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DISKURS/109: Mehr Digitalisierung wagen? (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 2/2015 - Universität Bayreuth

Mehr Digitalisierung wagen?

Vom Einfluss der Digitalisierung auf die Demokratie

von Heinrich Amadeus Wolff und Bastian Stemmer


Der Demokatiebegriff des Grundgesetzes hat mehrere Ebenen. Demokratie bedeutet nach Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 GG, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Nach diesem Text legitimiert sich die Staatsgewalt, indem sie ihren Ursprung im Volke findet. Quelle der Herrschaft über das Volk soll das Volk selbst sein. Dieser Zirkel soll durch seine Geschlossenheit Legitimation vermitteln. Die Aussage des Satzes 1 wird eingeschränkt und relativiert durch Satz 2, wonach die Hoheitsgewalt ausgeübt wird durch besondere Staatsorgane (repräsentative Demokratie) und durch das Volk selbst in Abstimmungen und Wahlen (unmittelbare Demokratieelemente). Aus dem Wechselspiel ergeben sich grundlegende Schlussfolgerungen:

Erstens sind die unmittelbaren Herrschaftsakte des Volkes, nämlich Wahlen und Abstimmungen, ernst zu nehmen. Da das Grundgesetz kaum Abstimmungen kennt, dagegen aber Wahlen, haben Letztere besonders große Bedeutung. Der Wahlvorgang muss den Grundsätzen der Gleichheit, Freiheit, Allgemeinheit, Geheimheit und Unmittelbarkeit genügen.

Zweitens darf die Verbindung zwischen Repräsentanten und Souverän nicht vollständig abreißen. Andernfalls würden sich das Parlament als Organ und die von ihm beschlossenen Regeln, die Parlamentsgesetze, immer weiter vom Volk entfernen.

Drittens muss die Legitimation durch das Volk real sein und darf sich nicht in einer theoretischen Ableitung erschöpfen, von der das Volk am Ende nichts hat. Daher darf das Modell der repräsentativen Demokratie niemals so weit gehen, dass die Rückführung der Staatsgewalt auf das Volk fiktiv wird.

Das Demokratieprinzip ist daher Ausgangspunkt für eine ganze Reihe weiterer Forderungen:

- Jede Ausübung von Staatsgewalt bedarf eines angemessenen demokratischen Legitimationsniveaus, d. h. sie muss personell und sachlich vom Parlament zumindest mittelbar mitgetragen werden.

- Politische Meinungen und Richtungen im Parlament und außerhalb des Parlamentes, die keine Mehrheit haben, müssen "am Leben gelassen werden". Die Opposition muss eine reale Chance besitzen, in Zukunft Mehrheit zu werden. Minderheitenrechte sind zwar nicht zwingend erforderlich, entsprechen aber sehr dem demokratischen Gedanken.

- Wesentliche Entscheidungen müssen offen und kontrollierbar im Parlament selbst getroffen werden.

- Demokratische Herrschaft ist immer Herrschaft auf Zeit.

- In der Gesellschaft muss es eine Atmosphäre der freien Rede und des freien Diskurses geben. Die Beziehung von Repräsentanten und Volk darf sich nicht auf den Wahlakt beschränken.

Die Demokratie ist eine Herrschafts- und Strukturentscheidung, die für eine bestimmte Zeit auf eine bestimmte Gesellschaft zugeschnitten ist. Zwischen dem Selbstverständnis des Volkes und der Herrschaftsform besteht stets eine Wechselwirkung, so dass eine Veränderung des gesellschaftlichen Miteinanders sich auch auf die Herrschaftsform auswirken kann. Wie verhält es sich mit der Digitalisierung, die den privaten und beruflichen Alltag der meisten Menschen grundlegend verändert hat? Nimmt sie damit auch Einfluss auf die Verwirklichung des Demokratieprinzips? Das wird man in mehrfacher Hinsicht annehmen müssen. Zwar ist jede Prognose, wie sich der politische Meinungsbildungsprozess durch neue Rahmenbedingungen verändert, spekulativ. Dennoch lohnt es sich, verschiedene Formen des Einflusses genauer in Betracht zu ziehen.


Neue Kommunikationswege zwischen Volk und Repräsentanten

Die Digitalisierung intensiviert die Verbindung des Parlaments und der Abgeordneten zu den Wählern und allgemein zur Bevölkerung deutlich. Die Kommunikation per E-Mail verbessert die Erreichbarkeit von Abgeordneten, die wiederum ihre Ansichten und Ziele mithilfe von Homepages darstellen und erklären können. Die Erweiterung der Frequenzen und das Digitalfernsehen erleichtern die Einrichtung eines staatlichen Parlamentsfernsehens, das Debatten live überträgt. Zudem hat jedermann die Möglichkeit, sich im Internet über Gesetze sowie über Gesetzesbegründungen zu informieren. Die Digitalisierung kann außerdem die Teilnahme an unmittelbaren Ausübungsakten fördern. Ein Beispiel ist das "I-Voting": Die Möglichkeit, bei Wahlen oder Volksabstimmungen die eigene Stimme via Internet abgeben zu können, erleichtert im Vergleich zur Briefwahl und zu traditionellen Urnengängen die Wahrnehmung demokratischer Rechte - vorausgesetzt, die nötige technische Infrastruktur ist vorhanden und die Menüführung auf der jeweiligen Webseite ist verständlich. Allerdings steigt damit zugleich die Missbrauchsgefahr.


Informationsverbreitung ohne professionelle Vermittlung

Eine weitere Veränderung betrifft den Informationstransfer zwischen den politischen Verantwortlichen und dem Volk. Sowohl die privatwirtschaftliche Presse als auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Parteien verlieren an Bedeutung. Immer weniger Zuschauer verfolgen klassische Nachrichtensendungen, gedruckte Qualitätszeitungen verlieren Abnehmer, dagegen erlangen neue Formen der Berichterstattung, etwa in Form von Videos im Internet oder von Blogs, immer größeren Stellenwert. Jeder Blogger wird faktisch zum Journalisten. Und jede Meinungsäußerung, selbst wenn sie nur von Hass und Diffamierungen geprägt ist, kann heute eine ähnliche Reichweite erzielen wie früher ein seriöser Pressebericht. Das von den klassischen Medien besetzte Monopol der Informationsvermittlung entfällt.

Der Verlust dieses Monopols hat Vor- und Nachteile. Professionelle Vermittler können helfen, Sachverhalte zu verstehen, sie können eine Vorauswahl der Themen und Argumente treffen und auf diese Weise dafür sorgen, dass bedeutende Fragen in der Gesellschaft überhaupt erst wahrgenommen werden. Sie können zum anderen bei deren Einordnung helfen. Wer beispielsweise ein Museum mit einer schier unendlichen Anzahl an Exponaten besucht, würde ohne Vorkenntnisse an belanglosen Dingen stehen bleiben, Bedeutendes hingegen übersehen, während bei professioneller Leitung schnell die auch aus sachlichen Gründen herausragenden Dinge gefunden werden. Dies ist eine allgemeine Weisheit, die auch für die Politik gilt. Andererseits darf nicht vergessen werden: Vermittler steuern den Informationsfluss, ohne demokratisch legitimiert zu sein. Sie können durch die Auswahl, die Kommentierung, ja die gesamte Art der Berichterstattung die Wahrnehmung von Geschehnissen durch das Volk verändern.


Kommunikationskultur im Umbruch

Die Digitalisierung verändert die Demokratie aber auch dadurch, dass sie die Kommunikation und damit die Lebensader der Demokratie verändert. Die Art zu kommunizieren, zu schreiben, zu betonen, zu argumentieren, die anderen zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen, wandelt sich erheblich. Im Zeitalter der Digitalisierung gewinnt die Stimme, die nicht langweilt und die nach der 'Logik' der digitalen Kommunikation überzeugt. Beschleunigung, inhaltliche Verkürzung und Unterhaltung sind dabei die Erfolgskriterien. Wer sie am besten miteinander zu verbinden und umzusetzen weiß, hat auch die beste Aussicht, Prozesse der Meinungsbildung zu beeinflussen oder sogar für sich zu entscheiden. Es ist vermutlich kein Zufall, wenn im Zeitalter der Digitalisierung eine Partei wie "Die PARTEI" ins Europaparlament gewählt wird - nicht obwohl, sondern weil sie einen Satiriker (oder Komödianten) als Spitzenkandidat aufgestellt hat.


Risiken der Digitalisierung für den demokratischen Prozess

Die Digitalisierung birgt trotz ihres Potenzials, die Teilhabe an der Demokratie zu fördern, auch handfeste Gefahren für den demokratischen Prozess. So ist etwa die Reaktion auf eine politische Rede oder Stellungnahme in Echtzeit messbar an den Reaktionen in sozialen Netzwerken oder den Kommunikationsplattformen, insbesondere Twitter und Facebook. Wer ein politisches Amt innehat, kann seinen 'Output' in Abhängigkeit davon verändern, welche Reaktionen er beim Publikum auslöst. Er hat die Möglichkeit, bewusst das zu sagen, was bei seinem Publikum gerade gut ankommt - sofern er das möchte.

Die Digitalisierung führt in vielfacher Hinsicht dazu, dass öffentliche Meinungsäußerungen und Debatten zum Ersatz politischer Gestaltung werden. Die öffentliche Diskussion bildet dann nicht mehr den Nährboden für die Stimmabgabe bei Wahlen und Volksabstimmungen, sondern sie wird tendenziell zum Selbstzweck. Man redet gern mit, ohne die politischen Möglichkeiten zu nutzen, sich an der Gestaltung des Gemeinwesens zu beteiligen.


Veränderungen der Demokratie als Herrschaftsform

Die Digitalisierung hat aber auch das Potenzial, die Demokratie in ihrer Eigenschaft als Herrschaftsform grundlegend zu verändern. So kann man etwa fragen: Wofür werden überhaupt noch Repräsentanten benötigt, wenn für jede wesentliche Entscheidung, in die bisher das Parlament einbezogen werden musste, das Volk unmittelbar befragt werden kann - und zwar deshalb, weil es in der Lage ist, durch Abstimmungsgeräte zuhause oder mobil seine Meinung direkt zu äußern? I-Voting könnte die Stelle von Parlamentsgesetzen einnehmen. Im Zuge dieser Entwicklung bestünde die Gefahr, dass diejenigen Nachteile eintreten, welche die Verfassungsgeber vermeiden wollten, als sie sich für eine repräsentative Demokratie entschieden haben. Die nachhaltige Ausrichtung von Entscheidungen, die ganzheitliche Orientierung von Entscheidungen, die Notwendigkeit in bestimmten Punkten fremden Auffassungen zu folgen, um der eigenen Meinung an anderer Stelle Mehrheiten zu verschaffen - all das würde zu kurz kommen.

Die Digitalisierung birgt aber auch eine nicht zu unterschätzende Chance: In einer Demokratie können die Repräsentanten, falls die gesetzlichen Grundlagen und die technischen Voraussetzungen dafür gegeben sind, insbesondere vor weitreichenden Entscheidungen das Volk befragen. Im Vorfeld solcher Volksabstimmungen wächst der Druck, ihre politischen Präferenzen gegenüber dem Volk öffentlich zu begründen. Zugleich bieten kurzfristig angesetzte Volksabstimmungen aber auch die Chance, eine faire öffentliche Meinungsbildung zu organisieren, die sich gezielter Meinungsführung und Manipulation widersetzt. Wer hätte gedacht, dass die Stuttgarter Volksabstimmung zum Neubau des Bahnhofs "Stuttgart 21" offenlegt, dass die sichtbare und von der Presse stark geförderte Ablehnung der Infrastrukturmaßnahme in Wahrheit nur von einer Minderheit geteilt wird? Auch in dieser Hinsicht könnte das Instrument der Befragung dazu beitragen, dass sich die Demokratie im Zuge der Digitalisierung verändert.

Wer weiß, ob man nicht in 100 Jahren auf die Digitalisierung als eine Revolution zurückblicken wird, von der auch die Demokratie als Herrschaftsform nicht unberührt geblieben ist?


Die Autoren

Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Recht der Umwelt, Technik und Information an der Universität Bayreuth.

Bastian Stemmer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Recht der Umwelt, Technik und Information an der Universität Bayreuth.

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 2 - November 2015, Seite 59 - 61
Universität Bayreuth
Stabsabteilung PMK - Presse, Marketing und Kommunikation
95440 Bayreuth
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Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2016

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