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DISKURS/087: Es gibt mehr Bourgeois als man denkt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

Es gibt mehr Bourgeois als man denkt

Von Claudia Pinl


Freiheit, Gleichheit und Solidarität oder doch lieber die eigenen, individuellen Interessen - eine höchst umstrittene Frage, die man in allen Lebensbereichen finden kann. Claudia Pinl analysiert, inwieweit sich dieser Widerspruch in einzelnen Politikfeldern widerspiegelt und welche Konsequenzen sich aus aktuellen politischen Entscheidungen ergeben.


"Es gibt mehr Bürger als man denkt", lautet die Überschrift eines Beitrags von Mathias Greffrath in der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique vom Februar 2008. Es gibt in der Tat eine erschreckend große Anzahl von Menschen, denen ein funktionierendes, auf die republikanischen Fundamente von Freiheit, Gleichheit und Solidarität setzendes Gemeinwesen zunehmend gleichgültig ist, solange sie nur ungehemmt ihre jeweiligen Partikularinteressen verfolgen können. Das fängt nicht erst bei der Steuererleichterung für das Hotelgewerbe an und hört beim Kampf um den Erhalt des Gymnasiums als privilegierter bürgerlicher Bildungsstätte noch lange nicht auf.


Paradigmenwechsel in der Frauen- und Familienpolitik?

Auch im "weichen" Politikfeld "Familie" gibt es eine Menge vested interests. Das steuerlich privilegierte und sozialversicherungsrechtlich abgesicherte bourgeoise Modell vom Mann als "Familienernährer" und der Frau als Mutter und bestenfalls "Zuverdienerin" hat lange Zeit alle Debatten um die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse in Deutschland überlebt. Im Herbst 2005 schockte Ursula von der Leyen das konservative Milieu, nicht nur in der eigenen CDU: Mit den "Vätermonaten" im neu gestalteten "Elterngeld" wolle die neue Familienministerin der Großen Koalition Männer zur "Zwangsarbeit an der Wickelkommode" verpflichten, jammerte es in Politik und Feuilleton; mit dem angekündigten Krippenausbau würden mit stalinistischen Methoden kleine Kinder ihren Familien entfremdet.

Die Beschwörung der heilen Familienwelt hat in Deutschland immer dann Konjunktur, wenn sich gesellschaftliche Modernisierungsschübe ankündigen. Von der Leyen leitete den von ihrer Vorgängerin Renate Schmidt (SPD) vorbereiteten Paradigmenwechsel in der Frauen- und Familienpolitik ein: weg von der jahrzehntelang in Westdeutschland gepäppelten "Ernährer"-Familie, hin zu einer wirklichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch für Frauen - und zu frühkindlicher Förderung als gesellschaftlicher Aufgabe unter Einbeziehung der Väter. Das alles sollte nicht nur zum wiederholten Mal als schöne Idee beschworen werden, sondern endlich durch Milliarden Euro für Elterngeld als Lohnersatz und vor allem durch den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur umgesetzt werden. Außerdem kündigte die schwarz-rote Koalition an, man werde die circa 145 unterschiedlichen familienpolitischen Leistungen vom Ehegattensplitting bis zum Baukindergeld auf den Prüfstand stellen, um zu schauen, was von diesem Geldsegen tatsächlich Kindern, unabhängig vom Familienstand und sozialer Situation der Eltern, zugute komme.

Nicht zufällig kochte daher 2006 und 2007 in den Medien und Leserbriefspalten eine Debatte hoch, in der das heile Bild der traditionellen Familie den angeblichen Zerfallserscheinungen der Moderne gegenüber gestellt wurde. Die deutsche Gesellschaft schwächele im Inneren, so die Botschaft, Scheidungsziffern steigen, Geburten sinken, die vom Staat sträflich vernachlässigte Familie werde ausgehöhlt. Die Folgen seien erschreckend: Der gesellschaftliche Zusammenhalt sei bedroht, die sozialen Sicherungssysteme hielten nicht mehr stand.

Von den 20 Sachbüchern, die 2006 eine verkaufte Auflage von 100.000 oder mehr Exemplaren erreichten, waren mindestens vier rückwärtsgewandten Gesellschaftsmodellen verpflichtet, darunter Bernhard Buebs Versuch, die autoritäre Erziehung wieder salonfähig zu machen (Lob der Disziplin), Frank Schirrmachers bevölkerungspolitisches Horrorszenario Minimum, in welchem er behauptete, nur in der blutsverwandten Familie gedeihe gesellschaftlicher Altruismus, und Eva Hermans Wiedererweckung der Dämlichkeit, Das Eva-Prinzip. Erlösung gibt es nur, lautete die Botschaft, wenn die Menschen sich wieder an bewährten bürgerlichen Werten orientieren, an Gesittung, Fleiß, Leistung, Eigenverantwortung, Bindung an Ehe, Familie, Kirche, Nation.

Damit das Ganze nicht zu altbacken erschien, bemühten die Neokonservativen angebliche Naturgesetze. Evolutionsbiologie und Genetik weisen laut Herman, Schirrmacher und Co. den Weg zurück bzw. vorwärts zu gesunden Verhältnissen. Denn es sei nach den Gesetzen der Evolution total widersinnig, wenn ein Lebewesen sich freiwillig entschließe, keine Nachkommen mehr zu produzieren. Und das Brutpflege-Gen kommt nach Eva Herman nun mal nur im weiblichen Körper vor.

Vorstellungen von Selbstbestimmung auch für Frauen, von neuen Familienformen und nicht-autoritärer Erziehung wurden als dekadent und wider die "Natur" qualifiziert. Selbstbestimmung wird in diesem Diskurs regelmäßig zu "Selbstverwirklichung" - ein verkürzender, verfälschender Begriff mit einem hübsch egoistischen Klang.


Die Allmacht der Gene

Über die "Allmacht der Gene", die "natürlichen" Geschlechterrollen und die Bindungskräfte der Blutsverwandtschaft phantasierten außer Schirrmacher und Herman so unterschiedliche Menschen wie der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, der Medienwissenschaftler Norbert Bolz oder der Augsburger Bischof Mixa.

Übrigens allen Erkenntnissen ernsthafter BiologInnen und NeurowissenschaftlerInnen zum Trotz. Gene und Hormone sind nicht die "kleinen Diktatoren", als die Neokonservative sie hinstellen, so der Neurobiologe Joachim Bauer. Bindungsfähigkeit von Menschen ist nicht an Blutsverwandtschaft gebunden, unterschiedliche Fähigkeiten im Fühlen und Denken bei Männern und Frauen sind zum größten Teil sozialisationsbedingt, wie neuerdings selbst Soziobiologinnen wie Sarah Hrdy zugeben. Aber offenbar kommt es vielen Menschen entgegen, den eigenen Lebensentwurf als karriereorientierter Familienvater oder als Hausfrau im Einklang mit der "Natur" zu wissen. Und dabei Menschen, die andere Formen des Zusammenlebens praktizieren, als "Selbstverwirklicher" zu diffamieren, entlastet von eigenem Leiden. Es scheint bequemer zu sein, bei Feministinnen oder 68ern die Schuld für die geringe Geburtenrate zu suchen, als sich Gedanken zu machen, wie man der Herausforderung einer älter werdenden Gesellschaft kreativ begegnen kann.


Hassobjekt Gleichheit

Zentrales Hassobjekt der neokonservativen Ideologie ist das Prinzip der Gleichheit. Die Gleichheit der Geschlechter wird, von pseudo-wissenschaftlichen Thesen untermauert, ebenso in Zweifel gezogen wie die Funktion des Sozialstaats, einer allzu starken Zerklüftung der Gesellschaft entgegen zu wirken. "Gleichmacherei" ist der Begriff, mit dem ein tragendes Fundament der Gesellschaft abgewertet wird und zugleich "Unterschiede" gefeiert werden. Denn diese sind entweder naturgegeben, wie die Geschlechterrollen, oder den großen Anstrengungen der "Leistungsträger" geschuldet.

Das von Peter Sloterdijk und Guido Westerwelle jüngst wieder entfachte Lamento über angebliche Sozialschmarotzer ist aktuell jedoch nicht der einzige Angriff auf das Gleichheitsprinzip. Anti-egalitärem Denken fallen auch scheinbar fortschrittliche Elemente des politischen Spektrums anheim. Das zeigt die nach der schweizerischen Volksabstimmung zum Minarettverbot und den französischen Erwägungen, die Totalverschleierung von Frauen zu verbieten, in den Feuilletons ausgetragene Debatte. Positionen, wie sie etwa Birgit Rommelspacher und Rudolf Balmer in der taz vertreten und Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, qualifizieren Kritik am Islam bzw. an islamisch begründeten Traditionen, die die Menschenrechte und die Ideen der Aufklärung zum Maßstab nimmt, als fremdenfeindlich, wenn nicht gar als Faschismus-verdächtig. Dabei geht es natürlich weniger um den Bau von Minaretten als im Kern um das Geschlechterverhältnis. Kopftuch, Burka und die sich darin ausdrückende Kontrolle über die Körper von Frauen werden als "kulturelle Differenz" eingestuft, die es zu akzeptieren gelte, Kritik daran als Ausdruck von europäischer Selbstidealisierung, "Zwangsmodernisierung" und "kolonialem Feminismus" abqualifiziert.

Die Frauenbewegung hat lange auf ein egalitäres Verhältnis der Geschlechter hin gearbeitet, nicht nur im Beruf und in der Politik, auch im "intimen" Bereich von Familie und Sexualität. Den Frauenkörper als gleichsam wandelndes Problem zu begreifen, das Männer zur "Sünde" reizt, wenn es nicht verhüllt wird, ist mit der Menschenwürde, die auch für Frauen gilt, nicht vereinbar, egal, ob religiös begründet oder nicht.

Die neokonservative "neue Bürgerlichkeit" trägt mit ihrer Distinktions- und Abgrenzungspolitik gegenüber dem "Prekariat" dazu bei, gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen. Aber auch der Verzicht, kulturelle Differenzen darauf hin zu analysieren, ob sie mit dem Verfassungsgebot gleicher Freiheit und Menschenwürde für Frauen vereinbar sind, trägt zur gesellschaftlichen Spaltung bei: Hier die Frauen, die über alle Facetten ihres Lebens bestimmen können, dort die anderen, deren nachgeordnete Bedeutung sich bereits in einer die körperliche Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung ausdrückt.


Zurück zu "gesunden" Verhältnissen

Was das traditionelle bürgerliche, steuerlich privilegierte Modell des Zusammenlebens anbelangt, so können die Freunde gesunder Familienverhältnisse sich freuen. Gleich nach Arbeitsaufnahme kam die schwarz-gelbe Bundesregierung den neokonservativen Wunschvorstellungen entgegen. Mit dem Anfang 2010 in Kraft gesetzten "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" wurde der von-der-Leyensche Kurs in der Familienpolitik verlassen und die Politik der individuellen Familienförderung wieder aufgenommen, die die traditionelle Familie mit dem Mann als Haupternährer und der nicht oder nur geringfügig erwerbstätigen Frau stützt. Nachdem bereits im Wahljahr 2009 das Kindergeld erhöht worden war, gibt es seit Jahresbeginn einen weiteren Aufschlag. Ob dieses Geld immer tatsächlich den Kindern zugute kommt, kann man bezweifeln. Die wirklich Bedürftigen haben eh nichts davon, da die Kindergelderhöhung mit den Hartz-IV-Sätzen verrechnet wird. Auch sonst zeichnet sich diese erste Großtat der Regierung Merkel-Westerwelle durch ihre soziale Schieflage aus: die Erhöhung der steuerlichen Kinderfreibeträge kommt naturgemäß nur denen zugute, die genug Einkommen haben, um steuerpflichtig zu sein. Schwarz-Gelb hat darüber hinaus einen schon früher gezielt in die Debatte eingebrachten Herzenswunsch der CSU revitalisiert: Ein "Betreuungsgeld" von 150,- Euro im Monat sollen Familien erhalten, die ihre Kinder zu Hause bei Muttern lassen, statt sie in die Kita zu schicken. Alles in allem, einschließlich der Steuererleichterungen für Erben, ein Milliardenpaket, das dem wirklich dringenden Umbau der Bildungslandschaft im Allgemeinen und der frühkindlichen Bildung im Besonderen die dringend benötigten Ressourcen entzieht.


Claudia Pinl (* 1941) schreibt zu feministischen und frauenpolitischen Themen u.a. für die taz und die Blätter für deutsche und internationale Politik. 2007 erschien im Konkret Literatur Verlag ihr Buch Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen.
claudiapinl@web.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 34-38
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2010