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DISKURS/108: Humanität versus Vernunft? Versuch der Annäherung an den Umgang mit dem Flüchtlingsthema (spw)


spw - Ausgabe 5/2015 - Heft 210
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Humanität versus Vernunft?
Versuch der Annäherung an den Umgang mit dem Flüchtlingsthema

von Frank Schwabe


Die langfristigen Auswirkungen der Flüchtlingsbewegungen auf die Alltagssituation der Bevölkerung Deutschlands und der Europäischen Union kann niemand voraussagen. Auf alle Fälle wird sich dieses Ereignis aber tief in das Gedächtnis einbrennen. Weil es darum geht, ob wir in der Lage sind, auch unter schwierigen Bedingungen Menschen als Menschen zu behandeln oder ob wir angesichts dieser Aufgabe versagen. Gerade für diejenigen, die sich sozialen und demokratischen Zielen verbunden fühlen, besteht eine besondere Verantwortung.

Der Leiter der ungarischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg sprach kürzlich von Humanität auf der einen Seite und Vernunft auf der andern. So als handele es sich um einen Gegensatz. Ein solch gefährlicher Gegensatz wird auch in der deutschen Debatte konstruiert. Wenn Humanität und Vernunft nicht mehr zusammengehören, erübrigt sich jedes Gerede von einer Wertegemeinschaft. Die guten Menschen sind nicht die Unvernünftigen. Unvernünftig sind diejenigen, die glauben, mit einer Abschreckungspolitik erfolgreich zu sein. Sie werden in der Sache nichts erreichen und dabei Deutschland und Europa als Wertegemeinschaft schweren Schaden zufügen. Der Rahmen ist klar gesteckt. Für Deutschland gilt das Grundgesetz und damit das Recht auf Asyl oder wahlweise die Genfer Konventionen.

"Völkerwanderung" und Zahlensalat

Worüber reden wir eigentlich? Über eine "moderne Völkerwanderung" auf alle Fälle nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn damit die Anlehnung an die historische über 200 Jahre dauernde Völkerwanderung gemeint ist, die den Untergang des Römischen Reiches befördert haben könnte. Begrifflichkeiten und Zahlen werden in der aktuellen Debatte zum Teil fahrlässig verwendet, zum Teil aber auch bewusst missbraucht. Während noch im letzten Jahr kaum jemand die starken Flüchtlingsbewegungen hat kommen sehen, wissen jetzt viele schon ganz genau, wie hoch die Zahlen in den nächsten Jahren sein werden. 7,36 Millionen Menschen, die nach Deutschland kommen, ist die bisher von der Bildzeitung gebotene Höchstzahl.

Tatsache ist, dass es sich bei den in der Tat ungewöhnlich starken Fluchtbewegungen um sowohl auf Länder und Regionen als auch auf wenige Ursachen begründete Phänomene handelt. Nach den Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) handelt es sich in diesem Jahr bis einschließlich September zu zwei Dritteln um geflüchtete Menschen aus dem Bereich der Balkanstaaten bzw. den Bürgerkriegsregionen rund um Syrien und den Irak. Die Zahlen für das Kosovo und Albanien haben ihren Höhepunkt längst überschritten, nehmen für Albanien wieder ab und haben für das Kosovo wieder ein niedriges Niveau erreicht. Nur nebenbei sei erwähnt, dass der Rückgang der Zahlen viel mit Informationen und Mundpropaganda zu tun hat und so ziemlich gar nichts mit der Einstufung in so genannte sichere Herkunftsländer.

Die Zahlen aus dem Gebiet Syriens und des Irak, aber auch aus Afghanistan entwickeln sich kontinuierlich nach oben. Aber auch hier handelt sich um klar eingrenzbare Ursachen. Ebenso schnell wie die Zahlen nach oben gestiegen sind, können sie sich auch wieder zurückentwickeln. Die Zeit des Bemühens um realistische Zahlen, um die Kommunen und die Infrastruktur richtigerweise auf eine Herausforderung vorzubereiten und den Bund zu finanzieller Unterstützung zu bewegen, ist längst vorbei. Mit dem jetzt eingesetzten Überbietungswettbewerb nach oben offener Schätzungen soll jedenfalls mittlerweile akuter Abschottungsbedarf suggeriert werden. Dieses wird unterstützt mit Begriffen wie eben Völkerwanderung, Flut, Ansturm und Welle. Hört sich jedenfalls alles sehr bedrohlich an.

Wer kommt wirklich?

Die Absurdität mancher Zahlenspiele macht ein Blick auf die weltweiten Zahlen von Geflüchteten deutlich. Mit 60 Millionen von den Vereinten Nationen gezählten Geflüchteten ist das die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist viel, aber dennoch nur weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung. Sechs Millionen von ihnen sind beispielsweise Binnenflüchtlinge in Kolumbien. Von denen will niemand nach Deutschland kommen. Es gibt 12 Millionen geflüchtete Syrer, davon sind fünf oder sechs Millionen außerhalb des Landes. Die anderen haben im Land einen Zufluchtsort gesucht. Selbst wenn alle diese 12 Millionen Menschen nach Europa kämen - was natürlich vollkommen unrealistisch ist - wären das nur etwa zweieinhalb Prozent der europäischen Bevölkerung. Zum Vergleich: Der Anteil der geflüchteten Syrer zur Zeit im kleinen und von politischen Krisen geschüttelten Libanon beträgt über 25 Prozent.

Nach Umfragen und auch reichhaltigen persönlichen Erfahrungen wollen über 90 Prozent der Syrer wieder zurück in ihre Heimat. Das wird sich mit der Dauer des Aufenthalts ändern. Aber sehr viele wollen zurück, weil sie noch etwas in Syrien haben, sei es Familie, Landbesitz oder ein Haus, eine Werkstätte oder anderes. Damit ist klar, dass es eine natürliche Obergrenze für die Zuwanderung aus den akuten Krisengebieten gibt, die weit unterhalb mancher Szenarien liegen wird. Für aus der bayerischen CSU postulierte "Notwehr"-Maßnahmen gibt es folglich keine Rechtfertigung.

Neues Verständnis internationalen Engagements

Nach meinen Erfahrungen in den Flüchtlingslagern rund um Syrien empfinde ich die europäische und deutsche Debatte bis heute als absurd. Wir betreiben mittlerweile mit einem hohen Einsatz an Infrastruktur und Finanzen eine "Bewältigung" der Fluchtbewegung in Deutschland und der EU. Das ist auch richtig so. Aber gleichzeitig bekommen syrische Flüchtlinge im Libanon gerade einmal 13,50 Dollar im Monat (!) für Nahrungsmittel. Faktisch hungern sie, haben nicht genug sauberes Wasser, eine sehr schlechte medizinische Versorgung, sie sorgen sich vor dem Winter in nicht winterfesten Verschlägen und manche Kinder sind jetzt fünf Jahre ohne Bildung. Das ist die miserable reale Lage, in der sich Menschen zur Flucht entscheiden. Entweder direkt aus Syrien oder aus den Lagern. Absurderweise in Richtung Europa aber auch zurück in Richtung Syrien. Deutschland leistet viel in der humanitären Hilfe und mit weiteren Hilfsprogrammen. Trotzdem sind die UN-Programme weiterhin dramatisch unterfinanziert. Mit den Mitteln, die wir in etwa in Deutschland in diesem Jahr für die Flüchtlingsherausforderung bereitstellen, könnten wir wahrscheinlich alle 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt ausreichend humanitär versorgen. Der weltweite humanitäre Hilfsbedarf von knapp 20 Milliarden Dollar beträgt nur etwa die Hälfte allein des deutschen Verteidigungsetats.

Eine Chance der Krise liegt darin, ein neues Verständnis des Zusammenhangs des Lebens in Deutschland mit unserer Diplomatie, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Entwicklungspolitik, der Menschenrechtspolitik, ja auch der globalen Umweltpolitik zu entwickeln. Das sind eben keine Themen für Paradiesvögel oder interessante Nebenschauplätze. Sondern auf diesen Politikfeldern wird mitentschieden, wie wir in Deutschland und Europa in den nächsten Jahren und Jahrzehnten leben werden.

Abschreckungspolitik ist gescheitert und wird scheitern

Gelernt haben die Protagonisten einer Abschottungspolitik offenbar nichts. Wie viele Zitate gibt es auch von deutschen Politikern, die die italienische Seenotrettungsmission als "Beihilfe zum Schlepperwesen" (de Maizière) denunziert haben und sich ihrer Worte nach dramatischen menschlichen Tragödien nachher schämen mussten? Nicht nur, dass der Versuch, Menschen zur Abschreckung ertrinken zu lassen, menschenverachtend ist. Die Migrationsorganisation der Vereinten Nationen IOM hat auch mehrfach überzeugend dargelegt, dass die Push-Faktoren und nicht die Pull-Faktoren entscheidend für Fluchtbewegungen sind. Die Menschen kommen nicht, weil sie im Mittelmeer gerettet werden oder weil sie irgendwo in Europa eine finanzielle Pauschale erhalten. Sie kommen auch dann, wenn es kein Seenotrettungsprogramm und nur Sachleistungen gibt.

Deshalb stimmt auch der Vorwurf an die deutsche Bundesregierung und an die Bundeskanzlerin - wenn er denn überhaupt einer sein kann - nicht, zu human reagiert zu haben, als Österreich und Deutschland tausende gestrandete Flüchtlinge aufgenommen haben. Alle die, die seitdem gekommen sind, waren bereits auf dem Weg. Dazu muss man nur ein bisschen verstehen, wie lange es dauert, von Syrien an bayerische Grenzen zu gelangen. Wenn wir nicht jegliche Werte der Humanität in Europa fahren lassen wollen, gibt es zu einem menschlichen Umgang mit den Geflüchteten und einem gleichzeitigen diplomatischen und humanitären Versuch, die Fluchtursachen zu beseitigen oder zumindest zu mindern, keine vernünftige Alternative einer aufgeklärten deutschen und europäischen Gesellschaft. Derweil sollten Fehler der Vergangenheit vermieden werden, durch Verschärfungen des Asylrechts im Abschreckungseifer letztlich unpraktikable Regelungen für die Geflüchteten und die Behörden zu schaffen.

Europäische Solidaritätsmechanismen müssen Dublin-Regeln ersetzen

Auf der Ebene der Europäischen Union hat sich Deutschland zu lange weggeduckt und an einem auch vorher nicht funktionierenden und unsolidarischen und jetzt faktisch zusammenbrechenden Dublin-System festgehalten. Die EU braucht so schnell wie möglich ein solidarisches System der Verteilung und Finanzierung von Geflüchteten. Nicht alle Geflüchtete werden sich nach festen Regeln auf alle Länder der EU "gerecht" aufteilen lassen. Deshalb muss parallel dazu dann ein finanzieller Ausgleichsmechanismus greifen.

Wer Fluchtbewegungen und Migration aus Perspektivlosigkeit so weit wie möglich steuern will, muss legale Wege der Zuwanderung eröffnen, für deren Beschreiten die Grundbedingung das Betreiben eines Aufnahmeverfahrens aus dem Heimatland bzw. der Heimatregion ist. Dazu gehören Zuwanderungsgesetze zum Zwecke der Arbeitsmigration ebenso wie legale Fluchtwege in einer Größenordnung, die wirklich den Anreiz gibt, sich auf dieses Verfahren einzulassen. Eine mögliche EU-weite Größenordnung könnte die Aufnahme von 200.000 Personen pro Jahr in einer außergewöhnlichen Situation wie der jetzigen sein. Für die Balkanstaaten als Nachbarn der EU muss es trotz der immer stärker zutage tretenden internen Probleme der EU selbst eine realistische Beitrittsperspektive geben. Dieses ist die Grundbedingung für eine Lebensperspektive in vielen Ländern Südosteuropas.

Herausforderungen und Chancen in Deutschland

Die aktuelle Flüchtlingssituation ist herausfordernd, für einige Institutionen und Kommunen sogar sehr. Hilfsorganisationen finden auf die Schnelle kein geeignetes Personal, geeigneter Wohnraum ist knapp, die Verteilung der Flüchtlinge gestaltet sich schwierig, viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Verwaltungen und Hilfsorganisationen leisten enormes. Aber es stimmt genauso, dass die Situation an den meisten Orten durchaus beherrschbar ist, Kommunen eine neue Form von längst benötigter Integrationskultur entwickeln, eine Zivilgesellschaft aktiv wird, wie es sie lange, vielleicht noch nie gab, Verwaltungen und Bürgerinnen und Bürger lernen trotz mancher Schwierigkeiten zu kooperieren. Eine Grundbedingung dafür, dass die Situation vor Ort gelingen kann, gibt es, aber: Ein Abbau von Leistungen für die bisherige heimische Bevölkerung zugunsten einer Infrastruktur für Geflüchtete muss vermieden werden. Deshalb war es richtig, dass der Bund den Ländern und Kommunen mit Milliardenprogrammen hilft. Dieses muss aber nach Bedarf nachgesteuert und aufgestockt werden. Manche Fehlentwicklungen der letzten Jahre werden jetzt sichtbar. Dazu gehört auch ein Abbau der Kapazitäten der Katastrophenhilfe nach der Wiedervereinigung. Ebenso braucht es eine Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus.

Eindeutige Haltung ist wichtig

Rassismus gab es und gibt es und er findet im Zuge der Flüchtlingsdebatte natürlich neue Nahrung. Aber es gibt zum Glück das andere Bild von Deutschland. "Wir schaffen das" heißt eben nicht, dass Probleme ausgeblendet werden. Aber es kommt auf die klare Haltung an. Sorgen gibt es und es ist legitim sie zu äußern. Für rassistische Sprüche gibt es aber keine Rechtfertigung. Am Ende werden Deutschland und Europa an der Herausforderung wachsen. Und wenn es ganz gut läuft, wächst das Verständnis für die internationale Verantwortung. Und es sollte klar sein: Ein Gegeneinander von Humanität und Vernunft kann es in einem aufgeklärten Europa nicht geben.


Frank Schwabe ist Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher der Denkfabrik.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2015, Heft 210, Seite 83-86
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2015

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