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SYRIEN/060: Dominostein Damaskus - verbeulte Sichten ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. August 2014

Syrien: 100 Tage ohne Wasser - Bevölkerung Aleppos akzeptiert Hilfe vom Feind

von Shelly Kittleson


Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Ein Junge hat Brot aus einer der unterirdischen Bäckereien in Aleppo geholt, die gegründet wurden, um die Versorgung der Bevölkerung in der schwer umkämpften Stadt zu gewährleisten
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Aleppo, Syrien, 12. August (IPS) - Nach fast 100 Tagen ohne Wasser ist die einzige Zufahrtsstraße nach Aleppo im Nordosten Syriens, über die die Stadt mit Nahrungsmitteln versorgt werden könnte, noch immer unter Beschuss. Für die Blockade ist unter anderem die Al-Kaida-nahe Al-Nusra-Front verantwortlich. Nun hat die Extremistengruppe damit begonnen, große Eisblöcke an die Bevölkerung der zweitgrößten syrischen Stadt auszuteilen. Die Menschen nehmen die Geste mit gemischten Gefühlen auf.

Über die einzige Zufahrtsstraße in die besetzte Stadt bringen in der Regel LKW das Weizen zu den Bäckereien, die sich im Untergrund formiert haben. Sie bringen auch die Seife, mit der sich die Menschen waschen, sowie Treibstoff für Autos und Stromaggregate. Doch seit Monaten ist die Versorgung der Stadt unterbrochen: Scharfschützen halten die Lastwagen davon ab, in die Stadt zu gelangen. Das Assad-Regime lässt außerdem ununterbrochen tödliche Fassbomben auf die überwiegend kurdische Stadt niederregnen. Aleppo ist schon lange eine zerstörte Stadt.

Weite Teile Aleppos sind mittlerweile unter der Kontrolle der eher moderaten Islamischen Front, zu der sich im November 2013 sieben syrische Oppositionsparteien zusammengeschlossen haben, darunter die größte oppositionelle bewaffnete Gruppe aus Aleppo, die Al-Tawhid-Brigade. In anderen Teilen der Stadt kümmert sich die Al-Kaida-nahe Al-Nusra-Front nun um die Basisversorgung: Bewaffnete Männer überreichen ein Meter lange Eisblöcke an die wartende Bevölkerung, die in den vergangenen Monaten nicht nur auf Wasser, sondern auch auf Strom verzichten musste.

"Das sind gute Menschen", sagt einer der Bewohner Aleppos gegenüber IPS, und: "Sie sind Freunde." Er berichtet aber auch, dass er von genau dieser Gruppe vor mehreren Monaten ohne Angabe von Gründen festgenommen worden war.

Hinter vorgehaltener Hand erzählen viele Syrer, dass sie unzufrieden mit der Vorherrschaft der Al-Nusra-Front seien - obwohl sie bei weitem nicht so schlimm sei wie die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS; vormals ISIS). Die IS kontrolliert nach ihren jüngsten Eroberungen im Osten des Landes nun rund ein Drittel des Staatsgebietes. Darunter sind alle drei kurdischen Enklaven. Die IS versucht damit, ihr "Kalifat" bis an die türkische Grenze auszudehnen.


Frisch gestrichene Wände bilden Kontrast zu Schutt und Asche

Im Büro der Stadtverwaltung in Aleppo sind die Wände frisch mit weißer Farbe gestrichen. Leuchtend rote Aktenschränke bilden außerdem einen scharfen Kontrast zu den zerstörten Gebäuden ringsumher, deren Schutt auf den Straßen verteilt liegt, wo die Menschen versuchen, so gut es geht ihrem Alltag nachzugehen. "Wir werden immer wieder aufs Neue von Bomben getroffen, aber wir tun unser Bestes, zu zeigen, dass wir uns um einen Wiederaufbau bemühen", sagt einer der Verwaltungsmitarbeiter gegenüber IPS. Auch Abdelaziz Al-Maghrebi, der Chef der Stadtverwaltung, wurde bereits von einer Bombe getroffen: An seinem Oberschenkel klafft eine Wunde, die nie vernünftig behandelt wurde.

Die Stadtverwaltung hat ein Standesamt, außerdem ein Amt für Bildung, eine Rechtsabteilung und eine Abteilung für den Schutz der Bevölkerung. Das Amt für Infrastruktur ist zuständig für die Strom- und Wasserversorgung, für Abwasser und die Müllentsorgung. "Doch wir bekommen zu wenig Geld von der Exil-Regierung", sagt Mohammed Saidi, der über den Haushalt der Stadtverwaltung wacht. Als "Exil-Regierung" bezeichnet er den Syrischen Nationalrat (SNC), ein Oppositionsbündnis mit Sitz in Istanbul. "In manchen Monaten bekommen wir mehr Geld, in anderen weniger. Im Juli haben wir vom SNC gar nichts bekommen."

Er bestreitet allerdings Medienberichte, nach denen sich Mitglieder des Rates Geld, das für die syrischen Gemeinden bestimmt sei, in die eigene Tasche steckten. Vielmehr geht er davon aus, dass der Nationalrat selbst nicht immer ausreichend Geld zur Verfügung habe. Der SNC sei zum großen Teil abhängig von privaten Sponsoren und Stiftungsgeldern. "Die geben Geld für bestimmte vom SNC vorgeschlagene Projekte - wenn sie von ihnen überzeugt sind."


Unterirdische Schutzräume für Zivilbevölkerung

Einer der Vorschläge bezog sich kürzlich auf unterirdische Schutzräume für die Zivilbevölkerung. Das Geld dafür sei vor vier Monaten bewilligt worden. 16 solcher Schutzräume seien mittlerweile gebaut, bestätigt der Leiter der Abteilung für den Schutz der Bevölkerung gegenüber IPS. Die Abteilung wurde erst vor kurzem in der Stadtverwaltung etabliert. Bis dahin agierte sie als rein ehrenamtliche Gruppe.

Neben der Lebensmittelknappheit fehlt es auch an Treibstoff und Arzneimitteln. Weil Krankenhäuser häufig Ziel von Angriffen seien, werde der Aufenthaltsort für die wenigen vorhandenen Medikamente möglichst geheim gehalten, sagt Ibrahim Alkhalil, Leiter der Gesundheitsbehörde von Aleppo, gegenüber IPS. Viele Menschen müssen sterben, nur weil das Benzin knapp sei und oft die notwendigen Ersatzteile für Fahrzeuge fehlten, um diese fahrtüchtig zu erhalten, so der Arzt. So könnten Kranke die medizinischen Einrichtungen häufig nicht rechtzeitig erreichen. (Ende/IPS/jt/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/08/aleppo-struggles-to-provide-for-basic-needs-as-regime-closes-in/

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IPS-Tagesdienst vom 12. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2014