Kurden - von Ankara nach wie vor mit Misstrauen betrachtet. Denn ihre Ideologie ähnelt den Überzeugungen der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK.


Ankara und Erbil betreiben Gas- und Ölgeschäfte

Die Behörden in Erbil beschuldigen andererseits die neue Kurdenvertretung in Syrien, einen erheblichen Teil der Bevölkerung politisch auszugrenzen. Die hervorragenden Handelsbeziehungen zwischen Ankara und Erbil - es geht vor allem um Gas- und Ölgeschäfte - könnten dazu geführt haben, dass Erbil sich weigert, den neuen Status quo der Kurden im Norden Syriens anzuerkennen.

Die Spritpreise in Derik, die vor Ausbruch des Krieges bei umgerechnet 0,25 Euro lagen, haben sich inzwischen versechsfacht. Erdöl wird von zahlreichen behelfsmäßigen Raffinerien gekauft, die über das flache Land verteilt liegen, und destilliert. Die Arbeitskräfte - oftmals Kinder - sind einer ständigen Explosionsgefahr ausgesetzt.

Es überrascht nur wenig, dass Fahrzeuge aufgrund der schlechten Qualität des Benzins häufig liegenbleiben. Viele müssen bis nach Qamishli, der größten Stadt in der syrischen Region Jazeera etwa 600 Kilometer nordöstlich von Damaskus, abgeschleppt werden.

Qamishli, wo rund 200.000 Menschen leben, unterscheidet sich deutlich von anderen Städten in dem Bürgerkriegsland. Die meisten Viertel stehen unter kurdischer Verwaltung, doch die Regierung ist nach wie vor im Stadtzentrum und am Flughafen präsent. Zwei Parallelverwaltungen kehren einander den Rücken zu.

Die Kurdin Rauda Hassan, die gemeinsam mit Moaz Abdulkarim das Bürgermeisteramt ausübt, erklärt, dass Strom früher hauptsächlich aus Raqqa, 500 Kilometer nordöstlich von Damaskus, bezogen wurde. Das sei nun nicht mehr möglich, da die Stadt unter der Kontrolle der Al Qaeda stehe. "In Qamishli werden Gebäude der öffentlichen Verwaltung und der Flughafen rund um die Uhr mit Elektrizität versorgt. Die übrigen Menschen haben nur vier Stunden am Tag Strom und sind daher auf eigene Generatoren angewiesen", sagt die 30-Jährige, deren Amtssitz sich in dem ehemaligen Hotel Hadaya befindet.


Angst vor Rattenplage und Cholera

Wenige hundert Meter weiter praktiziert der Arzt Redovan Hamid, der immer mehr Mühe hat, seine Patienten zu versorgen. "Die Stromausfälle erschweren die Lagerung von Lebensmitteln, das ist aber noch nicht das Hauptproblem. Es gibt Fälle von Tuberkulose, und in manchen Stadtvierteln wird der Müll nicht mehr eingesammelt. Wir müssen uns also auf das Schlimmste gefasst machen: eine Rattenplage oder den Ausbruch der Cholera", erklärt Hamid, der die Situation auf die "von Ankara und Erbil erzwungene Blockade" zurückführt.

"Medikamente sind knapp oder haben das Verfallsdatum überschritten, weil sie lange an den Grenzen der Türkei und der irakischen Kurdenregion festgehalten wurden. Das ist empörend", so der Mediziner.

In der Hauptniederlassung der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond, die keine strukturellen Beziehungen zum Internationalen Roten Kreuz und dem Roten Halbmond unterhält - pflichtet der regionale Delegierte Agid Brahim Hamid bei. "Wir stützen uns ausschließlich auf die internationale Staatengemeinschaft, weil unsere Nachbarn uns völlig ignorieren."

Trotz allem zeigt sich ein kleiner Hoffnungsschimmer. Am 26. Oktober 2013 übernahmen Kämpfer der syrischen 'Volksverteidigungseinheiten' (YPG) die Kontrolle über den syrisch-irakischen Grenzübergang Til Kocer, 700 Kilometer nordöstlich von Damaskus und 400 Kilometer nordwestlich von Bagdad. Der Ort, jahrzehntelang ein wichtiger Warenumschlagplatz, hatte sich seit März 2013 in der Hand von Al-Qaeda-Extremisten befunden.


Grenzüberschreitender Handel schleppend

Nach der Ankunft der YPG in Til Kocer wurde daran gearbeitet, den bilateralen Handel wiederzubeleben. Dies geschah Ende Dezember, nachdem eine kurdische Delegation Behördenvertreter in Bagdad getroffen hatte. Der grenzüberschreitende Handel verläuft allerdings nach wie vor stockend. Da die Laster die Grenze nicht überqueren dürfen, müssen Waren zeitraubend umgeladen werden.

Auch die Sicherheitslage ist nicht befriedigend. "Die meisten Schießgeräusche kommen zwar aus einem Trainingslager der YPG", sagt ein Kurde. "In dem Gebiet halten sich aber auch noch Islamisten auf, deshalb müssen wir vor allem nachts immer Wache halten."

"Syrien dankt für den Besuch" steht auf einem Schild an dem Grenzposten, der bis jetzt noch kein Tor zur Außenwelt ist. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/05/syrian-kurds-ache-lifeline/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2014