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ASYL/633: Die Türkei - ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge? (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Die Türkei - ein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge?
Asylrecht nur für Flüchtlinge aus Europa

Von Enno Schöning


Amnesty International hat dieses Jahr einen Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Flüchtlingen in der Türkei herausgegeben. Dieser Bericht schildert eindringlich die dramatische (Lebens-)Situation für Flüchtlinge in der Türkei die sich weiter zuspitzt aufgrund zunehmender Zahlen der Asylsuchenden.


Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) 1962 ratifiziert, allerdings mit einem Regional-Vorbehalt. Diese Einschränkung hat zur Folge, dass ausschließlich Menschen aus europäischen Staaten Asyl in der Türkei erlangen können, Flüchtlinge aus nicht-europäischen Staaten haben keine Chance auf eine Anerkennung im dortigen Verfahren. Die Türkei ist damit praktisch der einzige Staat, der das Asylrecht auf Flüchtlinge aus Europa begrenzt. Dennoch bleibt die Türkei aufgrund ihrer geographischen Lage ein wichtiges Ziel- und Transitland auch für andere Flüchtlinge.


Situation nicht-europäischer Flüchtlinge

Die Asylgesuche von nicht-europäischen Flüchtlingen nimmt das UNHCR entgegen und entscheidet über deren Anerkennung gemäß der GFK. Im Jahr 2008 waren dies 12.980 Anträge Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen Anstieg um 70 Prozent. Seit dem Erlass der "Asylvorschriften" 1994 müssen Asylsuchende zusätzlich ein türkisches Verfahren durchlaufen. Dieses Verfahren wird international als willkürlich, restriktiv und in keinem Zusammenhang mit den Anträgen stehend bewertet. Zwar beziehen sich diese Bestimmungen direkt auf die Gruppe der nicht-europäischen Flüchtlinge, doch anstatt die geographischen Beschränkungen abzuschaffen wird ein "Zwei-Klassen"-Asylverfahren verstärkt. Wird die positive Entscheidung des UNHCR im türkischen Verfahren bestätigt, bemüht sich der UNHCR um die Übernahme der Betroffenen durch ein Drittland im sog. Resettlementverfahren.

Zur Zeit werden jedoch vermehrt Anträge von Asylsuchenden, die bereits vom UNHCR anerkannt wurden, im türkischen Verfahren abgelehnt. Eine in diesen Fällen durch den UNHCR vermittelte Ausreise in einen Drittstaat wird seitens der türkischen Behörden verweigert. Nicht-europäische Flüchtlinge haben keine Chance, dauerhaft (legal) in der Türkei zu leben und sich in die türkische Gesellschaft zu integrieren. Sie sind akut von der Abschiebung in ihr Herkunftsland bzw. in ein Nachbarland der Türkei bedroht.

In der Türkei gibt es kein spezifisches Gesetz, das den Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden regelt. Dadurch wird der Schutz dieser Menschen geschwächt und eine undurchschaubare Situation geschaffen. Es gibt lediglich Verwaltungsvorschriften, die jederzeit ohne parlamentarische Kontrolle oder öffentliche Debatte geändert werden können.

Nach der türkischen Gesetzeslage haben im Prinzip nur Personen, die legal eingereist sind, ein Recht auf Asyl und Zugang zum Asylverfahren. Flüchtlinge, die wegen "illegaler Einreise" festgenommen wurden oder die schon einmal einen Asylantrag gestellt haben, werden für die Dauer des Verfahrens inhaftiert. Solche "beschleunigte" Verfahren sollen innerhalb von fünf Tagen abgeschlossen werden, ein Widerspruch gegen eine ablehnende Entscheidung muss innerhalb von zwei Tagen eingelegt werden. AnwältInnen oder VertreterInnen des UNHCR haben keinen Zugang zu den Inhaftierten.

Eine weitere Hürde für den Zugang zum Asylverfahren sind die fehlenden Informationen. So gibt es zwar mehrsprachige Informationsblätter, die jedoch laut Amnesty International nicht offen zugänglich gemacht werden. Das Non-Refoulement, das Verbot Menschen in ein Land abzuschieben, in dem diesen Gefahr für Leib und Leben droht, gilt auch für die Türkei (z.B. aus der UN-Konvention gegen Folter). Theoretisch erkennt die Türkei dieses Recht an. In der Praxis werden Menschen mit der Begründung, sie seien noch gar nicht in die Türkei eingereist, ohne Prüfung einer möglichen Gefährdung an der Grenze zurückgewiesen. Insbesondere Menschen, die nahe der iranischen Grenze aufgegriffen wurden, werden routinemäßig zurückgeschoben.

Nach Informationen von Amnesty International gibt es ein informelles Abkommen mit dem Iran, wonach Personen, die illegal die Grenze überquert haben, in den Iran zurückgeschoben werden, wenn sie 50 km hinter der Grenze gefasst werden. Betroffene berichten, dass sie sowohl auf türkischer, als auch auf iranischer Seite der Grenze geschlagen wurden.


Blick nach Europa

Flüchtlinge aus Europa, z.B. aus Bulgarien, Tschetschenien oder dem Kosovo, die Schutz vor Verfolgung suchen, bekommen zwar oft ein Aufenthaltsrecht in der Türkei, werden jedoch in der Regel nicht als Flüchtling gemäß der GFK anerkannt und haben damit keinen gesicherten Rechtsstatus. Flüchtlinge mit ungeklärtem Status haben keinen Zugang zu Bildung und Arbeit, sie erhalten keine Sozialhilfe.

Die Türkei ist unter Zugzwang: Für einen EU-Beitritt muss sie das Asylsystem an das der EU anpassen, dass bedeutet die Aufhebung der geographischen Beschränkung und die Einführung eines vollwertigen Asylverfahrensgesetzes. Die Türkei ist zu einer Pufferzone für die EU geworden, welches die eigenen Mauern immer mehr verschließt. Flüchtlinge aus Ländern wie Irak, Iran, Afghanistan, Somalia oder Sudan, die auf dem Weg Richtung Europa sind um Schutz zu suchen, bleiben vor den Pforten der Festung Europa, nämlich der Türkei, hängen.

Die Türkei wird sich auf die Rolle des Grenzpostens Europas einrichten müssen, wenn sie den Maßstäben der EU-Mitgliedschaft genügen will. Das bedeutet vor allem, die eigenen Grenzen gegen "irreguläre Migration" zu verschließen und vermehrt Rückführungsabkommen mit Drittländern zu unterzeichnen. Erfüllt die Türkei die Hauptauflagen der EU im Bereich Migration und Asyl, z.B. Erarbeitung einer Asylgesetzgebung, Rückführungsabkommen mit Drittländern, Aufhebung der geographischen Beschränkung der GFK, wird sie sich als ein sicherer Drittstaat für Asylsuchende qualifizieren. Die Folge wäre, dass MigrantInnen, die über die Türkei in die EU einreisen, dorthin zurückgeschickt werden, um Asyl zu beantragen. Die Türkei muss dann damit rechnen, für eine überproportional hohe Anzahl von AsylbewerberInnen verantwortlich zu werden.


Menschenwürdiges Asyl-Verfahren nötig

Die Türkei muss dringend ein faires und menschenwürdiges Asyl-Verfahren entsprechend der Richtlinien der GFK und anderer internationaler Vereinbarungen einführen, d.h. das Verbot des Refoulement achten, die willkürliche Inhaftierung von Flüchtlingen einstellen und ihnen soziale Rechte zubilligen.

An die EU ist jedoch die Forderung zu richten, die Verantwortung für Flüchtlinge nicht an die Länder an den EU-Außengrenzen abzuschieben. Mit der finanziellen und technischen Unterstützung in der Abwehr von Flüchtlingen an den Außengrenzen wird (West-)Europa seiner humanitären Pflicht des Schutzes von verfolgten und bedrohten Menschen sowie seiner Verantwortung im (post-)kolonialen Kontext gegenüber den Menschen der sog. "dritten Welt" keineswegs gerecht.

Dazu gehört auch die Forderung u.a. an die deutschen Behörden keine Flüchtlinge an die EU-Außengrenzen und in die Türkei abzuschieben und regelmäßig Flüchtlinge im Rahmen eines Resettlement-Programmes aufzunehmen.


Im April 2008 wurde eine Gruppe von 18 Personen, darunter registrierte Flüchtlinge, gezwungen, über den Tigris zu schwimmen, um so die Grenze zum Irak zu überqueren. Die irakischen Grenzbeamten weigerten sich jedoch, die Menschen irakisches Gebiet betreten zu lassen. Vier Personen sind auf diese Weise ertrunken. Auf die Forderung von Menschenrechtsorganisationen, diesen Vorfall zu untersuchen, reagierte die türkische Regierung nicht.

Quelle: "Gestrandet"
Amnesty International
April 2009 Index: EUR 44/001/2009


Enno Schöning studiert an der FH Kiel und ist im Praxissemester beim Flüchtlingsrat.

Ein Bericht von amnesty international ist zu finden unter:
www.amnesty.de/files/Amnesty_Tuerkei_Asyl_Bericht_4_09.pdf


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009, S. 44-45
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2010