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BERICHT/130: Nyéléni-Forum - Agrarpolitische Mitgestaltung in Europa wächst (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 347 - September 2011
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Agrarpolitische Mitgestaltung in Europa wächst
Einwöchiges Nyéléni-Forum zur Ernährungssouveränität in Österreich

von Berit Thomsen, Jan-Hendrik Cropp und Nadja Flohr-Spence


Ernährungssouveränität ist ein sperriger Begriff. Früher jedenfalls. In den letzten Jahren hat es eine Bewusstseinsänderung dahin gegeben, dass wir selber über unsere Landwirtschaft entscheiden müssen. Das ist nicht nur bei Bäuerinnen und Bauern angekommen, sondern auch in vielen Initiativen in den Städten", sagt Heike Schiebeck von ÖBV - Via Campesina Austria in einer Vorstellungsrunde auf dem Nyéléni-Forum im österreichischen Krems. Eine Woche lang haben rund vierhundert Teilnehmer aus vierunddreißig europäischen Ländern sich ausgetauscht und über gemeinsame Strategien diskutiert. Die Europäische Koordination Via Campesina, Attac und verschiedene österreichische Plattformen und Organisationen haben das Forum organisiert. Auf Initiative von Henrik Maaß, jAbL, ist eine deutsche Delegation unterschiedlicher Organisationen mit zwanzig Teilnehmern nach Krems gereist.

Auf die Frage, warum solch ein Forum wichtig ist, antwortet Patricia Dopazo von einer spanischen Entwicklungsorganisation: "In Spanien sind wir eine kleine Gruppe und wir denken, wir können nur wenig ausrichten. Aber wir sehen hier, dass so viele Menschen verschiedenster Initiativen und Organisationen überall in Europa an dem Thema arbeiten. Das macht Mut."

Edith Lirsch, Vorsitzende der AbL in Bayern, ist in den Diskussionen aufgefallen: "Es ist deutlich geworden, dass eine bäuerliche und regionale Landwirtschaft in allen Ländern ein ganz wichtiger Punkt quer durch die Bevölkerungsschichten ist. Selbst in den USA, wo die Lebensmittelerzeugung in Konzernhand ist, arbeiten viele Organisationen zur Ernährungssouveränität. Das ist doch beeindruckend." Die Debatten auf europäischer Ebene sind hilfreich und informativ, aber auch gezeichnet von kulturellen und sprachlichen Unterschieden. Ansätze, die in Deutschland funktionieren, lassen sich nicht zwingend auf andere Länder übertragen und umgekehrt. Es braucht viel Zeit für Gespräche.

Das Nyéléni-Forum, dessen Namensgeberin eine afrikanischen Frau ist, fand 2007 zum ersten Mal in Mali statt und ist eine weltweite Bewegung für eine selbstbestimmte Landwirtschaft und Agrarpolitik. In Krems wird erstmalig in Europa das Nyéléni-Forum durchgeführt. Ein Ergebnis dieses Forums ist eine gemeinsame Deklaration, die die Grundzüge der Ernährungssouveränität aufzeigt. Wie die Gedanken auf dem Papier in die Praxis umgesetzt werden können, besprechen die Teilnehmer in fünf Arbeitsgruppen und mehr als zwanzig Schwerpunktgruppen.


Gruppe Forschung

Unter dem Schwerpunkt "Forschung und Bildung" diskutierte eine kleine Gruppe von Teilnehmern über Lösungsansätze zur Demokratisierung der Forschung. Die Mehrzahl der Teilnehmer beklagte, sich von den Prozessen der Forschung ausgeschlossen zu fühlen. Wünschenswert wäre, so die Teilnehmer, wenn Forschung - als eine Art Werkzeug - für alle Menschen zugänglich gemacht werde, um Allen zu helfen, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Gerade im Bereich der Agrarwissenschaften müssten vor allem Landwirte und Produzenten in die Forschung mit einbezogen werden, um gemeinsam mit Wissenschaftlern zukunftsfähige Alternativen zu finden. Auch müsse über die Finanzierung der Forschung nachgedacht werden - so kommt zum Beispiel ein Großteil der Finanzierung für Studien aus Industrie und Wirtschaft. Über die europäischen Bildungssysteme wurde ebenfalls heftig diskutiert. So wurde bemängelt, dass in der europäischen Bildungspolitik zu wenig getan werde, um Schüler und Studenten an Themen wie Nahrung und Landwirtschaft heranzuführen. Durch praktische Bildung in Schulgärten und Kochkursen zum Beispiel, müsse Nahrung wieder zu einem zentralen Themenschwerpunkt der Bildung gemacht werden. Es ist in der Diskussion klar geworden, wenn wir was ändern wollen, dann müssen wir vor Ort in unseren Ländern anfangen.


Gruppe Verteilungssysteme

Unsere Arbeitsgruppe startete von dem Ausgangspunkt, dass die jetzigen landwirtschaftlichen Produktions- und Verteilungssysteme Teil des Problems sind. Die Dominanz der Supermärkte und des (Groß)-Handels müsse zurückgedrängt und auf die durch sie erzeugten Mißstände durch politische Aktionen aufmerksam gemacht werden. Immer mit dem Ziel, diese Systeme zu demokratisieren und in einer Region wieder selbst darüber bestimmen zu können: Was und für wen auf unserem Land produziert und wie es verteilt und verarbeitet wird. Wie diese alternativen Verteilungssysteme aussehen könnten, dafür gibt es eine Vielzahl an Erfahrungen in Europa. Um zur Verbreitung der Systeme und der Reflektion der bestehenden Projekte beizutragen, wurde es als wichtig empfunden, Konsumenten wie auch Bäuerinnen und Bauern mit den bestehenden Erfahrungen vertraut zu machen und bestehende Ausbildungsstrukturen zu nutzen oder neue zu schaffen, um das dafür nötige Wissen zu vermitteln.


Gruppe Strategien

In der Arbeitsgruppe haben wir uns damit auseinandergesetzt, dass Ernährungssouveränität nicht das richtige Wort ist, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Es braucht eine Art Übersetzungen. Etwa Ernährungssouveränität bedeutet faire Preise für Erzeuger, gesunde und angepasste Lebensmittel für Verbraucher oder einen schonenden Umgang mit Natur und Umwelt und vieles mehr. Die Frage war auch, wie bringt man die Informationen an die Bevölkerung außerhalb unserer Mitglieder? Die Menschen auf der Straße sollen als Vision zumindest, europaweit in diese Diskussion in Zukunft einbezogen werden. Es wurden Vorschläge gemacht, bestehende Aktivitäten in den Ländern zu bündeln und länderübergreifende Aktionen zu initiieren. Eine gemeinsame Aktionswoche hat sich als erste konkrete Initiative heraus kristallisiert. Wie viel von den Ideen in der Praxis umgesetzt werden können, ist noch schwer zu prognostizieren. Aber das Wissen um die Bewegungsarbeit in den anderen Ländern, das Austauschen von Visitenkarten nehmen alle Teilnehmer mit zurück in ihre Länder. Die Vernetzung ist im Gange.


Ernährungssouveränität

In einer AbL-Pressemitteilung resümiert Bundesvorsitzende Maria Heubuch: "Diese Art der bäuerlichen und zivilgesellschaftlichen Kräftebündelung ist auf europäischer Ebene ein Novum. In Deutschland organisieren bereits seit Beginn diesen Jahres 37 Trägerverbände in der Kampagne 'Meine Landwirtschaft' eine Bürgerbeteiligung zur Neuausrichtung der europäischen Agrarpolitik. Wir wollen dieses Feld nicht mehr der Agrarlobby überlassen, sondern Bäuerinnen und Bauern nehmen gemeinsam mit anderen Bürgern die Verantwortung in die Hand. Das ist Ernährungssouveränität in gelebter Form. Diese Bewegung muss uns auch auf europäischer Ebene gelingen. Das Nyéléni-Forum gibt dafür wichtige Anstöße."


Berit Thomsen, Jan-Hendrik Cropp, Gemüsebaukollektiv CSA Freudenthal (Abschnitt Verteilungssysteme), Nadja Flohr-Spence, Slow FOOD Deutschland (Abschnitt Forschung)

Mehr Infos: abl-ev.de/themen/fairerwelthandel/materialien


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 347 - September 2011, S. 14
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
Bahnhofstr. 31, 59065 Hamm
Telefon: 02381/49 22 20, Fax: 02381/49 22 21
E-Mail: redaktion@bauernstimme.de
Internet: www.bauernstimme.de

Erscheinungsweise: monatlich (11 x jährlich)
Einzelausgabe: 3,00 Euro
Abonnementpreis: 36,00 Euro jährlich
(verbilligt auf Antrag 26,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2011