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SYRIEN/110: Dominostein Damaskus - Schlachtfeld der Großmächte ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 18. Oktober 2016
(german-foreign-policy.com)

Spiel mit dem Weltkrieg


18.10.2016 BERLIN/DAMASKUS - Hochrangige Militärs und Experten warnen mit Blick auf Forderungen nach der Verhängung einer Flugverbotszone über Syrien und nach der Lieferung von Flugabwehrraketen an aufständische Milizen vor einem offenen Krieg zwischen Russland und den USA. Entsprechende Forderungen sind auch von prominenten deutschen Politikern erhoben worden. Wie der Vorsitzende der US Joint Chiefs of Staff feststellt, würde die Ausrufung einer Flugverbotszone über Syrien "es erforderlich machen, gegen Russland Krieg zu führen". Dmitri Trenin, ein prominenter Außenpolitik-Experte vom Carnegie Moscow Center, warnt, Syrien könne sich, liefere man den Aufständischen Flugabwehrraketen, "in ein Schlachtfeld" zwischen Russland und den Vereinigten Staaten verwandeln. Trenin zufolge ist der Machtkampf um Syrien auch das Ergebnis des russischen Wiederaufstiegs in den vergangenen Jahren, der es Moskau erlaubt, zum ersten Mal außerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion militärisch zu intervenieren und damit "das faktische Monopol" der USA "auf den weltweiten Einsatz von Gewalt" zu brechen. In der Bundesrepublik erhobene Forderungen nach einer Verschärfung der Russlandsanktionen zielen darauf ab, Moskaus Wiederaufstieg zu stoppen und die westliche Hegemonie zu bewahren.


Russlands Wiederaufstieg

Wie die westlichen Sanktionsforderungen gegenüber Russland mit dessen Wiederaufstieg zusammenhängen, lässt eine Analyse von Dmitri Trenin erkennen, dem Leiter des Moscow Center der US-Stiftung Carnegie Endowment. Trenin, einer der renommiertesten Außenpolitik-Experten des Landes, hat im Frühjahr in der US-Zeitschrift Foreign Affairs den russischen Wiederaufstieg in seinen militärischen Aspekten knapp beschrieben. Dieser begann demnach mit dem Gegenschlag, den die russischen Truppen im August 2008 gegen die Südossetien beschießenden georgischen Streitkräfte führten. Er setzte sich fort mit der Übernahme der Krim, die in Reaktion auf den von Berlin und Washington forcierten Umsturz in der Ukraine erfolgte, und mit einer punktuellen Unterstützung für die ostukrainischen Aufständischen. Die verbreitete Behauptung, Moskau habe damit als erster Staat seit 1990 wieder bewaffnete Machtpolitik in Europa betrieben und eine fast 25 Jahre geltende Friedensordnung in Europa gebrochen, verweist Trenin mit einem Hinweis unter anderem auf die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre ins Reich propagandistischer Mythen. Allerdings sei Russland, nachdem es dem deutsch-amerikanischen Überfall auf Jugoslawien im Jahr 1999 sowie dem US-Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 ohne jegliche Chance zum Widerstand habe zuschauen müssen, seit Beginn des Ukraine-Konflikts wieder "willens und in der Lage, militärisch mit der NATO zu konkurrieren": "Russland ist als ernsthafte militärische Macht in Eurasien zurück."[1]


Das US-Gewaltmonopol gebrochen

Mit seinem militärischen Eingreifen in den Syrien-Krieg im vergangenen Herbst hat Moskau, wie Trenin konstatiert, nun zum ersten Mal seine militärpolitische Beschränkung auf Operationen in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion aufgegeben. Damit habe es nicht nur "ein spektakuläres Comeback" in einer Region vollzogen, in der es seit Anfang der 1990er Jahre keine Rolle mehr gespielt habe - im Nahen Osten; es habe darüber hinaus "das faktische Monopol auf den weltweiten Einsatz von Gewalt" gebrochen, das die Vereinigten Staaten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion innegehabt hätten, erläutert Trenin. Den "Status als Großmacht" suche Moskau nun zu stabilisieren, durchaus auch, "indem es an der Seite der USA als Ko-Förderer eines diplomatischen Prozesses" in Syrien "auftritt, um den Krieg zu beenden". Gelinge es Russland, seine politischen Ziele in dem Land umzusetzen, "dann könnte es lernen, seine militärische Macht überall auf der Welt effizient einzusetzen" und jeweils auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten zu operieren. Scheitere Moskau hingegen oder müsse es wegen der Intervention empfindliche ökonomische Einbußen hinnehmen, dann könnten sich seine gegenwärtigen militärischen Operationen außerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion als Ausnahme erweisen, urteilt Trenin.[2]


Massaker "völkerrechtlich zulässig"

Die Aussicht, Moskau könne mit einem Sieg über die Aufständischen in Aleppo - darunter bis zu tausend Mitglieder des syrischen Al Qaida-Ablegers - einen strategischen Erfolg erzielen und sich zu weiteren weltpolitischen Aktivitäten ermutigt fühlen, führt nun zu verzweifelten Versuchen im Westen, mit massivem politischem Druck das Ruder herumzureißen - um Russland womöglich doch noch in eine untergeordnete Rolle zurückdrängen zu können. Zur Begründung dienen die zivilen Kriegsopfer in Aleppo. Ginge es den NATO-Mächten tatsächlich darum, zivile Opfer zu vermeiden, gäbe es reichlich Gelegenheit dazu etwa in Afghanistan, wo von 2008 bis 2015 allein durch Luftschläge der NATO laut einer Untersuchung der Universität Boston mindestens 1.766 Zivilisten zu Tode kamen. Zudem verloren in Afghanistan im selben Zeitraum mindestens 2.492 Zivilisten bei Bodenoperationen der NATO und ihrer afghanischen Verbündeten das Leben.[3] Hinzu kamen mehrere tausend Zivilisten, die bei Anti-Terror-Operationen der Vereinigten Staaten und der mit ihnen verbündeten pakistanischen Streitkräfte starben. Frankreichs Regierung fordert nun, Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu verfolgen, will dies allerdings nur auf angebliche oder tatsächliche Kriegsverbrechen russischer und syrischer Militärs angewandt wissen. Zivile Opfer bunkerbrechender Bomben im Irak-Krieg vom Frühjahr 2003 hingegen haben ebensowenig französische Bestrebungen ausgelöst, die Täter vor Gericht zu stellen, wie die Zerstörung der irakischen Stadt Fallujah durch US-Truppen im November 2004, bei der laut Schätzungen des Roten Kreuzes mindestens 800 Zivilisten zu Tode kamen, und die Bombardierung von Krankenhäusern durch US-Bomber wie in Kunduz im Oktober 2015. In Deutschland hat erst kürzlich der Bundesgerichtshof ein von einem deutschen Oberst befohlenes Massaker, bei dem am 4. September 2009 nahe Kunduz etwa hundert Zivilisten ihr Leben verloren, sogar ausdrücklich als "völkerrechtlich zulässig" eingestuft (german-foreign-policy.com berichtete [4]).


Sanktionen "wie im Kalten Krieg"

Forderungen, wegen der zivilen Todesopfer bei den Angriffen auf Aleppo die aktuellen Sanktionen gegen Russland weiter zu verschärfen, sind in den vergangenen Tagen lauter geworden. Bereits am 7. Oktober hatte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), neue Sanktionen gegen Moskau verlangt und dies so erläutert: "Eine Folgen- und Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal."[5] Angesichts westlicher Kriegsverbrechen bewegt sich die Äußerung auf ziemlich dünnem Eis. Am selben Tag schloss sich Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, an: Die EU solle Moskau moderne Technologien verweigern, "wie wir das schon zu Zeiten des Kalten Krieges gemacht haben". Berichte, laut denen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu neuen Sanktionen tendiert, sind noch unbestätigt. Dagegen ausgesprochen haben sich bislang unter anderem SPD-Politiker und vor allem sozialdemokratische Außenminister anderer EU-Staaten, darunter Luxemburg und Österreich. Unterstützung findet das Dringen auf Sanktionen jedoch bei Bündnis 90/Die Grünen. Deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, hatte bereits am vergangenen Wochenende geäußert, die Bundesregierung müsse "dringend ein Verfahren zur Verhängung neuer Sanktionen gegen Russland für sein barbarisches Vorgehen in Syrien einleiten".[6] Die Forderung hat sie nun an diesem Wochenende bekräftigt und um das Plädoyer für die Einrichtung einer Flugverbotszone ergänzt.[7] Der CDU-Politiker Brok hatte schon zuvor gefordert, die syrischen Aufständischen massiv aufzurüsten - unter anderem mit Flugabwehrraketen.[8]


Schlaflose Nächte

Hochrangige Militärs und Experten warnen dringend vor einer Fortsetzung des Eskalationskurses, wie ihn etwa Politiker von CDU und Bündnis 90/Die Grünen fordern. Über die Forderung, eine Flugverbotszone über Syrien oder über Teile des Landes zu verhängen, hat sich vor kurzem US-General Joseph Dunford geäußert, der Vorsitzende der US Joint Chiefs of Staff: "Das würde es erforderlich machen, gegen Syrien und Russland Krieg zu führen. Das ist eine ziemlich grundlegende Entscheidung."[9] Mit Blick auf die mögliche Lieferung von Flugabwehrraketen an syrische Aufständische wiederum hat der Außenpolitik-Experte Trenin vom Carnegie Moscow Center gewarnt, Syrien könne sich leicht "in ein Schlachtfeld" zwischen Russland und den USA verwandeln: "wenn die Stellvertreter zunächst auf die Chefs zielen" - gemeint waren etwaige Rebellenangriffe mit Flugabwehrraketen auf russische Bomber oder auch Gegenschläge syrischer Regierungstruppen gegen etwaige US-Attacken - "und die Chefs dann nicht auf die Stellvertreter zurückschießen, sondern aufeinander".[10] Trenin, ein besonnener Fachmann, der nicht zu Alarmismus neigt, schreibt: "Das ist eine außergewöhnlich verstörende Aussicht, die den Leuten in Moskau und Washington schlaflose Nächte bereiten sollte." Stattdessen werde jedoch "Putins Russland" in westlichen Medien zunehmend behandelt "wie Amerikas alte Gegner - von Slobodan Milosevics Jugoslawien über Saddam Husseins Irak bis zu Muammar Gaddafis Libyen", und in Osteuropa würden inzwischen gar US-Kampfflieger "bejubelt", die sich "mit den Russen anlegen - und gewinnen". Trenin resümiert trocken: "Die Vorstellung eines Krieges in Syrien zwischen den Supermächten ist kaum weit hergeholt."


Anmerkungen:

[1], [2] Dmitri Trenin: The Revival of the Russian Military. In: Foreign Affairs, May/June 2016. S. 23-29.

[3], [4] S. dazu Die zivilen Opfer der Kriege.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59457

[5] CDU-Politiker fordern Sanktionen gegen Russland. www.tagesspiegel.de 07.10.2016.

[6] Severin Weiland: Merkels Russland-Dilemma. www.spiegel.de 09.10.2016.

[7] Katrin Göring-Eckardt: Der Druck auf Assad und Putin muss wachsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2016.

[8] CDU-Politiker fordern Sanktionen gegen Russland. www.tagesspiegel.de 07.10.2016.
S. auch Raketen für den Jihad.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59451

[9] Jonathan Marcus: Aleppo: Is a no-fly zone the answer? www.bbc.co.uk 11.10.2016.

[10] Dmitri Trenin: The Prospect of a Superpower War in Syria is Hardly Far-Fetched. carnegie.ru 05.10.2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2016

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