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ASYL/665: Mit Diskriminierung macht man keinen Staat (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Mit Diskriminierung macht man keinen Staat

Von Günter Burkhardt


Menschenrechte sind universell, unteilbar und unveräußerlich. Sie sind Ausdruck der unantastbaren Würde des Menschen. Auf dieser Grundüberzeugung basiert unser politisches Handeln in Deutschland und in der Welt.« Dies erklärte die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP am 16.12.2009 im Deutschen Bundestag (BT-Drucksache 17/257).

Alle werden diesem Bekenntnis zustimmen - was aber heißt dies konkret? Wie sieht die Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen in Deutschland aus? Wie steht es um den Schutz vor Diskriminierung - einem elementaren Menschenrecht? Was, wenn staatliches Handeln zur Ausgrenzung führt und Gesetze auf Diskriminierung angelegt sind?

Dann ist die Zivilgesellschaft gefragt, mahnend, aufklärend, fordernd, immer am konkreten Beispiel argumentierend, damit aus Menschen und ihren Schicksalen keine abstrakten Themen werden, die Politiker zu reflexartigen Abwehrreaktionen verleiten.


Sondergesetze für Flüchtlinge

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Grundsatzentscheidung zu Hartz IV deutlich gemacht, dass jedem Menschen ein Leben in Würde zusteht.

Seit 1993 gilt das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz - nicht nur für Asylsuchende, seit 1997 auch für Geduldete und zum Teil für befristet Bleibeberechtigte. Die Leistungen nach diesem Gesetz liegen mehr als 35 % unter den das vermeintliche Existenzminimum markierenden Hartz-IV-Sätzen. Die Leistungshöhe wurde, wie die Hartz-IV-Sätze, willkürlich festgelegt und darüber hinaus seit Einführung des Gesetzes nie erhöht und nie überprüft. Viel mehr noch: Das Gesetz ermöglicht die Verteilung von Sachleistungen anstelle der Auszahlung von Bargeld, was die tatsächliche Leistung nochmals mindert.

Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: »Das Asylbewerberleistungsgesetz werden wir im Hinblick auf das Sachleistungsprinzip evaluieren«. »Evaluieren« ist politisch oft die Chiffre für Nichtstun. Aber: Der Satz bietet einen Ansatzpunkt, um auf die Abschaffung dieses diskriminierenden Sondergesetzes hinzuarbeiten. Vor allem vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.


Lebensmittelpakete

In vielen Bundesländern werden vorgepackte Lebensmittelpakete verteilt. Flüchtlinge dürfen nicht selbst entscheiden, was und wie sie essen möchten. Solche Pakete schränken die Selbstbestimmung der Menschen ein und greifen ihre Würde an: »Es wird gegessen, was vom Amt kommt«.


Isolation in Lagern

Sammelunterkunft heißt es beschönigend im Amtsdeutsch. Ausgegrenzt, entmündigt und perspektivlos fristen Flüchtlinge oft über Jahre hinweg ein Dasein in Lagern - zum Nichtstun verdammt. Viele werden psychisch krank. Menschenunwürdig ist solch eine Unterbringung. Aktuelle Untersuchungen in Bayern und Niedersachsen belegen, was längst bekannt ist: »Lagerhaltung« ist teurer als ein selbstbestimmtes Leben in Privatwohnungen.


Residenzpflicht

Einmalig in Europa: Die diskriminierenden und bürokratischen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen. Asylsuchende dürfen den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsort, in der Regel die Stadt oder den Landkreis, nicht ohne besondere behördliche Genehmigung verlassen, für Geduldete gilt die Bundeslandgrenze. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der Residenzpflicht vereinbart. Geschehen ist noch nichts.


Teilhabe und Bleiberecht

»Wir wollen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Zuwandererfamilien alle Chancen eines weltoffenen Landes eröffnen und ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglichen«, formuliert die Regierung im Koalitionsvertrag.

Warum gilt dies nicht für Flüchtlinge, nicht für Geduldete? Warum leistet sich ein Land wie Deutschland den Luxus, die Potentiale der Betroffenen durch Arbeits- und Ausbildungsverbote brach liegen zu lassen? Zumal demographischer Wandel und der sich abzeichnende Fachkräftebedarf in die andere Richtung weisen.

Bei der Bundesregierung scheint das Schicksal der langjährig Geduldeten in Vergessenheit zu geraten. Der Beschluss der Innenminister vom Dezember 2009 ist eine kleine Fristverlängerung für die befristet Bleibeberechtigten - unerträglich insbesondere für Tausende, die hier aufgewachsen sind und trotzdem wegen des Stichtags und der rigiden Ausschlussregeln keine Chance haben. Selbst der konservative Hardliner Schünemann, Innenminister in Niedersachsen, schlug im Herbst eine Bleiberechtsregelung geknüpft an die Aufenthaltsdauer anstelle einer Stichtagsregelung für Jugendliche und hier Aufgewachsene vor. Viel zur restriktiv, viel zu viele Bedingungen - aber immerhin ein kleiner Neuanfang. Was ist aus einer dauerhaften Bleiberechtsregelung für junge, hier aufgewachsene Geduldete geworden? Wann endlich folgt aus dem Bekenntnis zu den Menschenrechten konkretes Handeln - in Deutschland, in Europa und in der Welt?


Die Grenze Europas - eine rechtlose Zone?

Im März wurde PRO ASYL für seine Kampagne »Stoppt das Sterben« mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet. Gewürdigt wurden das Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte auf hoher See und der konkrete Einsatz für Flüchtlinge in Europa wie etwa in Griechenland. Von FRONTEX - Einheiten informiert macht die griechische Küstenwache Jagd auf Flüchtlinge, nachts mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Wer es trotzdem auf europäisches Gebiet schafft, wie zum Beispiel auf die griechische Insel Lesbos, wird als illegal eingewandert abgestempelt und inhaftiert.

Die Flüchtlingsaufnahme wird den überforderten Staaten an den Rändern Europas aufgebürdet. Besonders dramatisch ist die Situation für unbegleitete Minderjährige in Griechenland. Rund 10.000 sind in den letzten beiden Jahren nach Griechenland gekommen. Dort fehlt es ihnen am Nötigsten: keine Unterbringung, keine Versorgung, niemand, der sich um sie kümmert. Aus der Haft entlassen, irren die Kinder und Jugendlichen durch das Land und versuchen verzweifelt zu ihrer Familie oder zu Freunden in andere europäische Länder weiterzureisen. Ein gefährliches Unterfangen, bei dem sie erneut ihr Leben riskieren und schutzlos Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt sind.

Diese Kinder sind die Flüchtlingskinder Europas. Wir appellieren an die Bundesregierung, unbegleitete Minderjährige aufzunehmen und zugleich die Initiative zu ergreifen für eine solidarische europäische Aufnahme. Mit Briefen, Postkarten, E-Mails sollen der Bundesinnenminister und die Europäische Kommission auf diese gravierenden Missstände aufmerksam gemacht werden.

Wer mit dem Zeigefinger auf Griechenland zeigt, muss wissen: Die anderen Finger der ausgestreckten Hand deuten zurück auf die Regierungen Europas - auf Berlin, Paris, London und Brüssel.

Dort liegt der Schlüssel für ein Europa, das auf den Menschenrechten basiert, universell, unteilbar, unveräußerlich. Damit diese künftig auch für Flüchtlinge gelten, muss die Regierungskoalition ihren Worten Taten folgen lassen.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 4 - 5
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2010