Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


MENSCHENRECHTE/312: Mexiko - Angriffe auf Menschenrechtler werden kaum verfolgt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Oktober 2015

Mexiko: Angriffe auf Menschenrechtler werden kaum verfolgt - Zivile Beobachtermission legt Bericht vor

von Julia Krämer


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

In einer kleinen Kapelle in Iguala haben Angehörige Fotos ihrer verschwundenen Familienmitglieder aufgehängt
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Berlin (IPS) - Drohungen, tätliche Angriffe und Mord: Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen in Mexiko sind täglich Übergriffen ausgesetzt. Untersucht, geschweige denn strafrechtlich verfolgt, werden sie in den wenigsten Fällen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Zivile Beobachtermission, die im vergangenen November die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern vor Ort untersucht hat. Anfang Oktober legte sie ihren Bericht vor.

"Die strukturelle Straflosigkeit ist der Hauptgrund, warum Verteidiger der Menschenrechte in Mexiko einem ständigen Risiko ausgesetzt sind", heißt es im Bericht 'En Defensa de la Vida - Conclusiones de la Misión de Observación Civil sobre la situación de las personas defensoras en México 2015' (auf Deutsch etwa: 'Das Leben verteidigen - Ergebnisse der Zivilen Beobachtermission über die Situation der Verteidiger der Menschenrechte in Mexiko 2015'), der mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union entstand. Die Bedrohung gehe nicht nur von Verbrecherbanden aus, sondern auch von Unternehmensvertretern, deren Firmenpraxis die Menschenrechtsverteidiger kritisieren.

Die unabhängige Zivile Beobachtermission unter Federführung der nichtstaatlichen Mexikanischen Kommission der Verteidigung und Förderung der Menschenrechte (CMDPDH) besuchte vom 9. bis 14. November 2014 neben Mexiko-Stadt die Bundesstaaten Guerrero, Baja California unc Oaxaca, um sich ein Bild vom 2012 von der mexikanischen Regierung verabschiedeten Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger und Journalisten zu machen. Nach Interviews mit dortigen Akteuren und eingehender Untersuchung verschiedener Fälle gehen die Expertinnen davon aus, dass Aggressionen teilweise auch von Mitgliedern des Militärs, der Polizei und zivilen Staatsvertretern ausgehen oder unterstützt werden: indem sie wegschauen, sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben oder Untersuchungen explizit behindern. Auch würden ohne den leisesten Anfangsverdacht Strafprozesse gegen Menschenrechtsverteidiger angestoßen, um sie und ihre Arbeit zu diskreditieren.


Angriff auf die gesamte Gesellschaft

"Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger verletzen nicht nur das Recht auf Leben der Betroffenen, sondern behindern sie auch in ihrer Arbeit, andere Menschen zu schützen", heißt es im Bericht. So würden gleichzeitig auch diejenigen Menschen angegriffen, die geschützt werden sollen, sowie letztlich die gesamte mexikanische Gesellschaft.

Die Zivile Beobachtermission wurde neben der Mexikanischen Menschenrechtsorganisation CMDPDH von elf weiteren Organisationen unterstützt, darunter Amnesty International, Peace Brigades International und Conexx-Europe. Durchgeführt wurde die Mission von fünf unabhängigen Expertinnen: Angelita Baeyens ist Programmdirektorin der Menschenrechtsorganisation Robert F. Kennedy Human Rights mit Sitz in Washington D.C., Tarcila Rivera Zea aus Peru ist Journalistin und Aktivistin für Indigenenrechte, die argentinisch-deutsche Soziologin Rosario Figari Layus von der Universität Marburg ist spezialisiert auf Transitional Justice, die Juraprofessorin an der Middlesex-Universität in London Elvira Dominguez Redondo beschäftigt sich mit Internationalem Recht und Menschenrechten. Eleanor Openshaw ist Juristin und Mitarbeiterin der Organisation International Service for Human Rights mit Sitz in New York. Der Bericht wurde am 29. September vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf vorgestellt.

Als Beispiel für die Mittäterschaft staatlicher Stellen nennt der Bericht die Entführung von 43 Studenten, die sich am 26. September zum ersten Mal jährte. Die Studierenden am Lehrerkolleg in Ayotzinapa im Nordwesten des südlichen Bundesstaates Guerrero waren in Bussen unterwegs, als sie nahe der Stadt Iguala in einen Hinterhalt lokaler Polizeikräfte gerieten. Die Untersuchungen eines von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beauftragten Expertenteams ergaben, dass es damals zu einer konzertierten Aktion unterschiedlicher Sicherheitskräfte einschließlich der Bundespolizei und des Militärs gekommen war, die Stunden anhielt und an mindestens neun unterschiedlichen Orten durchgeführt wurde. Die Bezirkspolizei tötete demnach fünf Zivilisten, unter ihnen zwei Studenten. Die Leiche eines weiteren Studenten, der zuvor gefoltert worden war, wurde in der Nähe einer Müllhalde gefunden. 43 seiner Kommilitonen - die meisten waren im ersten Semester - wurden verschleppt. Seitdem sind sie verschwunden.

Entführungen und das Verschwindenlassen von Menschen sind in Mexiko an der Tagesordnung. Laut offiziellen Angaben sind 22.000 Menschen 'verschwunden' - und das in einem Land unter demokratisch gewählter Führung. Misshandlungen und Folter in der Haft sind nach Angaben des UN-Sonderberichterstatters für Folter, Juan Mendez, "allgemein üblich". In einem Bericht vom März dieses Jahres sprach Mendez von systematischen Menschenrechtsverletzungen in Mexiko.


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Demonstration gegen das Verschwindenlassen in Mexiko-Stadt
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Durch die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Verbrechen von Ayotzinapa wurden Allianzen zwischen lokalen Politikern und dem organisierten Verbrechen aufgedeckt.

"Menschenrechtler und Mitglieder von Sozialbewegungen sehen sich heute in der Schusslinie", meint Héctor Cerezo, der seit vier Jahren versucht, die Fälle verschwundener Kollegen und Aktivisten aufzuarbeiten. Seit Präsident Enrique Peña Nieto im Amt ist, dokumentierte er 81 Entführungen von Menschenrechtlern. Unter dem vorherigen Präsidenten Felipe Calderón waren es 55 gewesen. "Insgesamt werden seit 2006 136 Aktivisten vermisst, von denen wir wissen, dass sie von staatlichen Sicherheitskräften mitgenommen worden sind."

Auch wenn die Zahl angesichts Tausender Verschwundener niedrig erscheint, deutet sie Cerezo zufolge darauf hin, dass der mexikanische Staat die soziale Kontrolle verschärft hat.

Der Bericht 'Die Menschenrechte in Mexiko schützen: Politische Unterdrückung, eine verbreitete Praxis', der am 27. August vom 'Mexikanischen Cerezo-Komitee' und der 'Nationalen Kampagne gegen Verschwindenlassen' veröffentlicht wurde, listet 860 Menschenrechtsverstöße gegen Sozial- und Menschenrechtsaktivisten im Zeitraum Juni 2014 bis Mai 2015 auf. Dazu zählen kollektive Übergriffe gegen 47 zivilgesellschaftliche Organisationen und 35 Gemeinschaften sowie die Zunahme willkürlicher Verhaftungen, die sich nahezu verdoppelt haben.

Héctor Cerezo vom gleichnamigen Komitee ist der festen Überzeugung, dass die Entführung der Studenten von Ayotzinapa im Zusammenhang mit der staatlichen Strategie steht, die soziale Kontrolle zu verschärfen. "Die Brutalität, das Ausmaß der Aggression und die Tatsache, dass die Regierung solche hohen politischen Risiken eingeht, lässt sich nicht allein mit der Drogenpolitik erklären. Das Verschwinden der Studenten war als Drohung an die Adresse der Menschenrechts- und Sozialbewegungen gedacht", ist er überzeugt.


Schutzmechanismen unzureichend

"Alle Menschenrechtsverteidiger, mit denen wir gesprochen haben, haben betont, dass der Staat offensichtlich nicht willens ist, die Situation für die Personen zu verbessern", sagte Elvira Dominguez von der Zivilen Beobachtermission in einem Video über ihre Untersuchung. "Maßnahmen, um die Sicherheit von Menschenrechtsverteidigern zu gewähren, gibt es kaum, und wenn, dann werden sie nicht in die Praxis umgesetzt oder sind so konstruiert, dass sie praktisch auf keinen Fall anwendbar sind."

Im Jahr 2012 verabschiedete der mexikanische Kongress den Schutzmechanismus sowie das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten. Dieses schafft unter anderem einen klaren Rechtsrahmen für die Kooperation zwischen den Behörden des Bundes und der Bundesstaaten auf diesem Gebiet. Doch auch wenn in den vergangenen drei Jahren Fortschritte erzielt wurden, ist die Umsetzung in vielen Bundestaaten noch mangelhaft.


"Gesetze, die nicht umgesetzt werden, verlieren ihre Wirkung"

"Gesetze, die nicht umgesetzt werden, verlieren ihre Wirkung", heißt es dazu im Bericht der Beobachtermission. "Das Gesetz muss endlich konkrete Taten nach sich ziehen." Die Regierung müsse die Sicherheit von Menschenrechtsverteidigern garantieren sowie neutrale strafrechtliche Untersuchungen der bisherigen und künftigen Angriffe auf diese Personengruppe ermöglichen.

Darüber hinaus fordert die Beobachtermission, die Regierung solle eine öffentlichkeitswirksame Kampagne starten, um sich hinter die Arbeit von Menschenrechtlern zu stellen. Staatsbedienstete, die mit entsprechenden Fällen befasst sind, sollen besser aus- und weitergebildet werden, um ein besseres Verständnis der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern zu erhalten und entsprechende Maßnahmen zum Schutz dieser Personengruppe einleiten und umsetzen zu können. Außerdem müsse Mexiko die UNO-Deklaration zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern in nationales Recht gießen.

Mit der UNO-Deklaration von 1998 wurden erstmals internationale Standards für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern geschaffen. Sie appelliert an die Staaten, sie und ihre Aktivitäten zu schützen. In der Deklaration ist auch festgehalten, wer als Menschenrechtsverteidiger zu betrachten ist: nicht nur professionelle Menschenrechtler, sondern auch Angehörige anderer Berufe, wie Journalisten, Anwälte sowie Freiwillige und alle, die - auch nur gelegentlich - Menschenrechte schützen. Zudem schreibt die Deklaration fest, dass die Staaten verpflichtet sind, Menschenrechtsverteidiger vor staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (wie Unternehmen oder fundamentalistischen Gruppen) zu schützen. (Ende/IPS/jk/07.10.2015)


Links:

http://www.cmdpdh.org/publicaciones-pdf/cmdpdh_en_defensa_de_la_vida_conclusiones_de_la_mision_de_observacion_civil_sobre_situacion_de_personas_defensoras_en_mexico_2015.pdf
http://youtu.be/zzL8EP-XU0Y

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. Oktober 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang