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MILITÄR/899: Sozialethische Überlegungen zur Reform der Bundeswehr (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 4/2011

Nochmals nachdenken
Sozialethische Überlegungen zur Reform der Bundeswehr

Von Thomas Hoppe


Deutschland sollte bei der Neuausrichtung der Bundeswehr für sich in Anspruch nehmen können, einer Analyse zu folgen, die zentrale friedenspolitische und -ethische Fragestellungen angemessen berücksichtigt. Der Wechsel im Amt des Verteidigungsministers gibt Gelegenheit, über die wesentlichen Reformschritte nochmals nachzudenken.


Mit seiner Grundsatzrede vor der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg am 26. Mai des vergangenen Jahres läutete der damalige Bundesminister der Verteidigung, Karl-Theodor zu Guttenberg, offiziell einen Paradigmenwechsel ein. Er wandte sich ausdrücklich von dem Grundsatz ab, dass die sicherheitspolitisch zu begründenden Aufgabenstellungen für Streitkräfte den Planungsrahmen dafür abgeben, wie die Bundeswehr künftig ausgerichtet sein soll. Stattdessen werde künftig der "Finanzrahmen (...) den strukturellen Rahmen und damit auch das eigene Anspruchsniveau vorgeben". Die Haushaltskonsolidierung habe oberste Priorität, der alle anderen Belange nachzuordnen seien. Angesichts der einzusparenden Summe von mehr als acht Milliarden Euro sei es zudem unvermeidlich, die Wehrpflicht auszusetzen, über deren Alternativlosigkeit gerade in der CDU/CSU bis dahin ein breiter Konsens geherrscht hatte. Auch der Minister selbst hatte lange Zeit diese Position vertreten und erklärt, eine Abschaffung der Wehrpflicht sei mit ihm nicht zu machen.

Unvermeidlich drängte sich der Eindruck auf, hier werde Sicherheitspolitik "nach Kassenlage" gemacht, nicht aber aufgrund einer eingehenden Analyse, die derart weit reichende Konsequenzen zu tragen vermag. Die Hinweise auf mangelnde Wehrgerechtigkeit im heutigen System sowie darauf, dass die Anforderungen einer modernen Einsatzarmee durch eine Wehrpflichtstruktur nicht zu erfüllen seien, wirkten erkennbar nachgeschoben. Auch fehlte es an einer genaueren Begründung für die Orientierung an militärischen Einsatzerfordernissen im Ausland als zentralen Planungs- und Bedarfserhebungskategorien.

Bisher war neben solchen Aufgabenbeschreibungen stets gleichberechtigt die Bedeutung der Aufrechterhaltung von Fähigkeiten zur Landes- beziehungsweise Bündnisverteidigung betont worden. Nicht nachvollziehbar erschien sachkundigen Beobachtern zudem die Hoffnung, durch diesen Strukturwandel substanzielle finanzielle Mittel einsparen zu können; sie erwarteten sogleich eher einen Mehr- als einen Minderbedarf an finanziellen Ressourcen. Dies scheint sich in jüngster Zeit zu bestätigen, seit bekannt wurde, dass zumindest in der ersten Phase der Neuausrichtung der Bundeswehr auch nach Auffassung des zuständigen Ministeriums keine Spareffekte in Aussicht stehen, vielmehr etwa 1,2 Milliarden Euro Mehrkosten entstehen werden.


Vom Einsatz her gedacht?

Im Oktober 2010 legte eine ein halbes Jahr zuvor eingesetzte "Strukturkommission", die vom Vorsitzenden des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, geleitet wurde, ihren Bericht zur künftigen Ausrichtung der Bundeswehr vor. Er trug den programmatischen Titel "Vom Einsatz her denken" und formulierte Eckpunkte, um die sich auch die aktuelle Diskussion rankt, die teilweise über den Erkenntnisstand dieser Kommission schon wieder hinaus ist: Es gelte, den Truppenumfang von 250 auf rund 180 Soldaten zu reduzieren und auch die derzeit beschäftigte zivile Mitarbeiterstruktur drastisch zu verringern; dabei soll zugleich der Umfang des militärischen Personals, das gleichzeitig in Auslandseinsätze entsandt werden kann, von 7000 auf bis zu 15.000 Einsatzkräfte erhöht werden.

Da "die Allgemeine Wehrpflicht (...) sicherheitspolitisch auf absehbare Zeit nicht mehr erforderlich" sei, seien "Musterung und Einberufung (...) auszusetzen". Dies wird seit Beginn dieses Jahres bereits umgesetzt, obwohl ein Parlamentsbeschluss zur Aussetzung der Wehrpflicht bis heute nicht vorliegt. Inoffiziell werden infolge der Strukturreformen 80 bis 100 Standortschließungen (von insgesamt rund 400 Standorten) innerhalb der nächsten sechs bis acht Jahre erwartet, mit entsprechenden sozialen und ökonomischen Konsequenzen für die davon betroffenen Kommunen.


Die Umwandlung der bisherigen Wehrpflicht-Armee Bundeswehr in eine Truppe aus Zeit- und Berufssoldaten geht mit der neu geschaffenen Möglichkeit einher, in ihr einen freiwilligen Wehrdienst mit einer Dauer zwischen 12 und 23 Monaten ableisten zu können. Solche Wehrdienstleistende können im Unterschied zu bisher auch in Auslandseinsätze entsandt werden. Die Bundeswehr hofft, bis zu 15.000 Freiwillige für diesen Dienst gewinnen zu können. Da infolge der Aussetzung der Wehrpflicht auch der Zivildienst fortfällt, sollen rund 35.000 Männer und Frauen pro Jahr einen ebenfalls freiwilligen Dienst im sozialen und gemeinnützigen Bereich ableisten können, und zwar für mindestens 6, in der Regel für 12 und höchstens für 24 Monate; diese Tätigkeit soll von Freiwilligen über 27 Jahre auch in Teilzeit erbracht werden können.

Im Einzelnen bestehen eine Reihe weiterer Restrukturierungsvorhaben (etwa hinsichtlich von Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Leitungsebene des Verteidigungsministeriums, besonders in Bezug auf die künftige Stellung des Generalinspekteurs), die hier nicht näher erörtert werden können und müssen.


Welche Konsequenzen folgen aus der beabsichtigten faktischen Abschaffung der Wehrpflicht? Kaum einen angemessenen Stellenwert nimmt in breiten Teilen der Publizistik etwa die Frage nach der Bedeutung des Wegfalls des Zivildienstes für die vielfältigen Bereiche ein, in denen Zivildienstleistende bisher in großer Zahl tätig waren. Ob es je gelingen wird, die kalkulierte Zahl von Freiwilligen für die neu zu schaffenden Dienstangebote im sozialen Bereich zu gewinnen, ist offen; selbst wenn es gelänge, entspräche diese Zahl keineswegs dem tatsächlich begründbaren Bedarf an entsprechenden Dienstleistungen.


Das Konzept der Inneren Führung ist nur noch schwer umsetzbar

Für die Bundeswehr selbst ergibt sich ein ähnliches Problem. Bereits heute rechnet der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Werner Freers, mit "großen Lücken im Personalkörper (...), die uns langjährig begleiten und nicht auszugleichen sein werden", was sogar den laufenden Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch gefährden könne. Das Papier der Weise-Kommission hatte zwar wiederholt und mit Nachdruck auf die Herausforderungen hingewiesen, die sich nach Fortfall eines großen Wehrpflichtigen-Reservoirs für die Nachwuchsgewinnung an Zeit- und Berufssoldaten stellen würden, dafür aber nur allgemein gehaltene Lösungsvorschläge unterbreitet.

Bisher vorgelegte Programme zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr für Freiwillige sind noch nicht beschlossen, vor allem ihre Finanzierung ist ungeklärt; der Bundeswehrverband kalkuliert allein den hier entstehenden Bedarf mit einer Milliarde Euro. Denn nun muss sich die Bundeswehr in Konkurrenz mit anderen Anbietern attraktiver Arbeitsplätze im zivilen Bereich um Nachwuchskräfte bemühen, was ohne erhebliche Investitionen in die Angebote, die man Interessenten machen kann, kaum erfolgsträchtig sein dürfte. Es fehlt beispielsweise an hinreichenden Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, die eine berufliche Perspektive für Zeitsoldaten nach Ausscheiden aus der Bundeswehr in Aussicht stellen, aber auch an Maßnahmen, die den Dienst selbst attraktiver machen könnten. Gewarnt wird daher vor der Gefahr einer "Negativ-Auslese" beim künftigen Personal, weil eine Tätigkeit in den Streitkräften zunehmend für Menschen anziehend sein könnte, die aus unterschiedlichen Gründen vor großen Hürden in der Konkurrenz auf dem zivilen Arbeitsmarkt stehen.


Davon unabhängig, aber die Tendenz zur deutlichen Verschlechterung der Gesamtsituation gegenüber dem bisherigen Zustand verstärkend, besteht die Gefahr, dass es zu einer wachsenden Abkoppelung der Streitkräfte, besonders in ihrem Binnenbereich, von der übrigen Gesellschaft kommt. Würde man in ihm nicht mehr einen halbwegs repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung antreffen, was durch die Wehrpflicht-Struktur erleichtert wurde, so dürfte das Interesse breiter Schichten an den Verhältnissen in der Bundeswehr, aber auch am Umgang der Politik mit ihren Soldaten, spürbar abnehmen.

Das Konzept der Inneren Führung mit ihrem Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" könnte unter diesen erschwerten Umständen nur noch mit großer Mühe umsetzbar werden. In diesem Zusammenhang warnte kürzlich Altbundeskanzler Helmut Schmidt vor erst langfristig auftretenden, aber erheblichen Folgewirkungen einer Abschaffung der Wehrpflicht, insbesondere davor, dass sich in der Armee eine "Sonder-Ideologie" herausbilden könnte, die "lebensgefährlich für unsere Demokratie" wäre. Der Hinweis auf erfolgreiche Bemühungen in der Vergangenheit, solchen Tendenzen zu wehren, kann deswegen nicht beruhigen, weil diese unter Voraussetzungen stattfanden und wirken konnten, die im Zuge der jetzigen Reformanstrengungen substanziell verändert werden. Dazu, dass die Grundsätze der Inneren Führung nicht nur auf dem Papier, sondern in der alltäglichen Realität in den Streitkräften präsent und erfahrbar bleiben, werden auch die Kirchen künftig ihren Beitrag einbringen müssen.


Über die mit der faktischen Abschaffung der Wehrpflicht zusammenhängenden personellen und strukturellen Fragen hinaus hat das bisher vorliegende Reformkonzept noch weitergehende Kritik erfahren. So merkt eine Stellungnahme aus dem Bundeskanzleramt an, es bestünden erhebliche Zweifel an Zukunftsfähigkeit und mittelfristiger Belastbarkeit der angedachten Reformschritte. Vor allem fehle es an einer überzeugenden sicherheitspolitischen Analyse, an einer angemessenen Einbeziehung zukünftig wichtiger werdender Trends auf diesem Gebiet und an klaren Zielbestimmungen für die Reform. Diese Kritik setzt also an der Umkehrung der Prioritäten an, die sich in der Rede Guttenbergs vom Mai 2010 dokumentierte. Sie fordert eine Rückbesinnung auf eine an sicherheitspolitischen Sachüberlegungen orientierte Debatte, aus der erst Aufschluss über die notwendigen Korrekturen im Bereich der Streitkräfteplanung und deren Kostenseite gewonnen werden könnte.


Dienst am internationalen Gemeinwohl

Eine Reihe von friedensethischen Desideraten gilt es in diese Debatte einzubringen, denn es ist keineswegs davon auszugehen, dass sie in ihr ohnehin Berücksichtigung finden. Vielmehr lässt sich seit einiger Zeit eine unverhohlen formulierte Rückwendung von Zielbestimmungen auch für militärisch gestützte Sicherheitspolitik zu den Interessenlagen herkömmlicher Außenpolitik eines Nationalstaates beobachten. Wiederholt wurde die Öffentlichkeit von politisch maßgeblicher Seite dazu aufgefordert, im Blick auf den Status Deutschlands als einer weltweit führenden Exportnation auch die offene Verfolgung von Wirtschaftsinteressen als einen legitimen Bestandteil der Begründung von Auslandseinsätzen zu akzeptieren. In der Perspektive des letzten Weißbuchs der Bundesregierung zu Fragen der Sicherheitspolitik aus dem Jahr 2006 erscheint dies konsequent, da sich bereits dort Beschreibungen der deutschen Interessen niederschlugen, die auf die Mehrung der Möglichkeiten zur Einflussnahme auf internationale politische Prozesse auch mit sicherheitspolitischen Instrumenten gerichtet waren (vgl. HK, Dezember 2006, 621 ff.).

Demgegenüber trat die Frage zurück, worin die Denkvoraussetzungen des konzeptionellen Bezugsrahmens bestehen, innerhalb dessen die Begründung von militärischen Einsätzen stattfindet. Gerade dieser Frage kommt jedoch in ethischer Hinsicht besondere Bedeutung zu. Einerseits ist hier Ehrlichkeit gefordert: Es wäre nicht zu rechtfertigen, würde für den Einsatz militärischer Mittel eine moralische Begründung vorgetragen, die nur verdecken soll, dass es in Wirklichkeit um andere Motivlagen geht.

Insofern ist es begrüßenswert, dass es in der letzten Zeit, angestoßen durch das Interview des vormaligen Bundespräsidenten Horst Köhler bei seiner Rückkehr aus Afghanistan, über die Frage nach den tatsächlich handlungsleitenden Motiven für solche Einsätze eine Diskussion gibt, an der die Öffentlichkeit teilhat. Andererseits wäre es nicht zu akzeptieren, wenn deren Ergebnis darin bestünde, dass in der Staatenwelt, wie sie sich real präsentiert, mehr als kluge Wahrung des Eigeninteresses nicht zu erreichen sei und weitergehende moralische Ansprüche daher ins Leere gingen, selbst wenn sie noch so überzeugende Argumente auf ihrer Seite hätten.


Stattdessen muss es darum gehen, auch und gerade friedens- und sicherheitspolitische Strategien in der Perspektive weltinnenpolitischer Verantwortungsübernahme zu verfolgen, die eigenes Handeln in einer Dienstfunktion am internationalen Gemeinwohl versteht. Die Spielräume für eine Gestaltung der Welt nach grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit, im nationalstaatlichen Rahmen wie im internationalen Raum, gilt es entsprechend zu erweitern. Ein Kristallisationspunkt hierfür ist die Frage nach den Menschenrechten und ihrem normativen Anspruch als Referenzsystem für die Verantwortbarkeit politischer Entscheidungen. Zwar lassen sich viele Entscheidungen, die in der Ziellinie der Realisierung elementarer menschenrechtlicher Standards liegen, auch von einem Standpunkt aus plausibilisieren, der lediglich die längerfristig kluge Wahrung von Partikularinteressen anderer Art im Auge hat.

Freilich besteht die entscheidende Differenz darin, was geschieht, wenn vitale Interessen eines Staates, etwa wirtschaftlicher Art, nicht auf dem Spiel stehen, er sich aber gegenüber einem drohenden oder bereits begonnenen Genozid oder anderen Formen schwerwiegender, systematischer Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat zu verhalten hat. Das Argument, bereits längerfristig kluge Interessenwahrung gebiete, dagegen einzuschreiten, kann auch dann unter günstigen Umständen noch zutreffen. Es wird aber gegenüber kurzfristigen Kalkülen anderer Art zurücktreten, wenn ihm nicht eine starke moralische Überzeugung an die Seite tritt, nach der grundlegende Prinzipien einer internationalen Ordnung, in deren Zentrum der Schutz von Menschen gegen Angriffe auf den Kern ihrer Menschenwürde und Menschenrechte stehen, durchzusetzen sind, wo immer dies tatsächlich möglich ist.


Auslandseinsätze auf ethisch zu rechtfertigendem Fundament

Eine wichtige Aufgabe, die vor allem von der Zivilgesellschaft in Erinnerung gerufen werden kann und muss, ist es daher, gerade im Hinblick auf Einsätze von Streitkräften im Ausland danach zu fragen, ob sie auf einem ethisch rechtfertigungsfähigen Fundament stehen. Hierbei geht es nicht nur darum, ob in ihrer Durchführung die Grundsätze des humanitären Rechts und die verschiedenen Prinzipien eines Handelns gewahrt werden, das hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, sondern dem voraus um die Frage, welche Intention solche Einsätze eigentlich trägt. Sie treibt auch viele moralisch sensible Soldaten um und beschäftigt sie mehr als die vielen Einzelprobleme, die sich in solchen Einsätzen stellen und ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Immerhin ist es ihr Leben beziehungsweise das ihrer Kameraden und darüber hinaus unzähliger anderer Menschen, was in dieser Situation auf dem Spiel steht. Sie lehnen es ab, dieses Leben wegen Zielsetzungen zu riskieren, die einen solchen Preis nicht zu rechtfertigen vermögen, während sie andererseits gegenüber Situationen, in denen zu handeln wäre, das Nichthandeln der Politik erleben. Nicht wenige hadern mit dem faktischen Nichthandeln, weil viel zu späten Eingreifen der Staatengemeinschaft beim Genozid in Ruanda 1994, aber auch etwa mit der weitgehenden Hinnahme der Ereignisse im Darfur, die bis heute Hunderttausende Menschenleben gefordert haben.


Ein Kriterium dafür, wie weit eine sicherheitspolitische Analyse die Grundlage einer möglicherweise zu revidierenden Bundeswehrreform sein kann, auch friedensethisch akzeptabel erscheint, ist das Gewicht, das dem breiten Spektrum an nichtmilitärischen Handlungsmöglichkeiten bei der Bewältigung von Konfliktsituationen zugemessen wird. Werden sie seitens der Politik tatsächlich systematisch genutzt und ausgeschöpft? Die Bedeutung dieser Form der Gewalt vermeidenden Konfliktbearbeitung ergibt sich nicht nur aus einer ethischen Überlegung hinsichtlich der Folgen jeglicher organisierter Gewaltanwendung, auch derjenigen, die sehr ernsthafte Gründe für sich geltend machen können.

Hinzu kommt die nutzentheoretische Überlegung, dass die Anforderungen und Kosten präventiver Politik meist deutlich hinter dem Umfang an Verpflichtungen zurückbleiben dürften, der infolge eines militärischen Eingreifens zu erwarten stünde. Dazu ist es erforderlich, die Mittel und Methoden der Frühwarnung vor sich zuspitzenden Konfliktsituationen zu verbessern, vor allem die Strukturen des politischen Entscheidungsapparats daraufhin zu verändern, dass eine zeitgerechte Reaktion auf entsprechende Warnungen möglich wird. Hier besteht überdies eine direkte Verbindung zur komplexen Aufgabenstellung der Konfliktnachsorge, denn sie zu vernachlässigen, womöglich über lange Zeit, kann die Krisensituationen erst heraufbeschwören, auf die dann mit dem Instrumentarium von "early warning" und "early action" zu reagieren ist.

Auch zu einer solchen Umsteuerung vieler herkömmlicher Mechanismen, mit denen im politischen Alltag oft erst viel zu spät Krisenbewältigung versucht wird, kann die Zivilgesellschaft erheblich beitragen, vor allem durch ihr Insistieren auf der überragenden Bedeutung dieser Aufgabenstellung. Öffentliche Aufmerksamkeit für die Dynamiken, die Konflikte antreiben und ab einem bestimmten Intensitätsgrad leicht unbeherrschbar werden können, schafft eine kollektive Erwartungshaltung an Entscheidungsträger, deutlich unterhalb dieser Risikoschwelle entschlossen tätig zu werden, um solche Eskalationsprozesse zu verhindern.


"Responsibility to Protect"

Will Deutschland bei der Neuausrichtung der Bundeswehr für sich in Anspruch nehmen können, einer Analyse zu folgen, die die zentralen friedenspolitischen und -ethischen Fragestellungen angemessen berücksichtigt, so wird es zudem notwendig sein, nach dem Stellenwert des Konzepts einer internationalen Schutzverpflichtung in diesem Zusammenhang zu fragen. Zu einer solchen "Responsibility to Protect" (R2P) bekannte sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2005. Sie folgt dem Grundsatz, dass Menschen nicht schutzlos schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgeliefert sein dürfen, auch dann nicht, wenn der Staat, dessen Bürger sie sind, diesen Schutz nicht garantieren kann oder es gar nicht will.


Für diesen Fall entsteht vielmehr eine subsidiäre Pflicht für die Staatengemeinschaft, den notwendigen Schutz gegen solche Formen von Gewalt bereitzustellen, erforderlichenfalls auch durch bewaffnetes Eingreifen. Wie bei jeder menschenrechtlichen Begründung eines möglichen Streitkräfteeinsatzes besteht zwar ein nicht unerhebliches Risiko, dass man sich missbräuchlich auf diese Schutzpflicht beruft, um außermoralische Motivationen für den Einsatz zu verdecken; diese Gefahr muss ernst genommen werden. Dennoch reagiert die Proklamation einer solchen Pflicht auf eine tatsächlich gegebene politische Problematik von großer ethischer Tragweite.


Die gegenwärtige Debatte muss deswegen der Versuchung widerstehen, ihre Bedeutung rhetorisch zu verkleinern, um den Konsequenzen für die eigene sicherheitspolitische Positionsbestimmung zu entgehen, die sich daraus ergeben können. Angesichts der in mancher Hinsicht prekären Entwicklung des Afghanistan-Engagements fällt dies zweifellos nicht leicht. Es liefe aber auf eine Flucht vor der Verantwortung hinaus, würden sich "Bündnisfähigkeit" und "Bündnissolidarität", auf die in der Diskussion immer wieder rekurriert wird, von dieser zentralen Dimension internationaler Friedenssicherung de facto dispensieren.


Vor dem Hintergrund solcher und ähnlich grundsätzlicher Anfragen von vielen Seiten an die konzeptionellen Ausgangspositionen, die der Bundeswehrreform zu grunde liegen, bietet der Wechsel im Amt des Verteidigungsministers Gelegenheit und Anlass zugleich, über die wesentlichen Reformschritte nochmals nachzudenken. Denn manche Konsequenzen zeichnen sich ab, die in hohem Maße unerwünscht sind, aber unter den gewählten Rahmensetzungen für die Neuausplanung auch unvermeidlich scheinen. Die Suche nach tragfähigeren Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen bleibt daher wünschenswert, ja erweist sich in vielerlei Hinsicht als notwendig.


Thomas Hoppe (geb. 1956) ist Professor für Katholische Sozialethik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax, der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben und der Arbeitsgruppe Europa der Deutschen Bischofskonferenz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 4, April 2011, S. 188-192
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2011