Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

MENSCHENRECHTE/213: Ehrenkodex der Menschenrechte (epoc)


epoc 1/09
Geschichte · Archäologie · Kultur

»Ehrenkodex der Menschenwürde«

Von Ursula Rüssmann


Die Schrecken von Weltkrieg und Faschismus waren kaum überwunden, als die Vereinten Nationen vor 60 Jahren die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« verkündeten. Diese durchzusetzen ist bis heute eine große Herausforderung.


Der 10. Dezember 1948 ist ein denkwürdiger Tag. So denkwürdig, dass einer, der damals in Paris dabei ist, später schreiben wird: »Mir wurde bewusst, dass ich an einer wahrhaft wichtigen historischen Veranstaltung teilgenommen habe. In dem Großen Saal herrschte eine Atmosphäre aufrichtiger Solidarität und Brüderlichkeit unter den Männern und Frauen aller Breitengrade, wie ich es nie wieder in einem internationalen Rahmen erlebt habe.«

Grund für die Ergriffenheit des chilenischen Gesandten Hernán Santa Cruz ist die UN-Generalversammlung im Palais de Chaillot, die über die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« (AEMR) abstimmen soll. Das Projekt ist umstritten, mehr als ein Drittel der UN-Mitgliedsstaaten ist gar nicht erst erschienen. Aber immerhin: Delegierte aus 48 Nationen sind da. Vor ihnen liegt ein Text aus 30 Artikeln plus Präambel, mit hehren Appellen gespickt und geprägt von den Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft.

Am Ende stimmen 40 Staaten der Erklärung zu, acht enthalten sich: die Sowjetunion und ihre Verbündeten, Saudi-Arabien sowie Südafrika. Beschlossen ist damit nur ein unverbindliches Kompromisspapier, das in über 80 Vorbereitungssitzungen mühsam zurechtgefeilt worden ist. Dennoch markiert der »Ehrenkodex der Menschenwürde« den Anfang einer globalen Erfolgsgeschichte. Heute, im Jahr 2008, sind Unterdrückung, Folter, Rassismus und Armut zwar längst nicht aus der Welt: Aber es gibt keinen Staat mehr, der sich nicht an den Menschenrechten als dem »von allen Völkern und Nationen zu erreichenden gemeinsamen Ideal« (AEMR-Präambel) messen lassen muss. Der institutionelle Menschenrechtsschutz durch Verträge, Gesetze und Gerichte ist stärker denn je.


Seele des Unternehmens

Mit der Erklärung von 1948 wurden die Menschenrechte nicht erfunden. Gewissens- und Versammlungsfreiheit, Schutz vor Folter, Asylrecht, die Rechte auf Bildung, Arbeit, Gesundheit und anderes mehr fanden sich schon in vielen nationalen Gesetzen. In der Pariser Erklärung aber wurden die Menschenrechte erstmals als universaler Anspruch festgeschrieben. Dafür standen auch ihre Autoren: Wesentlich mitgewirkt hat zum Beispiel Charles Malik, Politiker aus dem Libanon, der auch als »arabischer Philosoph« bezeichnet wird. Oder Pengchun Chang, Vertreter Nationalchinas bei den UN. Er drängte darauf, neben einer westlichen auch die konfuzianische Perspektive zu beachten. Und er überzeugte seine Kollegen, auf einen Gottesbezug zu verzichten, da es kein universelles Gottesverständnis gebe.

Die Seele des Unternehmens aber war Eleanor Roosevelt, Feministin und Witwe des 1945 verstorbenen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Sie saß dem Entwurfsausschuss vor, sie setzte von Anfang an auf einen Zwei-Stufen-Plan: Die unverbindliche Erklärung sollte als »Türöffner« für spätere verbindliche Verträge dienen. Nach der Abstimmung im Dezember 1948 war sie denn auch sofort beim zweiten Schritt. »Jetzt kommt es darauf an«, sagte sie einem Reporter, »jene internationale 'Konvention der Menschenrechte' zu verwirklichen, durch die sich die Staaten feierlich verpflichten werden, die in der Deklaration niedergelegten Prinzipien in die Praxis umzusetzen.« Doch Roosevelts Elan sollte nicht tragen. Die globale »Herrschaft des Rechts«, wie die Präambel der AEMR sie herbeisehnte, musste noch warten. Jahrzehntelang hatte der Kalte Krieg die Welt im Griff.

Wären damals nicht die Vereinten Nationen gewesen, der Impuls von 1948 wäre ganz und gar verpufft. Doch die UN, nicht selten ein Forum für faule Kompromisse, aber auch für das globale Gewissen, banden mit ihren Strukturen die Blöcke ein und lieferten den Rahmen, in dem sich der Menschenrechtsschutz ganz allmählich festigen konnte. So beschloss die Generalversammlung 1966 den Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und den über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte. Damit wurde die AEMR verbindlich. In Kraft traten die Pakte aber erst Mitte der 1970er Jahre, als genügend Staaten sie ratifiziert hatten. Hinzu kamen mit der Zeit diverse bindende UN-Konventionen: gegen Völkermord, Rassendiskriminierung, Folter oder Verschleppung und zum Schutz von Frauen und Kindern, Flüchtlingen und Wanderarbeitern.

Ganz neuen Schwung bekam der Kampf für die Menschenrechte 1975. In einer Zeit massiver Aufrüstung zeichneten in Helsinki die Staaten des Warschauer Pakts, der Nato und die neutralen europäischen Staaten die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Sie enthielt Vereinbarungen über friedliche Konfliktbeilegung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und - vor allem - Selbstverpflichtungen zur Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten.

Die Schlussakte entwickelte enorme Sprengkraft. Indem sie osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen Munition für den Kampf um Presse-, Versammlungs- und Reisefreiheit lieferte, stärkte sie die »Macht der Machtlosen«, wie Vaclav Havel später schreibt. Die von ihm mitverfasste Charta 77 etwa bezog sich ausdrücklich auf Helsinki: »Hunderttausenden«, hieß es in der Charta unter anderem, werde die in der Schlussakte zugesagte »Freiheit von Furcht« verwehrt. Die polnische Solidarnosc, Menschenrechtsgruppen wie die Internationale Helsinki-Föderation, Gorbatschows Ruf nach Glasnost und Perestroika und das Ende des Warschauer Pakts - sie alle waren ohne den KSZE-Prozess nicht vorstellbar.

Aber auch der Fall des Ostblocks 1990 brachte nicht, wie erhofft, die »Herrschaft des Rechts«. Vielmehr öffneten sich Abgründe neuer Gewalt: Kriege auf dem Balkan und in Tschetschenien, Völkermord in Ruanda. Keine Spur von einer neuen, besseren Weltordnung - eher von neuer Welt-Unordnung. Spurensuche:


Islam

1993 rufen die UN zur Weltmenschenrechtskonferenz nach Wien. Das Treffen gerät zu einem heftigen Schlagabtausch der Länder des Nordens mit den Staaten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens, die die Universalität der Menschenrechte aufzuweichen versuchten. Heraus kommt ein Kuhhandel: Die westlichen Industriestaaten erkennen das vom Süden eingeforderte Menschenrecht auf Entwicklung an, im Gegenzug bekennen sich die Staaten des Südens zur Universalität der Menschenrechte.

Doch vor allem die islamischen Staaten bleiben bei ihren Auslegungen. Schon 1990 hat die Organisation der Islamischen Staaten die »Kairoer Erklärung der Menschenrechte« beschlossen: Darin fehlen die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz und das Recht auf Religionsfreiheit. Alle Rechte werden unter den Vorbehalt der Scharia gestellt. Erst 18 Jahre später, im März 2008, wird die Kairoer Erklärung abgelöst durch die von der Arabischen Liga beschlossene Arabische Menschenrechtscharta. Die schreibt immerhin die Geschlechtergleichheit fest. Zaghafte Fortschritte sind auch sonst erkennbar. Laut UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) sitzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Frauen in arabischen Parlamenten als je zuvor, und immer mehr Mädchen gehen zur Schule. Dies sei vor allem Reformkräften in den islamisch-arabischen Staaten zu verdanken.


Globalisierung

»Jeder«, schrieben die Autoren der AEMR in Artikel 25, »hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet.« 1994 schlug die UNDP eine Weltsozialcharta vor, um »eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Recht auf Ernährung ebenso geheiligt ist wie das Wahlrecht«. Im Jahr 2008 ist davon fast nichts eingelöst: Ein Mädchen in Lesotho hat heute eine um 42 Jahre niedrigere Lebenserwartung als eines in Japan. »Soziale Ungerechtigkeit«, schrieb die Weltgesundheitsorganisation im Sommer, töte weltweit »in großem Maßstab«. Die Globalisierung habe den weltweiten Reichtum enorm wachsen lassen und den Abstand zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern verdoppelt.

Der Klimawandel verschärft die Kluft noch. Doch er belebt immerhin die internationale Debatte über ein einklagbares Menschenrecht auf saubere Umwelt, die der UN-Umweltgipfel 1992 angestoßen hatte. So gut wie ungehört aber bleiben seit Jahrzehnten die Forderungen von Entwicklungsorganisationen, den Welthandel zu Gunsten der Dritten Welt zu reformieren und Instrumente wie die »Tobinsteuer« zu schaffen, mit der wirksame Armutsbekämpfungsprogramme finanziert werden könnten.


Menschenrechtsjustiz

Schon 1948 mahnten die USA einen weltweiten Gerichtshof für Menschenrechtsverbrechen an. Ihr Appell wurde erst Mitte der 1990er Jahre umgesetzt, dann aber ging es Schlag auf Schlag: Erst entstanden die Ad-hoc-Tribunale für Exjugoslawien und Ruanda, dann der Sondergerichtshof für Sierra Leone und jener für Kambodscha. Und seit 2002 residiert in Den Haag der ständige Internationale Strafgerichtshof (ICC), der weltweit Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt.

Allein das Jugoslawientribunal hat bisher über 100 Urteile gesprochen; eines der spektakulärsten Verfahren, gegen Serbenführer Radovan Karadzic, hat begonnen. Wegen der Kriegsverbrechen in Sierra Leone wird Liberias früherem Präsidenten Charles Taylor der Prozess gemacht. In Haft sitzt auch der kongolesische Expräsidentschaftsanwärter Jean-Pierre Bemba, der sich für Gräuel in der Zentralafrikanischen Republik verantworten muss.

Mehr noch: Immer häufiger befassen sich nationale Gerichte mit Menschenrechtsverbrechen und ziehen Verantwortliche anderer Staaten zur Rechenschaft. Grundlage ist das Weltrechtsprinzip, das in viele nationale Gesetzgebungen aufgenommen wurde. Spanische Ermittlungsrichter etwa nahmen Chiles Exdiktator Augusto Pinochet ins Visier. In Belgien wurden vier Ruander wegen des Völkermords in ihrer Heimat verurteilt; in Senegal könnte bald der Prozess gegen den tschadischen Despoten Hissène Habré beginnen, dem Folter und Morde an politischen Gegnern zur Last gelegt werden. Im Sommer wurden in Madrid Klagen gegen sieben chinesische Politiker und Militärs angenommen, die für die Niederschlagung der Unruhen in Tibet im März 2008 verantwortlich gemacht werden.

Alles in allem ist das eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, allerdings durchsetzt mit Ernüchterung: So bleibt der ICC deutlich hinter den an ihn geknüpften Erwartungen zurück, denn die USA, China und Russland unterstützen ihn nicht. Für Misshandlungen im irakischen US-Haftlager Abu Ghraib, für das Massaker 1989 in Peking und für die Gräuel in Tschetschenien wurde bisher keiner der politisch Verantwortlichen verurteilt.


Antiterrorkampf

Der internationale Terrorismus, schreibt der Leiter des Deutschen Menschenrechtsinstituts Heiner Bielefeldt in einem Essay, »bedroht den demokratischen Rechtsstaat im Kern«. Bielefeldt listet besorgt Tendenzen der »Guantánamisierung der staatlichen Ordnung« auf, die in Deutschland, aber auch in anderen westlichen Staaten zu beobachten sind. Der Antiterrorkampf bringt menschenrechtliche Errungenschaften ins Wanken, die in Jahrzehnten, ja Jahrhunderten erkämpft wurden: faire Gerichtsverfahren, die Unschuldsvermutung, Verbot langer Haft ohne Anklage, Daten- und Persönlichkeitsschutz, vor allem das absolute Folterverbot.

Die USA hielten in ihren Internierungslagern auf Kuba, in Afghanistan oder auf Flugzeugträgern im Indischen Ozean zeitweise mehrere tausend Personen fest - unter teils unmenschlichen Bedingungen, ohne Anklage und ohne Außenkontakt. Viele Betroffene waren vom Geheimdienst CIA verschleppt und, mit Wissen europäischer Regierungen, illegal zu den Haftlagern geflogen worden. Auch nutzen die USA und andere westliche Staaten Aussagen, die Gefangene in autoritären Staaten unter Folter machen. Ein Beispiel ist der Deutsch-Syrer Mohammed Haydar Zammar, der im berüchtigten syrischen Faris-Filastin-Gefängnis direkt von deutschen Beamten befragt wurde.

42 Prozent der Deutschen sind nicht in der Lage, auch nur ein einziges Menschenrecht zu benennen>
infratest dimap, 2008

Exinnenminister Otto Schily, eher als Hardliner bekannt, warnte 2003 angesichts der rabiaten US-Antiterrorpolitik: »Wenn wir anfangen, Verbote wie das Folterverbot zu relativieren, landen wir im tiefsten Mittelalter.« Da diskutierte die deutsche Öffentlichkeit schon über den Fall des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner, der dem Kindesentführer (und -mörder) Markus Gäfgen »erhebliche Schmerzen« angedroht hatte, damit dieser das Versteck des Opfers verriet. Daschner löste eine heftige Kontroverse aus und bekam viel öffentliche Unterstützung.

Die Debatte über »Rettungsfolter« hält an und damit zusammenhängend die über ein so genanntes Feindstrafrecht. Damit ist gemeint, dass für eine bestimmte Gruppe von Menschen elementare Rechte außer Kraft gesetzt werden können. Vorbild ist das Konstrukt des »ungesetzlichen Kombattanten«, mit dem die US-Regierung Terrorverdächtigen zentrale Rechte vorenthält. Ein Protagonist dieser Schule, der Staatsrechtler Otto Depenheuer, hält bei solchen »Feinden« Instrumente wie »präventive Sicherungsverwahrung« oder »rechtsstaatlich domestizierte Folter« für potenziell legitim. Und Vize-Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum sprach sich dafür aus, dass mit Folter erzwungene Aussagen »im Einzelfall« verwendbar sein müssten.

Noch sind solche Stimmen eher in der Minderheit. Und Guantánamo, schlechthin der Prototyp aufgeweichter Menschenrechtsstandards, könnte in absehbarer Zeit geschlossen werden. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht trotzdem große Gefahren: Ausnahmen vom Folterverbot, warnt AI, »zersetzen die demokratische Substanz der Verfassungsstaaten von innen heraus« und unterstützten so geradezu »die politischen Ziele, die mit terroristischen Aktionen verfolgt werden«. Unstrittig ist, dass die Glaubwürdigkeit des Westens in Sachen Menschenrechte durch den Antiterrorkampf erheblich gelitten hat. Die weltweite Herrschaft des Rechts, vor 60 Jahren von den Vereinten Nationen als Ziel ausgerufen, ist wieder in weite Ferne gerückt.


ARTIKEL 1
Alle Menschen sind frei und gleich
an Würde und Rechten geboren.

ARTIKEL 5
Niemand darf der Folter oder grausamer,
unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

ARTIKEL 9
Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft
gehalten oder des Landes verwiesen werden.

ARTIKEL 18
Jeder hat das Recht auf Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit.

ARTIKEL 19
Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit
und freie Meinungsäußerung.


Ursula Rüssmann arbeitet als leitende Redakteurin im Ressort Politik der »Frankfurter Rundschau«. Zu ihren Schwerpunktthemen gehört neben Migration und Integration die internationale Menschenrechtspolitik.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Für Eleanor Roosevelt war der Einsatz für die Deklaration der Menschenrechte eine Lebensaufgabe - die sich am 10. Dezember 1948 erfüllte.


© 2009 Ursula Rüssmann, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
epoc 1/09, Seite 80 - 83
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg
Telefon: 06221/9126-600, Fax 06221/9126-751
Redaktion:
Telefon: 06221/9126-711, Fax 06221/9162-869
E-Mail: redaktion@epoc.de
Internet: www.epoc.de

epoc erscheint zweimonatlich.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro,
das Abonnement 40,50 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009