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INTERNATIONAL/169: "Buen Vivir" und Ernährungssouveränität (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2016

Gutes Essen - schlechtes Essen
Strukturwandel wohin?

"Buen Vivir" und Ernährungssouveränität
Der Fall Ecuador

von Xavier León Vega


Das Konzept des "Buen Vivir" ("gutes Leben") - "Sumak Qamaña" auf Aymara oder "Sumak Kawsay" in der Weltanschauung der Kichwa genannt - ist seit einigen Jahren fest im sozialen und akademischen Diskurs vor allem der beiden Andenländer Bolivien und Ecuador verankert. Es wird als Alternative zur aktuellen, stark vom Kapital geprägten Entwicklung gesehen und soll den gesellschaftlichen Fortschritt messbar machen. Das klassische Wirtschaftsmodell ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, die Lebensqualität der Bevölkerung und den realen Fortschritt eines Landes zu messen.

Das Konzept stammt ursprünglich von den Andenvölkern und -staaten, die es als Beitrag oder auch als Alternative zum aktuellen Entwicklungsmodell sehen. In diesem Sinne weist es Ähnlichkeiten mit anderen Konzepten auf, die aus sozialen Bewegungen hervorgingen, wie etwa dem Konzept der Ernährungssouveränität der internationalen Kleinbauern- und Landarbeiterbewegung Via Campesina.

Das Buen Vivir wird weder im sozialen Diskurs noch im juristischen Kontext der Anerkennung von Rechten einheitlich ausgelegt. Im ländlichen Raum lässt sich Buen Vivir als Entwicklungsalternative definieren, die im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasst: eine gesunde Ernährung auf Grundlage der Ernährungssouveränität; ein Bildungssystem, das die überlieferten Lehren respektiert; ein Gesundheitssystem, das allen Menschen gleichen Zugang und die Möglichkeit, ihre Lebensqualität zu verbessern, bietet; sowie die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen. All diese Faktoren sollen dazu beitragen, das Wohlbefinden der Menschen in Harmonie mit der Natur zu verbessern.


Buen Vivir und Ernährungssouveränität: die größten Hürden

Die Durchsetzung von Buen Vivir im ländlichen Raum ist eng mit der Weltanschauung der indigenen Völker verbunden, da sie als LandbewohnerInnen die HauptinitiatorInnen des Konzeptes waren. Sie nutzen das Konzept als Protest gegen Wirtschaftsmodelle, die ihren natürlichen Lebensraum bedrohen.

Buen Vivir wird oft in Verbindung mit Ernährungssouveränität propagiert. Nach der anfänglichen Begeisterung für beide Ideen ist die Verteilung der Ressourcen im ländlichen Ecuador jedoch alarmierend einseitig. Besonders die für die Landwirtschaft wichtigsten Ressourcen - Land, Wasser und Saatgut - liegen in den Händen weniger LandwirtInnen und Unternehmen. Diese Konzentration ist umso besorgniserregender, da Buen Vivir in der Verfassung Ecuadors verankert ist. So sollte eine Umverteilung angeregt und die Agrarpolitik auf Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ausgerichtet werden, sodass diese ihre Ernährungssouveränität umsetzen können.

Heutzutage werden nur 7,9 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Ecuadors von Kleinbäuerinnen und -bauern mit Flächen von 1 bis 5 Hektar bewirtschaftet.(1) Großbetriebe sind noch immer die Norm und so liegt der Großteil der landwirtschaftlichen Flächen in den Händen weniger Individuen oder Agrarbetriebe. In Bezug auf diese Konzentration hat es in Ecuador keinen nennenswerten Wandel gegeben und so konnte die Ernährungssouveränität im Rahmen des Buen Vivir bisher nicht weiter gestärkt werden. Seit Ende 2011 beispielsweise verteilte der Staat nur 2.881 Hektar Land und für das Rückkehrprogramm für in Spanien ansässige EcuadorianerInnen, 'Plan Tierra', wurden lediglich 4 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, das entspricht 2 Prozent des Budgets des Landwirtschaftsministeriums. Eine Umverteilung hat nicht stattgefunden und so bleibt die Konzentration der landwirtschaftlichen Nutzfläche nahezu unverändert hoch. Der begrenzte Zugang zu Land wird von den Vereinigungen der Bäuerinnen und Bauern und Indigenen immer wieder als Hauptproblem bei der Umsetzung der Ernährungssouveränität - und somit des Buen Vivir - identifiziert. Die Agrarpolitik ist in diesem Zusammenhang nicht an den Gesetzen und der Verfassung ausgerichtet. Stattdessen werden Aktivitäten unterstützt, die zu einer noch höheren Konzentration führen. Staatliche Kredite werden oftmals zum Aufkauf von Ländereien genutzt. 2015 beanspruchten Rinderzuchtbetriebe 45 Prozent der von der Nationalen Aufbaubank (BNF) zur Verfügung gestellten Darlehen.

Der Vertrieb und die Vermarktung von Saatgut für den Anbau bestimmter Pflanzen werden ebenfalls durch große Unternehmen kontrolliert. So bestimmen 3 Unternehmen 90 Prozent des Marktes für Reis, Mais und Soja: AGRIPAC, Ecuaquímica und PRONACA.(2) Bis heute gibt es kein Programm zur Entflechtung dieser Marktkontrolle, da die Politik nicht darauf abzielt, den Zugang zu lokalem Saatgut zu verbessern. Ein möglicher Ausweg wäre eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Bäuerinnen und Bauern und dem Ecuadorianischen Landwirtschaftsforschungsinstitut INIAP. So könnte die Abhängigkeit von zugekauftem Saatgut verringert und die Ernährungssouveränität im Rahmen des Buen Vivir gestärkt werden.


Wie können Buen Vivir und Ernährungssouveränität Einfluss auf die Politik nehmen?

Seit der Verankerung des Buen Vivir in der ecuadorianischen Verfassung gab es wenige Vorstöße, das Konzept tatsächlich als umfassende Entwicklungsalternative in allen eingangs erwähnten Bereichen umzusetzen. Andererseits müssen in Bezug auf die ländlichen Gebiete die Auswirkungen der Konsolidierung der landwirtschaftlichen Produktion durch Agrarhandel und Agrarindustrie in Betracht gezogen werden. Beide Trends führten zu einer Rückverflechtung der nötigen Ressourcen wie Wasser, Land, Saatgut und Kredite. Einer alternativen Entwicklung auf Grundlage der kleinbäuerlichen Produktion und Ernährungssouveränität wie in Artikel 281 der Verfassung vorgesehen, wurde somit ein Riegel vorgeschoben.

Obwohl das Recht auf Ernährungssouveränität als Teil des Buen Vivir offiziell anerkannt wurde, ist es bisher nicht gelungen, die Landwirtschaft an diesem Konzept auszurichten. Der Widerspruch zwischen dem Recht auf Buen Vivir und der aktuellen Politik im ländlichen Raum führt etwa bei der Kreditvergabe dazu, dass mittelgroße oder große Landwirtschaftsbetriebe bevorzugt werden. Kleinbäuerinnen und -bauern, die für den lokalen Markt produzieren und somit zur Ernährungssouveränität beitragen, bleiben außen vor.

Eine Verbesserung der aktuellen Lebensmittelproduktion und gleichzeitig der Lebensbedingungen der Bäuerinnen und Bauern lassen sich durch die politische Umsetzung der Forderungen der Bewegungen derjeniger und der indigenen Bevölkerung Ecuadors erreichen. Viele von ihnen schlagen beispielsweise vor, Öko-Märkte zu etablieren, auf denen chemie-freie landwirtschaftliche Erzeugnisse verkauft werden können. Der Zugang zu Krediten und Ländereien ist ein weiterer wichtiger Faktor, um in Ecuador gesunde Lebensmittel auf sozial verträgliche Weise zu produzieren.

Die Verankerung des Buen Vivir in der ecuadorianischen Verfassung hat in Bezug auf die Anerkennung von Rechten und die Verminderung der Armut durchaus gewisse Erfolge vorzuweisen. Es fehlt jedoch an Klarheit, wie die Lebensqualität der Bürger besonders im ländlichen Raum durch das Recht auf Ernährungssicherheit und eine intakte Umwelt verbessert werden kann. Dies liegt vor allem an der mangelnden politischen Umsetzung dieser Rechte.


Autor Xavier León Vega ist in der Acción Ecológica aktiv und promoviert an der Universität des Baskenlandes und dem Institut zur Erforschung von Entwicklung und internationaler Zusammenarbeit (HEGOA).

Aus dem Spanischen von Lina Gerstmeyer


Anmerkungen

(1) Natalia Landívar García, Mario Macías Yela und Milton Yulán Morán (2013): Monitoreo de Lolíticas de Tierra y el Derecho a la Alimentatión en el Ecuador, S. 31.
http://www.fian.org/fileadmin/media/publications/Informe_Monitoreo_de_Tierras.pdf

(2) Xavier León und María Rosa Yumbla (2010): El Agronegocio en Ecuador: El Caso de la Cadena del Maíz y la Empresa Pronaca.
http://www.accionecologica.org/documentos/libroagronegocio.pdf.

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Quelle:
Rundbrief 4/2016, Seite 4 - 5
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2017

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