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KULTUR/331: Kulturhauptstadt Essen 2010 - Ziel, Chance und Vergeblichkeit (Lorenz Mueller-Morenius)


Im Schatten der Wirklichkeit - Schrift zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010

Kulturhauptstadt Essen 2010:
Ziel, Chance und Vergeblichkeit

Von Lorenz Mueller-Morenius


Als die Stadt Essen und das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt 2010 gekürt wurden, hat man aufgehorcht. Nicht eine Stadt der Geschichte mit altem Grundriss und Gemäuer, verhaftet in der europäischen Historie und mit diesen Daten auch in das Kandidatenrennen gezogen, bekam den Titel, auch nicht die Medienstadt, die Tradition, ja Archäologie aber auch Entwicklung in die technische Neuzeit darzustellen vermochte, wurde Sieger, nein, eine Region, eine Landschaft, aber nicht eine von der Natur geschaffene oder begrenzte, nicht ein Tal, eine Küste oder die Berge, nein das Ruhrgebiet mit der vielleicht heimlichen Hauptstadt Essen hatten es geschafft und sollen sich in diesem Jahr darstellen und zeigen können, sie haben den Titel erhalten und stehen unmittelbar danach und seit dem im Mittelpunkt des Interesses.

Es ist eine Landschaft, die von Menschen und ihrer Arbeit bezeichnet und, man kann es durchaus so sagen, erschaffen wurde, die sich in der Ähnlichkeit der Arbeit, in der Nähe zu Stahl und Kohle, abgeleitet hat. Sie wurde bewusst als Kulturhauptstadt erwählt, und es gibt durchaus Potential, auf das man hätte zurück greifen können, wenn man mit dem Nachdenken um die Frage der Besonderheit und Spezialität dieser Region sich länger hätte aufhalten können und wollen.

Nun geht es nicht darum, nostalgisch das Arbeitsleben an der Ruhr zu verklären, etwa im Nachstellen der Berufe und Arbeitsmethoden. Aber die Chance, den Begriff Kultur an und in das Leben und Wachsen, aber auch des Zu-Ende-Gehens dieser Landschaft zu pflanzen und zu koppeln, ja aus ihr abzuleiten, einen weiten, vielleicht neuen, Kulturbegriff zu kreieren und mit den Menschen am Ort über Kultur allgemein und aus Anlass dieser Feier ganz speziell zu reden und auch auf sie zu hören, wurde offensichtlich nicht bedacht oder auch nicht gewollt.

Es stimmt, Kulturtage zu feiern ist geradezu Alltag einer Kulturadministration. Man kann auf organisatorische Planspiele in viel geübter Art und Weise zurückgreifen, da kann man in der Schublade alles finden, was man sich denken kann und was man denken soll. Das Musikspektakel, die Zeremonie mit Theater und Musik, das Schauspiel an ungewöhnlichen Orten, um den Bezug zu Raum und Zeit zu zeigen, aber es wäre in diesem Falle doch um mehr gegangen, fast möchte man sagen, um alles. Vor dem Hintergrund der Sparmaßnahmen der Städte und Gemeinden, vor dem Hintergrund drohender Schließungen der Kultureinrichtungen vor Ort muss ein solches Spektakel auch kulturpolitische Dimensionen erreichen.

Sicherlich, man darf nun nicht alles auf fehlerhafte oder mangelhafte Planung schieben, auch die Organisationen vor Ort, allen voran die Gewerkschaften und hier ver.di mit ihren kulturpolitischen Potentialen, hätten sich deutlich einmischen müssen. Versuche hat es gegeben, aber man kann es einer tarifpolitisch ausgerichteten Großorganisation nicht verübeln, wenn in Zeiten allgemeiner Schwierigkeiten mit Tarif- und Arbeitskampf die Rangfolge der anzugehenden Fragen anders aussieht, als sie die Künstlerinnen und Künstler in der Organisation gewollt haben. Sicher, Gespräche mit dem Organisationsteam der Kulturhauptstadt hat es gegeben, die Chance dieses Veranstaltungsjahres wurde durchaus erkannt, die dort dargestellten Modelle stießen auf wenig Gegenliebe bei den Verantwortlichen. Das war zu erwarten, wenn immer noch Großevents das Maß aller Dinge sind und sein sollen. Schließlich müssen Kulturereignisse laut und spektakulär sein und noch die Presse in fernen Hauptstädten erschüttern und bewegen, da bleibt so manches scheinbar Kleine unbeachtet. Unbeachtet bleibt auch, dass eine solche Spirale der Großereignisse irgendwann an ihre Grenzen stößt, und es bald der Folgestadt kaum noch möglich ist, die Vorgänger zu übertrumpfen. Dabei wäre schon dieses Ziel der falsche Ansatz.

Man hatte die Möglichkeit, eben weil es um eine gewachsene Region geht, sich in der Programmatik als Kulturhauptstadt neu aufzustellen, anders vorzugehen, andere Wege einzuschlagen. Vielleicht hätte die internationale Kulturkritik gestöhnt und geächzt, aber es wäre in ihrer Ungewohntheit auch ein lohnender Ansatz für eine solche Auseinandersetzung geworden.

Die Region ist mit Kohle und Stahl in kürzester Zeit entstanden, aber auch in rasender Geschwindigkeit zu Ende gekommen. Noch heute finden wir nicht nur Zeugen einer gewaltigen Industriekultur, sondern auch städtebauliche Anlagen, die auf grenzenlosen Zuwachs angelegt sind. Die Euphorie der Menschen in der Industriedichte dieser Region war genau so auf endlosen Aufstieg angelegt, wie sie an diesen Plänen gescheitert ist. Die Relikte zu feiern, kann durchaus Anliegen einer Kulturhauptstadt sein, ihre neuen Entwicklungsmöglichkeiten anzudenken, ja sie auch zu finden, wäre ein anderes gewesen.

Natürlich hat das Team, das Oliver Scheytt und Fritz Pleitgen um sich herum sammelten, Kritik in dieser Richtung erwartet, ja ihr teilweise vorgebeugt, die lokalen Szenen sollen zum Zuge kommen, wenn auch da, wo sie den Etat des Gesamtprojektes nicht berühren, praktisch ausgelagert in die Kommunen. Auch sollen Künstlerinnen und Künstler zum Beispiel in Dortmund sich in den lokalen Bezügen suchen, bewegen und artikulieren dürfen, bei freiem Wohnen für ein Jahr, aber ist es damit schon getan?

Gesellschaftsentwicklung, Industrieentwicklung, politische Entwicklung, das Aufarbeiten der hohen Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Verschuldungsmisere der Städte wären vielleicht weniger spektakulär, aber sie würden die drängendsten Probleme der Region aufnehmen. Die verzweifelten Versuche der Umwidmung von Industrieanlagen, die teilweise peinlichen Neuansiedlungen von Unternehmen, das Wahlverhalten der Menschen und die politische Sprachlosigkeit vor Ort. Wer das zur Feier der Kulturhauptstadt erwartet, definiert Kultur gewiss anders, aber kann es deshalb nicht richtiger sein? Hätte nicht das Gespräch über Kultur, über ihr Wesen, ihre Bedeutung und ihren Wert, an allen Orten der Region, vom Kindergarten bis zum Seniorenpark, mehr Ergebnisse gehabt als ein Leuchtfeuer, von dem nach der Feier nur noch Asche bleibt?

Der Bezirk Ruhr der Gewerkschaft ver.di will diese Fragen aufstellen, und vielleicht mit dieser Publikation (*) einen Beitrag zum Kulturfest herausgeben, um den gestritten und debattiert werden kann, und der vielleicht sogar die Nachhaltigkeit erreicht, um die sich das gesamte Programm der Kulturhauptstadt Essen 2010 so sehr bemühen wird.


Lorenz Mueller-Morenius, geb. 1944, lebt in Münster. Studium der freien Malerei, der freien Grafik, der Pädagogik und Soziologie. Bundes- und NRW-Landesvorsitzender der ver.di-Fachgruppe Bildende Kunst. Geschäftsführender Landesfachbereichsvorstand im Fachbereich 8 NRW.


(*) Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Gemeint ist:
Im Schatten der Wirklichkeit - Schrift zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010
Herausgeber: ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie, Bezirk Ruhr


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Quelle:
Im Schatten der Wirklichkeit - Schrift zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010, S. 9-10
Herausgeber: ver.di Fachbereich Medien, Kunst und Industrie, Bezirk Ruhr
Hollestr. 3, 45127 Essen
Telefon: 0201/247520, Fax: 0201/2475230
E-Mail: bz.essen@verdi.de
Internet: http://essen.verdi.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2010