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DISKURS/099: Volksgesetzgebung - der falsche Weg (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2012

Volksgesetzgebung - der falsche Weg
Warum die direkte Demokratie in den Ländern als Modell für die Bundesebene nicht taugt

Von Frank Decker



Die Debatte um plebiszitäre Beteiligungsmöglichkeiten auch auf Bundesebene in Deutschland trägt ambivalente Züge. Einerseits mehren sich die Stimmen der Befürworter, andererseits ist man deren Einführung in den letzten Jahren kaum näher gekommen. Und das ist auch gut so, sagt unser Autor, denn die Funktionslogik des parlamentarischen Systems sei in Gefahr.


Die Stimmen derer, die für den Ausbau der plebiszitären Beteiligungsmöglichkeiten und ihre Einführung auch auf Bundesebene eintreten, mehren sich. Insbesondere unter den Verfassungsrechtlern ist in diesem Punkt ein bemerkenswerter Sinneswandel eingetreten. Nachdem diese einer plebiszitären Ergänzung des Grundgesetzes lange Zeit ablehnend gegenüberstanden, sprechen sie sich heute mehrheitlich dafür aus.

Das nüchterne Plädoyer, das Horst Dreier in der Süddeutschen Zeitung formulierte (25./26 Februar), ist inzwischen argumentativer Mainstream. Volksabstimmungen seien - so Dreier - der repräsentativen Demokratie in punkto Gemeinwohlfähigkeit und diskursiver Qualität nicht unterlegen. Schätze man ihre Wirkungsmöglichkeiten realistisch ein, stellten sie ein belebendes Element dar, das die Repräsentationsschwächen der parlamentarischen Institutionen zumindest punktuell ausgleichen könne.

Allerdings wird man kaum behaupten können, dass wir der Einführung der Plebiszite auf Bundesebene in den letzten Jahren tatsächlich näher gekommen sind. Nicht nur, dass die direktdemokratischen Verfahren in der Verfassungspraxis der Länder nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielen. Der Ausgang der jüngsten Abstimmungen (etwa zur Schulreform in Hamburg) hat auch bei manchen Befürwortern Zweifel geweckt, ob die Übernahme des in sämtlichen Bundesländern bestehenden "Modells" der Volksgesetzgebung in das Grundgesetz ratsam wäre.

Die Skepsis wird durch Erfahrungen im Ausland, wie die der Schweizer Minarettinitiative oder die der Haushaltsprobleme im US-Bundesstaat Kalifornien genährt, welche nicht gerade als Ausweis einer, im Vergleich zu den Abgeordneten, höheren "Vernunftbegabung" des Volkes betrachtet werden können. Zwar hat die empirische Forschung keine Belege dafür gefunden, dass Plebiszite generell schlechtere Politikergebnisse hervorbringen als Parteien und Parlamente. Unter Demokratiegesichtspunkten erzeugen sie aber nur dann positive Wirkungen, wenn sie systemverträglich ausgestaltet sind, also das Funktionieren der vorhandenen parlamentarischen Verfahren nicht beeinträchtigen.


Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid

Hierfür ist vor allem maßgeblich, wer berechtigt sein soll, einen Volksentscheid herbeizuführen. Grob vereinfacht lassen sich drei Varianten unterscheiden. Entweder ist der Entscheid von Verfassungswegen vorgegeben (obligatorisches Referendum) oder er kann von den Regierenden nach eigenem Ermessen angesetzt werden (einfaches Referendum). Diese beiden Formen sind in der Mehrzahl der westlichen Demokratien anzutreffen. Ganz anders verhält es sich bei der dritten Variante, der Initiative, die nach einhelliger Auffassung das stärkste Mittel der direkten Demokratie darstellt: Hier wird der Gesetzgebungsprozess von "unten", also vom Volk selbst betrieben. Dabei kann es sich entweder um eine "Vetoinitiative" gegen ein bereits beschlossenes Gesetz handeln (in der Schweiz unter dem Begriff "fakultatives Referendum" geläufig), oder um das Recht, einen Gesetzesbeschluss positiv herbeizuführen. Die letztgenannte Variante, die in den Länderverfassungen zumeist als dreistufiges Verfahren ausgestaltet ist (Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid), firmiert in der deutschen Diskussion unter dem Begriff der "Volksgesetzgebung".

Auf den ersten Blick erscheint es sympathisch, dass sich die Verfassungsgeber in den Bundesländern sämtlich für diese vermeintlich progressivste Form der Direktdemokratie entschieden haben. Die positive Bewertung verliert sich aber bei näherem Hinsehen. Den Befürwortern sollte zu denken geben, dass eine Volksgesetzgebung auf der nationalen Ebene nirgendwo besteht (außer in einigen mittelosteuropäischen Staaten, wo sie nach 1989 in demokratischem Überschwang eingeführt wurde). Selbst in der Schweiz können die Bürger bis heute keine einfachen Gesetze begehren, sondern nur Verfassungsänderungen. Würde man hierzulande die Volksgesetzgebung auf Bundesebene einführen, wäre die Bundesrepublik also selbst dem Mutterland der direkten Demokratie voraus! Ob jenen, die wie Horst Dreier die Übernahme des Volksgesetzgebungsmodells in das Grundgesetz empfehlen, dieser Umstand bewusst ist, wage ich zu bezweifeln.

Die Bedenken werden durch die Ausgestaltung der direktdemokratischen Verfahren in den Länderverfassungen gestützt. Die Inanspruchnahme dieser Verfahren wird durch umfangreiche Themenausschlüsse, hohe Quoren und die fehlende Verbindlichkeit der Volksentscheide so stark eingeschränkt, dass die Plebiszite nur ein Schattendasein fristen. Man entscheidet sich also einerseits für ein sehr weitreichendes Modell der direkten Demokratie, bei dem die Bürger nicht nur an die Seite, sondern erforderlichenfalls an die Stelle des parlamentarischen Gesetzgebers treten können, und trifft andererseits Vorsorge, dass genau dies nicht allzu häufig geschieht. Deshalb war und ist es konsequent, dass die Befürworter der direkten Demokratie versuchen, diesen Widerspruch durch eine Verbesserung der Anwendungsbedingungen zu beseitigen. Ob es sinnvoll ist, den Bürgern überhaupt ein so weitgehendes Demokratieversprechen zu machen - diese Frage stellen sie nicht.


Störung der Funktionslogik des Parlaments

Das Problem liegt also in der Volksgesetzgebung als solcher. Die Erfahrungen zeigen, dass das Volk sein Gesetzgebungsrecht vor allem zu Oppositionszwecken einsetzt, wenn ihm die parlamentarisch getroffenen Entscheidungen missfallen. Die Funktionslogik des parlamentarischen Systems wäre dadurch empfindlich berührt. Diese beruht ja darauf, dass der Regierung das Monopol der politischen Gestaltung gebührt, während die Opposition als parlamentarische Minderheit ganz auf ihre Kritik- beziehungsweise Alternativfunktion zurückgeworfen bleibt, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, die Regierung nach der kommenden Wahl abzulösen. Ein plebiszitäres Vetorecht würde dieses Prinzip unterlaufen. Mit seiner Hilfe könnte die Opposition von der Regierung geplante oder beschlossene Gesetze schon im Vorfeld einer Wahl zu Fall bringen. Es entstünde also eine Konkurrenz von parlamentarischem Mehrheits- und Volkswillen, die das Gestaltungsmonopol der Regierungsmehrheit aufhebt. Ob eine so geartete Konkurrenz das "Geschäft beleben und die Qualität der Produkte erhöhen" würde, wie Horst Dreier mutmaßt, erscheint fraglich. Auf der Regierungsseite dürfte sie vermutlich eher Abwehrreflexe wecken, um die Rechte des Volksgesetzgebers zu begrenzen.

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Was die Länder betrifft, wäre es unrealistisch anzunehmen, dass die Hürden für die direktdemokratischen Verfahren wieder angehoben oder die Volksgesetzgebung ganz abgeschafft werden könnte - dies würden sich die Bürger nicht gefallen lassen. Der Trend dürfte vielmehr in die umgekehrte Richtung einer weiteren Erleichterung der Verfahren weisen - mitsamt den daraus resultierenden Problemen. Was die Bundesebene angeht, kann die Empfehlung dagegen nur lauten, auf die Einführung der Volksgesetzgebung zu verzichten. Da das Gros der Gesetzgebungsbefugnisse im deutschen Föderalismus beim Bund liegt, würden sich potenzielle Konflikte zwischen dem parlamentarischen und dem Volksgesetzgeber im nationalen Rahmen nicht nur sehr viel gravierender auswirken. Es müsste auch die - in den Ländern entfallende - Frage beantwortet werden, wie der Bundesrat an einem Volksgesetzgebungsverfahren beteiligt werden könnte. Auf diese Probleme geht Dreier in seinem Plädoyer bezeichnenderweise nicht ein.


Alternativen

Die Skepsis bedeutet nicht, dass auf der Bundesebene überhaupt keine plebiszitären Elemente vorstellbar wären. Nur sollte man sich dabei auf diejenigen Verfahren konzentrieren, die in die bestehende parlamentarische Parteiendemokratie vergleichsweise problemlos integrierbar sind: die konsultative Volksbefragung, das von oben anzuberaumende einfache Referendum und das obligatorische Verfassungsreferendum. Ausgerechnet diese Verfahren spielen in der Debatte aber so gut wie keine Rolle. In den Bundesländern sind sie - von wenigen Ausnahmen abgesehen - kaum verbreitet.

Das entscheidende Hindernis für die Einführung der Plebiszite ins Grundgesetz liegt insofern in der Fixierung auf das Modell der Volksgesetzgebung. Dessen Ursprünge in der deutschen Verfassungsgeschichte reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Wie wirkungsmächtig der damals eingeschlagene konzeptionelle Pfad bleibt, zeigt sich nicht nur an der Diskussion innerhalb der Staatsrechtslehre. Auch die aus dem politischen Raum kommenden Vorstöße - von Teilen der SPD bis hin zum Interessenverein "Mehr Demokratie" - halten an dem untauglichen Modell gebetsmühlenhaft fest. Solange das der Fall ist und andere, systemverträglichere Alternativen im Horizont des Verfassungsgebers nicht auftauchen, wird der Volksentscheid auf Bundesebene weiter auf sich warten lassen.


Frank Decker (* 1964) ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Zuletzt erschien bei Kohlhammer: Parteien und Parteiensysteme in Deutschland.
(frank.decker@uni-bonn.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2012, S. 52-54
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2012