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INTERNATIONAL/122: Die Landlosenbewegung Brasiliens (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 377 - Mai 2014
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

"Eine von der Bevölkerung getragene Agrarreform umsetzen"
Die Landlosenbewegung Brasiliens und ihre beharrliche Auseinandersetzung mit Großgrundbesitzern, Politik und Kapital

von Wolfgang Hees, ABLer



Es war überwältigend, in die Sportarena Nilson Nelson der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zu schauen, während hier der 6. Nationalkongress der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra (MST) tagte und tobte. Über 15.000 Mitglieder aus allen Landesteilen Brasiliens formten ein bewegtes Meer roter MST-Fahnen, X-Kappen und -Hemden, aus denen als Farbtupfer die grünen Fahnen der weltweiten Kleinbauernbewegung Via Campesina herausstachen. Sprechchöre wiederholten immer wieder das Motto des neuen 5-Jahres-Plans: "Kämpfen. Eine von der Bevölkerung getragene Agrarreform umsetzen!"


Unproduktives Land besetzen

Die Landlosenbewegung MST hat seit ihrer Gründung vor 30 Jahren viel bewirkt. Rund 400.000 landlose Familien kamen über die Bewegung schon zu Landbesitz. Weitere 90.000 Familien leben und arbeiten derzeit auf besetztem Land in der Hoffnung, dass sie in zwei, drei oder bis zu acht Jahren auch zu ihrem Landbesitztitel kommen werden. 490.000 Familien, das sind über zwei Millionen Menschen, die nun von ihrer Arbeit auf ihrem Land leben können. Die Agrarmodule der Landreform variieren zwischen 15 und 80 Hektar, abhängig von Region, Klima, Boden, Wasserzugang, Vermarktungsmöglichkeiten etc. Die Aktionsform der Landlosenbewegung ist es seit jeher, unproduktives Land zu besetzen, die klare Botschaft: "Land für den, der darauf arbeitet!" Einer der Höhepunkte während ihres diesjährigen Kongresses war der gemeinsame Marsch zum Amtssitz der brasilianischen Präsidentin Dilma Rossouff: 15.000 Demonstranten in vier Reihen. In Sprechchören wurde immer wieder die Umsetzung der Agrarreform gefordert. Vorbei am Justizministerium, vorbei an der amerikanischen Botschaft - hier war das Polizeiaufgebot besonders hoch - zum Präsidentenpalast. Präsidentin Dilma hatte es allerdings vorgezogen, sich im fernen Mato Grosso mit einer Delegation des Soja-Agrobusiness zu treffen, und die Forderungen der MST an die Regierung konnten daher nur treuhänderisch übergeben werden. Dagegen war die Kinder- und Jugendorganisation der Landlosen im Bildungsministerium erfolgreicher. Ihrem Aufruf zur Verbesserung der schulischen Situation im ländlichen Raum konnte sich das Ministerium voll anschließen. Doch auch die Regierung meldete sich am nächsten Tag zurück: man überlege nun jährlich 33.000 Familien anzusiedeln - die MST fordert mindestens 100.000, im letzten Jahr waren es gerade einmal 7.000!


Ernährungssouveränität im Blick

Zurück auf dem Kongressgelände gingen die Debatten weiter, im Plenum, in Arbeitsgruppen, beim Essen, abends beim Bier oder Cachaça (Zuckerrohrschnaps). Dabei war der Kongress schon der vorläufige Endpunkt einer mehr als zweijährigen Debatte in der Bewegung. So lange hatte man sich Zeit genommen, um den nächsten Fünfjahresplan von der Basis her zu diskutieren und zu definieren. Und es ist etwas Wunderbares dabei herausgekommen: ein Ja zur Menschenwürde, zur Vielfalt, Solidarität, Diversität und Ökologie. Die Bewegung hat mit dem neuen Motto der "Reforma agraria popular" die gesamte Bevölkerung im Blick: es geht nicht nur um die Landlosen, sondern um die Ernährungssouveränität der Brasilianer. Über 70 % der Nahrungsmittel, die in Brasilien auf den Tisch kommen, stammen aus kleinbäuerlicher Produktion (produziert auf 24 % der Ackerfläche), während das Agrobusiness 76 % der Böden besitzt und zur Versorgung der brasilianischen Bevölkerung gerade einmal 30 % beiträgt! Der Rest sind comodities für den Weltmarkt: Äthanol, Soja, Zucker, Fleisch. Und es geht der MST auch um die gesunde Ernährung des Volkes, daher ein ein.deutiger Schwenk in den ökologischen Landbau. Das auch wegen der Erkenntnis, dass man das Agrobusiness nicht bekämpfen kann, wenn man mit den gleichen Mitteln arbeitet und in den gleichen Strukturen steckt. Monsanto bekämpfen und gleichzeitig ihr Gensoja anzubauen passt einfach nicht. Auch in anderen Bereichen ist die MST auf Contra eingestellt: bei den Agrargiften, der Patentierung von Saatgut, Monokulturen, Monopolen, Zentralisierung statt regionaler Kreisläufe, Bodenerosion, Abholzung etc. etc. Für die großen Kooperativen der Bewegung ist das teilweise eine Umstellung, die erfolgreich begonnen wurde. So ist zum Beispiel der größte brasilianische Produzent von Bio-Reis eine Kooperative der MST aus Rio Grande do Sul. Die Kooperativen sind das Herzstück der Bewegung. Ihnen gelang zusammen mit dem MST-Leitungsteam aus den einzelnen Bundesstaaten auch die logistische Meisterleistung die 15.000 Kongress-Teilnehmer eine Woche lang mit ihren Produkten zu ernähren. Eine organisierte Zivilgesellschaft kann positive Veränderungen schaffen, die MST ist der beste Beweis dafür.


Zugang zu Land, Wohlstand, Bildung

Am 29.10.1985 besetzte die Hausangestellte und Pfarrdienerin Lucia Weber Vedovato zusammen mit ihren drei Brüdern und über 1.500 weiteren Landlosen die 9.000 Hektar große Fazenda Annoni im Munizip Pontao im südlichsten brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Organisiert wurde die Landbesetzung auf den nicht produktiv genutzten Böden der Viehfarm von der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Fünf Jahre später, 1990, erhielt Frau Lucia nach der Enteignung des Landspekulanten endlich ihren Landbesitztitel von der Agrarreformbehörde überreicht - zusammen mit ihrem Mann, den sie auf der Landbesetzung kennengelernt und geheiratet hatte. Insgesamt konnten 420 der Landbesetzerfamilien auf dem Gelände angesiedelt werden. Lucia entschied sich für eine kollektive Arbeit und gründete zusammen mit 12 weiteren Familien die Kooperative "Agrarreformsiedlung 16. März". Auf den 150 ha ihrer Mitglieder betreibt die Kooperative heute vornehmlich den Futterbau für durchschnittlich 80 laktierende Kühe, die Nachzucht und das Mastvieh. Die Milch wird in die Molkereigenossenschaft der benachbarten Agrarreform-Kooperative geliefert, während die Kooperative "16. März" eine eigene Schlachtung und Fleischverarbeitung aufgebaut hat. Jedes Mitglied des Kollektivs hat ein Aufgabenfeld, für das es die Verantwortung trägt: vom großen Garten zur Selbstversorgung mit Gemüse und Obst über den Getreide- und Sojaanbau, die Kuhherde, das Mastvieh, den Schlachthof, den Transport/Fuhrpark, die Buchführung etc. Die Arbeit wird nach Anfall und Dringlichkeit gemeinsam erbracht, Maschinen und Installationen sind gemeinsam finanziert und genutzt Nur Boden, Haus und Ausstattung sind Privatbesitz. In weniger als 20 Jahren haben es die Familien bereits zu Haus, Auto und elektrischen Haushaltsgeräten gebracht. Aber Lucia ist auf etwas anderes viel mehr stolz: ihre beiden Söhne haben studiert, was für sie undenkbar war. Der ältere ist Rechtsanwalt geworden und berät die Landlosenbewegung in der Landeshauptstadt Porto Alegre in vielfältigen Rechtsfragen, während der jüngere an der Agrarfachschule Agroökologie studiert hat und den Hof von seinen Eltern übernehmen wird. Bis dahin arbeitet er als Berater für die Bewegung.

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 377 - Mai 2014, S. 14
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2014