Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

MENSCHENRECHTE/269: El Salvador - Menschenrechtler fordern von Kirche Herausgabe von Opferarchiv (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Oktober 2013

El Salvador: Menschenrechtler fordern von Kirche Herausgabe von Opferarchiv

von Edgardo Ayala


Bild: © Tomás Andréu/IPS

Aktivisten und Angehörige protestieren vor der Kathedrale von San Salvador gegen die Schließung des erzbischöflichen Menschenrechtsarchivs
Bild: © Tomás Andréu/IPS

San Salvador, 17. Oktober (IPS) - In El Salvador sorgen sich Aktivisten, Familien von Bürgerkriegsopfern und Juristen nach der überraschenden Schließung eines umfassenden Menschenrechtsarchivs durch das Erzbistum von San Salvador um die Sicherheit der rund 50.000 Opferakten. Sie befürchten, dass die Schließung mit der überraschenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zusammenhängt, eine Klage gegen das Amnestiegesetz von 1993 zuzulassen, das Menschenrechtsverbrecher bislang vor der Strafverfolgung bewahrt.

Am 30. September hatte die Katholische Kirche das Dokumentationszentrum 'Tutela Legal' ohne Vorankündigung geschlossen und sogar die Mitarbeiter vor vollendete Tatsachen gestellt. Diese sind jedoch fest entschlossen, das Archiv wiederzueröffnen. Sie fordern die Rückgabe der Sammlung, die überwiegend Verbrechen staatlicher Akteure in den Jahren 1980 bis 1992 dokumentiert. "Wir sind die rechtlichen Vertreter der Opferangehörigen und mit den Fällen vertraut", sagte der Rechtsanwalt Alejandro Díaz gegenüber IPS. Wie er berichtete, sind die Voraussetzungen für eine Wiedereröffnung des Archivs geschaffen. "Unsere Arbeit muss weitergehen."


Gefürchtetes Belastungsmaterial

Tutela Legal dokumentiert seit Jahrzehnten die von Armee und Rebellen im Bürgerkrieg begangenen Verbrechen und leistet den Überlebenden und den Opferfamilien rechtlichen Beistand. Sollte der Oberste Gerichtshof einer Wiedereröffnung der Strafverfahren gegen die Menschenrechtsverbrecher zustimmen, wären diese Unterlagen von entscheidender Bedeutung. Die Akten enthalten Bandaufnahmen, schriftlich fixierte Zeugenaussagen, Fotografien und Videos über Opfer und Angehörige. Auch belegen sie Zeitpunkt und Ort von Massakern und anderen Menschenrechtsverletzungen.

Laut Ovidio Mauricio González, dem letzten Tutela-Leiter, wird das neue Archiv von den gleichen Einrichtungen finanziert, die schon die Arbeit der Tutela Legal unterstützt hatten. Dazu gehören die katholische CAFOD in Großbritannien, CCFD-Terre Solidaire in Frankreich und CARITAS-Asturias in Spanien. Die Kosten für die Digitalisierung und den Erhalt der Beweismittel veranschlagt González mit 300.000 US-Dollar. Der Zahn der Zeit und auch Feuchtigkeit haben vor allem den Schriftstücken zugesetzt.

Der Erzbischof von San Salvador, José Escobar, gab als Grund für die Schließung des Archivs an, dass Gelder veruntreut worden seien. Nähere Details nannte er nicht. Doch González zufolge hat es von Seiten der Partnerorganisationen, die die Verwendung der Archivgelder regelmäßig überprüft hätten, nie Beanstandungen gegeben.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, zehn Tage vor der Schließung des Menschenrechtsarchivs eine Klage zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Amnestiegesetzes zuzulassen, hat Zweifel an der Aufrichtigkeit des Prälaten geweckt.

Auch dass das Erzbistum im Dunkeln lässt, wo die Akten untergebracht sind, beunruhigt in- und ausländische Menschenrechtsorganisationen gleichermaßen. In einer Mittelung des Washingtoner Büros für lateinamerikanische Angelegenheiten (WOLA) heißt es, dass man "hoffe und erwarte, dass die Erzdiözese diese Archive schützt, sie Wissenschaftlern und Ermittlern weiterhin bereitstellt sowie der langjährigen Tradition treu bleibt, die Menschenrechte, die menschliche Würde und das stolze Erbe der Tutela Legal zu schützen".

Rund 100 nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen haben zudem in der salvadorianischen Presse Großanzeigen geschaltet, in denen sie den Schutz des Aktenmaterials fordern. "Ich bin hier, um mich mit allen Menschen zu solidarisieren, die zu Recht den Schutz der Archive verlangen", sagte Andrea Mcleoud von der Organisation 'Somos Tutal' (in der indigenen Sprache Nahuatl gleichbedeutend mit 'Wir sind die Erde') während einer Demonstration am 6. Oktober vor der Kathedrale von San Salvador.

Die Tutela Legal war 1982 von dem damaligen Erzbischof Arturo Rivera y Damas als Nachfolgeinstanz von 'Socorro Jurídico' des 1980 von Todesschwadronen ermordeten Erzbischofs Óscar Arnulfo Romero ins Leben gerufen worden. Der bewaffnete Konflikt zwischen Regierung und Paramilitärs einerseits und der linken Guerilla 'Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí' andererseits kostete 75.000 Menschen das Leben. Weitere 8.000 Menschen werden in dem mehr als sechs Millionen Einwohner zählenden Land bis heute vermisst.


Opferfamilien erheben Anspruch

"Wir verlangen, was uns als Familien der Opfer zusteht", formulierte Rosa Rivera den Anspruch der Opferangehörigen auf das Menschenrechtsarchiv. Riveras Angehörige waren am 14. Mai 1980 zusammen mit 300 Männern, Frauen und Kindern von Soldaten und Paramilitärs im Departement Chalatenango ermordet worden, als sie über den Grenzfluss Sumpul nach Honduras zu fliehen versuchten.

Die verschwundenen Archive beinhalten auch Menschenrechtsverletzungen jüngeren Datums. Dazu gehört die Bleiverseuchung einer ländlichen Gemeinde durch eine Autobatteriefabrik. Der Fall wurde 2008 an die Interamerikanische Menschenrechtskommission weitergeleitet.

Während im entfernten Rom auf Geheiß von Papst Franziskus die Seligsprechung des ermordeten Romero vorankommt, ist offenbar ein Teil seines Erbes gefährdet. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.tutelalegal.org/index.html
http://www.wola.org/es/noticias/la_oficina_de_ayuda_legal_de_la_arquidiocesis_de_san_salvador_cerro_arriesgando_miles_de_re
http://ccfd-terresolidaire.org/
https://www.facebook.com/Somostutal
http://www.ipsnews.net/2013/10/activists-struggle-to-recover-human-rights-archives/
http://www.ipsnoticias.net/2013/10/lucha-por-reabrir-historico-archivo-criminal/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. Oktober 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2013