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PARTEIEN/116: Piraten und Possenreißer statt Politiker und Populisten (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Piraten und Possenreißer statt Politiker und Populisten
Eine Analyse der Anti-Establishment- und Anti-Parteienbewegungen in Europa

von Carsten Koschmieder, September 2012



Inhalt

1. Einleitung

2. Die europäischen Piratenparteien
    2.1 Die Entstehungshintergründe der europäischen Piratenparteien.
    2.2 Das gemeinsame Programm der europäischen Piratenparteien.
    2.3 Die Unterschiede in den Programmen der europäischen Piratenparteien
    2.4 Die Verortung der europäischen Piratenparteien im Parteienspektrum
    2.5 Die europäischen Piratenparteien als Demokratisierer und Anti-Parteien-Partei?
    2.6 Neue Parteienfamilie oder Teil eines größeren Phänomens?

3. Analyse der Erfolge einzelner Parteien
    3.1 Schweden
    3.2 Deutschland
    3.3 Island
    3.4 Italien
    3.5 Polen
    3.6 Erfolglose Piratenparteien

4. Europäische Zusammenarbeit

5. Fazit und Handlungsempfehlungen

Literatur

• Der momentane Erfolg der deutschen Piratenpartei liegt weniger in ihren Kernthemen Internetpolitik oder Urheberrechtsreform begründet als in der Wahrnehmung der Partei als »Anti-Parteien-Partei«. Dabei spielt der unkonventionelle, antipolitische Habitus ihrer Vertreter eine genauso wichtige Rolle wie der Eigenanspruch, für mehr Demokratie und mehr Transparenz sorgen zu können.

• Als Beleg dafür, dass es sich beim Erfolg der deutschen Piratenpartei um ein europäisches Phänomen handelt, wird häufig die schwedische Piratpartiet herangezogen. Ihr Erfolg aber beruhte tatsächlich auf einer intensiven öffentlichen Debatte über die Themen Urheberrecht und Vorratsdatenspeicherung. Die meisten der Entwicklungen, die den Erfolg der deutschen Piratenpartei begünstigten, werden hingegen von der schwedischen abgelehnt.

• Dennoch gibt es in verschiedenen europäischen Ländern Parteien, die gerade jüngere Wähler mit Anti-Parteien-Rhetorik begeistern, ohne dabei klar rechts- oder linkspopulistisch zu sein. Bei Wahlen erfolgreiche Beispiele sind hier die Bewegung von Beppe Grillo in Italien oder die Partei des Komikers Jón Gnarr in Island.

• Den Erfolg dieser Parteien begünstigt stets ein fundamental erschüttertes Vertrauen der Bürger in die etablierten Parteien und Politiker, sei es durch massive Korruptionsskandale, sei es durch die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Landes. Als Alternative gelten dann Parteien, die sich durch ihre Strukturen und ihr Auftreten deutlich von den etablierten Parteien abgrenzen, und deren Kandidaten eben keine klassischen Politiker sind.

*

1. Einleitung

In vielen arabischen Ländern ist es in den letzten Monaten vor allem die Jugend gewesen, die für (mehr) Demokratie auf die Straße gegangen ist und teilweise sogar dafür gekämpft hat. In den meisten Ländern Europas ist die Forderung nach mehr Demokratie weniger gefährlich und kann innerhalb des politischen Systems artikuliert werden, beispielsweise mit der Gründung einer neuen Partei, die sich für mehr (direkte) Demokratie einsetzt und das System zu reformieren verspricht. Aufgrund der Vielzahl solcher Parteien, die in Europa derzeit vor allem von jungen Wählern nach vorne gebracht werden, sprechen manche Beobachter schon von einem »Europäischen Frühling«.(1)

In diesem Zusammenhang wird gerade in Deutschland immer wieder die Piratenpartei genannt, deren junge Aktivisten eine stärkere direktdemokratische Beteiligung des Einzelnen fordern. Dabei kommen die Piraten bewusst nicht als (Berufs-)Politiker daher, sondern geben sich geradezu als Anti-Politiker und distanzieren sich durch Kleidung, Sprache und Auftreten so weit wie möglich von den Vertretern der etablierten Parteien. Bei der Piratenpartei handelt es sich nicht um ein auf Deutschland beschränktes Phänomen, sondern um eine internationale Bewegung: In vielen europäischen Ländern gibt es mittlerweile Piratenparteien. Mit einem ähnlichen Erfolgsrezept, wie es die Piratenparteien haben, schneiden auch andere Parteien bei Wahlen gut ab, so beispielsweise die Partei von Jón Gnarr in Island oder die Bewegung von Beppe Grillo in Italien.

Dieser Artikel geht den Fragen nach, wie diese Parteien im Einzelnen charakterisiert werden können und welche die Bedingungen für ihren Erfolg darstellen. Aufgrund ihrer Bedeutung für den deutschen Diskurs werden dabei die Piratenparteien den Ausgangspunkt bilden.

Dazu wird zunächst der Entstehungshintergrund der Piratenparteien erläutert (Kapitel 2.1) und anschließend das gemeinsame Programm der europäischen Piratenparteien dargestellt (Kapitel 2.2). Dabei werden sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern überblicksartig präsentiert (Kapitel 2.3), damit die Parteien dann im politischen Spektrum verortet werden können (Kapitel 2.4). Anschließend wird untersucht, inwieweit die Piratenparteien sich für eine Stärkung des demokratischen Prozesses einsetzen (Kapitel 2.5), bevor die Frage diskutiert wird, ob sie damit Teil eines größeren europäischen Phänomens sind (Kapitel 2.6). Im Hauptteil soll dann anhand einzelner Beispiele analysiert werden, wie sich der Erfolg von einzelnen Piratenparteien oder ähnlichen Bewegungen erklären lässt (Kapitel 3). Schließlich wird noch die Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien auf europäischer Ebene dargelegt (Kapitel 4), bevor ein abschließendes Fazit (Kapitel 5) gezogen wird.


2. Die europäischen Piratenparteien
2.1 Die Entstehungshintergründe der europäischen Piratenparteien

Die erste Piratenpartei wurde im Jahr 2006 in Schweden als Folge der digitalen Revolution gegründet. Durch die massenhafte Verbreitung von Internetanschlüssen wuchs der digitale Austausch - vor allem von Musikdateien - stark an und wurde für die entsprechenden Rechteinhaber zu einem (nicht nur finanziellen) Problem, gegen das diese weltweit juristisch vorzugehen versuchten. Insbesondere Schweden - mit seiner überdurchschnittlich hohen Verbreitung leistungsfähiger Anschlüsse - stand dabei im Fokus. Hier schlossen sich 2003 Unterstützer des sogenannten »Filesharings« in einer Organisation namens Piratbyrån zusammen, aus der ein Jahr später die Webseite The Pirate Bay hervorging. Über diese können Internetnutzer miteinander in Kontakt treten, um Dateien zu tauschen; obwohl dort überwiegend urheberrechtlich geschütztes Material getauscht wird, machen sich die Betreiber der Webseite jedoch nur schwer angreifbar, da sie lediglich den Kontakt vermitteln, selbst aber keine Dateien verschicken oder hosten. Während vor allem junge Menschen das illegale Tauschen von Musik als Selbstverständlichkeit und keinesfalls als Gesetzesverstoß ansahen, versuchte die Politik weltweit vergeblich, diesem neuen Phänomen Herr zu werden. In Schweden beschloss das Parlament im Mai 2005 eine Verschärfung des Urheberrechts, im Dezember desselben Jahres verabschiedete das Europäische Parlament eine EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, welche die anlasslose Speicherung von personenbezogenen Telekommunikationsdaten in den Staaten der EU vereinheitlichen sollte.

Um gegen den gewachsenen Druck die Interessen derer, die illegal Dateien tauschen wollten oder sich um ein »freies« Internet sorgten, politisch vertreten zu können, gründete sich im Januar 2006 die schwedische Piratpartiet. Ihr erster Vorsitzender wurde Rickard Falkvinge, der bis heute als einer der prominentesten Vertreter dieser Bewegung gilt. Bereits im Februar 2006 konnte die Partei die benötigten Unterschriften beibringen, um bei der Reichstagswahl im Herbst antreten zu dürfen. Aufgrund der hohen Medienaufmerksamkeit für das Thema Urheberrecht und der rasch wachsenden Mitgliederzahl machte sich die Piratenpartei Hoffnung, die Vierprozenthürde zu bewältigen und in den Reichstag einzuziehen. Letztlich kam sie aber mit enttäuschenden 0,6 Prozent nicht einmal in den Genuss der staatlichen Parteienfinanzierung, auch, weil sich ihre Konkurrentinnen im Wahlkampf kompromissbereit zeigten und bei jenen Themen, die den potenziellen Wählern der Piratenpartei wichtig waren, Zugeständnisse machten. Nach der Wahl ging die Mitgliederzahl bald wieder von 10.000 auf 5.000 zurück, und auch aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand die Piratpartiet zunächst wieder. Dennoch bewirkte sie auch in vielen anderen Ländern Europas noch im selben Jahr die Gründung weiterer Piratenparteien; so zum Beispiel in Frankreich, Österreich, Deutschland, Italien und Spanien.

Über das Internet vernetzten sich nicht nur junge Menschen weltweit, sondern auch das (illegale) Tauschen von Dateien war plötzlich nicht mehr regional begrenzt, sodass das zentrale Thema, welchem die Piratenpartei eine Stimme gab, in vielen Ländern Menschen beschäftigte. Da die neu gegründete Partei vor allem das Netz als Kommunikationsmedium nutzte, konnten Interessierte überall auf der Welt die Entwicklungen in Schweden »live« verfolgen. Wegen und mithilfe des Internets entstand so eine internationale politische Bewegung mit gemeinsamen Zielen gleichzeitig in zahlreichen Ländern. In einer bei einer neuen Partei so noch nicht da gewesenen Weise stimmten sich die Piratenparteien miteinander ab und entwickelten gemeinsam programmatische Grundsätze. Im Juni 2008 wurde auf der 3. Internationalen Piratenkonferenz in Uppsala eine Erklärung verabschiedet, in der die gemeinsamen Kernforderungen der Piratenparteien für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 aufgestellt wurden.


2.2 Das gemeinsame Programm der europäischen Piratenparteien

Das gemeinsame Programm der europäischen Piratenparteien zur Europawahl 2009 enthält die drei großen Bereiche Urheberrecht, Patente und Bürgerrechte. Anders als teilweise in den Medien kolportiert, fordern die Piraten keine Abschaffung des Urheberrechts; sie möchten es lediglich auf gewerbliche Zwecke beschränken und somit die sogenannte »Privatkopie« legalisieren. Das beträfe auch das Tauschen von bislang urheberrechtlich geschütztem Material mit »Freunden« (und somit de facto jedem) im Internet und damit die Legalisierung dessen, weswegen sich die Parteien ursprünglich gegründet haben. Auch soll das Urheberrecht wesentlich kürzer als bisher Werke schützen, wobei die genaue Ausformulierung der Dauer dieses Schutzes den einzelnen Piratenparteien überlassen wird und die sogenannte Uppsala-Erklärung hier nur einen Rahmen setzt. Die deutsche Piratenpartei beispielsweise fordert, Werke grundsätzlich zehn Jahre nach dem Tode ihres Urhebers gemeinfrei werden zu lassen. Ein weiterer gemeinsamer Punkt der europäischen Piratenparteien ist die Abschaffung der Pauschalabgabe, die derzeit beim Kauf von Druckern, CD-Rohlingen, Scannern und so weiter in den meisten europäischen Ländern fällig und an die potenziellen Urheber verteilt wird. Die Bearbeitung von urheberrechtlich geschütztem Material wollen die Piraten grundsätzlich erlauben.

Auch Patenten gegenüber sind die europäischen Piratenparteien kritisch eingestellt, da diese in vielen Bereichen Innovationen und wirtschaftlichen Fortschritt behindern würden. Auf Saatgut oder DNA sollen Patente ebenso wenig möglich sein wie auf Software. Auch bei Medikamenten werden beispielsweise die Folgen von Patenten (nicht nur) für Entwicklungsländer kritisiert; hier wird allerdings keine Abschaffung gefordert, sondern eine Überprüfung, ob und wie man ohne diese Patente die Forschungen auf diesem Gebiet finanzieren könnte.

Das dritte Thema der Uppsala-Erklärung ist die Forderung nach einer Stärkung der Bürgerrechte. Dabei geht es vor allem um Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe: Das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit sollen gestärkt und auf das Internet übertragen werden, in welchem sich die Bürger anonym und ohne staatliche Überwachung »versammeln« können müssten. Staatliches Handeln müsse stets transparent und Gerichtsverfahren schnell und fair sein. Bemerkenswerterweise wird hier auch die positive Rolle der EU bei der Durchsetzung der Bürgerrechte in den einzelnen Mitgliedstaaten hervorgehoben.

An diesen Punkten erkennt man sehr deutlich die Herkunft und damit den gemeinsamen inhaltlichen Kern aller Piratenparteien: Gegründet in der Auseinandersetzung um die Verfolgung von »Filesharern« beziehen sich die meisten Forderungen explizit oder implizit auf deren Interessen.


2.3 Die Unterschiede in den Programmen der europäischen Piratenparteien

Diese gemeinsame Erklärung für die Wahl zum Europäischen Parlament reicht natürlich nicht aus, um die Programmatik der Piratenparteien zu erfassen. Nicht nur, weil das Dokument bereits fast vier Jahre alt ist - ein gemeinsames Programm zur nächsten Wahl des Europäischen Parlaments 2014 ist zwar angekündigt, aber noch nicht erarbeitet -, sondern auch, weil sich die einzelnen Parteien doch unterschiedlicher darstellen, als sich das nach den bisherigen Ausführungen vermuten ließe. Natürlich können hier nicht alle unterschiedlichen Parteiprogramme vorgestellt werden, einige Entwicklungen sind jedoch wichtig für die weiteren Erörterungen.

Es existiert eine wichtige Debatte unter den europäischen Piratenparteien zu der Frage, ob sich die Parteien auf ihre Kernthemen konzentrieren oder sich thematisch breiter aufstellen sollten. Die Frage ist dabei nicht so sehr, welche Position die Piratenparteien zu Themen zum Beispiel der Außen- oder Wirtschaftspolitik einnehmen (dass über die Kernthemen hinaus ein inhaltlicher Konsens erzielt werden könnte, gilt als unwahrscheinlich), sondern, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich diesbezüglich zu positionieren. Zunächst handelte es sich bei den neu gegründeten Parteien durchgängig um sogenannte Single-Issue-Parteien, was sich im Laufe der Zeit aber teilweise verändert hat. In der Piratenpartei Deutschland beispielsweise haben sich die »Vollis« spätestens auf dem Chemnitzer Parteitag im November 2010 gegen die »Kernis« durchgesetzt (Laaff 2010). Das Parteiprogramm der deutschen Piraten beinhaltet die Forderungen nach stärkerem Umweltschutz und ressourcenschonendem Wirtschaften, mehr Migration und mehr Rechten für Migranten sowie Positionen zu einer progressiven Familienpolitik, welche das »klassische« Familienbild ablehnt. Ebenso wie bei den deutschen Piraten finden sich auch im Programm der finnischen Piraattipuolue detaillierte Positionen zu Veränderungen der Bildungspolitik und darüber hinaus die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Daneben tritt die finnische Piratenpartei für ein einfacheres Steuersystem, Bürokratieabbau und die Abschaffung der Sommerzeit in Europa ein. Auch die tschechische Ceská pirátská strana möchte das Steuersystem reformieren, sie macht Vorschläge für ein besseres Gesundheitswesen und fordert die kontrollierte Freigabe bestimmter Drogen, nicht zuletzt, um so die Steuereinnahmen zu erhöhen. Die Freigabe sogenannter »weicher« Drogen fordert schließlich auch die Piratenpartei Österreich, welche sich auch für weltweite militärische Abrüstung ausspricht und gewaltsame Konfliktlösungen ablehnt.

Diese Schlaglichter auf unterschiedlichste Themen, die von verschiedenen europäischen Piratenparteien in ihren jeweiligen Programmen aufgenommen werden, sollen diese Parteien noch nicht im Parteienspektrum verorten, sondern zunächst verdeutlichen, dass sie sich keineswegs nur auf Internetthemen oder Bürgerrechte beschränken. Das gilt aber nicht für alle: Die Pirate Party in Belgien (um sich nicht im belgischen Sprachenstreit zu positionieren, nutzt sie offiziell die englische Bezeichnung oder verbindet die Namen in beiden Sprachen zu Parti Piratenpartij) beschränkt sich auf die ursprünglichen Kernthemen; ebenso die spanische Partido Pirata, welche in ihrem Programm sogar explizit erklärt, dass sich die (derzeit nicht vorhandenen) Abgeordneten bei allen Themen außerhalb ihres Kernbereichs bei Abstimmungen in Parlamenten enthalten würden. Ähnlich sieht das die dänische Piratpartiet, die auch deswegen keine weiteren Themen vertreten möchte, weil sie davon ausgeht, dass sich die Mitglieder nicht auf einen programmatischen Konsens abseits der wenigen Kernthemen einigen könnten. Die britische Pirate Party schließlich hat ein detailliertes Programm zu den Themen Urheberrecht, Patenten und Bürgerrechten, will sich aber zu anderen Themen nicht nur in keiner Weise äußern, sondern betont explizit, dass die gerade von vielen Neumitgliedern gemachten Vorschläge, welche Positionen die Partei noch vertreten sollte, zwar interessant seien, die Pirate Party aber ausschließlich bei ihren Kernthemen bleiben wolle.

Diese kurze Übersicht verdeutlicht, wie schwierig es ist, das Programm der europäischen Piratenparteien über die vorgestellten Kernthemen hinaus auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Erstens sind die Programme der verschiedenen Parteien sehr divers und teilweise sogar konträr, zweitens haben sich einige Piratenparteien dafür entschieden, über die Kernthemen hinaus überhaupt keine Positionen zu beziehen. Drittens schließlich weisen auch die Programme der Parteien, die sich für ein sogenanntes Vollprogramm entschieden haben, in vielen Themengebieten noch große Lücken auf. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen soll im nächsten Abschnitt versucht werden, die europäischen Piratenparteien grob zu verorten.


2.4 Die Verortung der europäischen Piratenparteien im Parteienspektrum

Zur Verortung der europäischen Piratenparteien im Parteienspektrum soll hier nicht das klassische (und in der Politikwissenschaft nicht erst seit den Piraten überholte) Links-Rechts-Schema, sondern ein zweidimensionales Koordinatensystem genutzt werden.

Auf der Konfliktlinie zwischen Marktfreiheit und sozialer Gerechtigkeit lassen sich die Piratenparteien eher in Richtung sozialer Gerechtigkeit verorten. Die Reform des Urheberrechts geht immer wieder auch einher mit der Ablehnung der Rechteinhaber oder Verwertungsgesellschaften, denen Profitinteressen unterstellt werden, verbunden mit der Aussage, es sei richtig, wenn diese in Zukunft weniger Gewinn machten. Auch die geforderte kostenlose Bereitstellung verschiedenster Güter (von wissenschaftlicher Literatur über Software und deren Quellcodes bis hin zu öffentlichem Personennahverkehr) sowie das von einigen Piratenparteien angedachte bedingungslose Grundeinkommen gehen eindeutig in diese Richtung. Hinzu kommen die im Kernprogramm geäußerte Kritik an Pharmaunternehmen und deren Profitinteressen, und der damit verbundene Wunsch, in deren wirtschaftliches Handeln regulierend einzugreifen. Schließlich ist auch die in vielen Programmen angemahnte bessere - und vor allem für alle kostenlose - öffentliche Bildung und die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialen für alle Schüler ein Indiz dafür, die Piratenparteien letztlich eher auf der Seite der sozialen Gerechtigkeit zu verorten. Für eine Verortung auf der Seite der Marktfreiheit spräche vor allem das in verschiedensten Punkten immer wieder durchkommende Misstrauen gegenüber dem Staat, der sich aus vielem heraushalten solle; das ist aber weniger dem Wunsch nach mehr Marktfreiheit geschuldet, vielmehr scheint es eine Folge des noch unfertigen Programms zu sein, sodass dieser Punkt nicht allzu stark ins Gewicht fällt. Erwähnt werden sollte aber, dass die meisten dieser Punkte nicht in den inhaltlichen Kernbereich der Piraten fallen und daher innerhalb der jeweiligen Parteien umstritten sind. In Deutschland beispielsweise ist der interne Widerstand gegen das bedingungslose Grundeinkommen beträchtlich.

Auf der Achse zwischen Libertarismus und Autoritarismus besetzen die Piratenparteien ganz klar den libertären Pol; mittlerweile werden sie auch schon als neue Polparteien gehandelt. Zu dieser Einschätzung trägt vor allem ihr Fokus auf Bürger- und Individualrechte bei. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, strikte Ablehnung staatlicher Überwachung oder der Vorratsdatenspeicherung sind zentrale Punkte in allen Parteiprogrammen. Zensur wird nicht nur im Internet grundsätzlich abgelehnt und auch die Forderung nach besserem Datenschutz findet sich bei allen Piratenparteien. In der Uppsala-Erklärung werden zudem schnelle und faire Gerichtsverfahren und der Schutz vor staatlicher Willkür angemahnt. Auch Forderungen wie die Legalisierung »weicher« Drogen, die stärkere Trennung von Staat und Kirche oder die Gleichstellung aller Arten von Lebensentwürfen, beispielsweise gleichgeschlechtlicher Paare, oder die Aufhebung des bipolaren Geschlechterbildes rechtfertigen die Einordnung der Piratenparteien am libertären Pol.


2.5 Die europäischen Piratenparteien als Demokratisierer und Anti-Parteien-Partei?

Eine weitere spannende Frage zur programmatischen Verortung der Piratenparteien ist deren Auffassung vom demokratischen Prozess, sowohl auf der Ebene des Staates als auch innerparteilich. Im Fokus der deutschen Öffentlichkeit (und vor allem der deutschen Wähler, siehe unten) steht bei der Piratenpartei meist weniger ihre inhaltliche Ausrichtung zu den Themen Urheberrecht oder Datenschutz, sondern mehr der Anschein, sie würden eine offenere, transparentere und basisdemokratischere Art von Demokratie fordern und praktizieren. Dazu gehört, dass Parteitage für alle offene Mitgliederversammlungen sind, auf der jeder Rede- und Antragsrecht hat, dass Vorstandssitzungen in der Regel öffentlich stattfinden, und von gewählten Vertretern erwartet wird, dass sie ihre eigene Meinung in öffentlichen Äußerungen stets hinter die der Partei zurückstellen. Auch die nicht nur von den Piraten als Fraktionszwang missverstandene Fraktionsdisziplin lehnen sie ab. Am wichtigsten aber ist das sogenannte »Liquid-Feedback«, mit dem jedes angemeldete Parteimitglied über alle wichtigen inhaltlichen Fragen diskutieren oder abstimmen kann. Wer sich für ein Thema nicht interessiert, kann seine Stimme an jemanden delegieren, der dann mit mehr Stimmgewicht abstimmen - oder seine Stimmen weiterdelegieren - kann. Eine Abstimmung kann jeder Nutzer vorschlagen, diskutiert wird sie, sofern er für das Thema genug Unterstützer findet. Dabei sind die Abstimmungen geheim, es herrscht keine Klarnamenpflicht, bei der Anmeldung soll jedoch sichergestellt werden, dass jedes Mitglied lediglich einen Account besitzt. Die Verbindlichkeit der mittels »Liquid-Feedback« getroffenen Entscheidungen ist umstritten und die tatsächliche Beteiligung an dem Verfahren sehr gering, die Ergebnisse besitzen jedoch in jedem Fall innerhalb der Partei eine hohe Legitimität, weswegen Abweichungen von derart getroffenen Entscheidungen besonders gut begründet sein müssen.

Dieser oft etwas chaotische, aber klar partizipatorische Ansatz bringt der deutschen Piratenpartei viel Sympathie ein. Ähnlich lautende Forderungen für das gesamte politische System in Deutschland bis hin zur Abschaffung von Parteien und Parlament zugunsten einer permanenten Volksabstimmung über das Internet als Fernziel haben der Partei den Ruf eingebracht, für eine sehr grundlegende Verbesserung der Demokratie in Deutschland - und vor allem für mehr Bürgerbeteiligung - einzutreten. Verbunden wird diese Haltung der Piratenpartei mit der populistischen Argumentation, sie vertrete das Volk, bei ihr seien normale Leute organisiert, während alle anderen Parteien und deren abgehobenen Politiker sich vom Volk abgewandt hätten. Oft charakterisiert sich die Partei selbst als »Bewegung« und gibt sich als »Anti-Parteien-Partei«, die nicht mehr in das überholte Schema von rechts oder links passe, weil sie Ideologien ablehne. Dazu passt auch der Habitus ihrer Repräsentanten, die sich beispielsweise im Fernsehen oder im Parlament auffallend anders kleiden oder in Interviews betonen, keine Politiker geworden zu sein. Schließlich trägt auch die Art, wie sie zuweilen mit ihrer Unwissenheit kokettieren, zu diesem Image bei: Sie hätten eben nicht auf alles eine Antwort, weil sie keine Politiker seien, und im Gegensatz zu diesen sagten sie wenigstens ehrlich, wenn sie etwas nicht wüssten. Es stellt sich nun aber die Frage, ob innerparteiliche Partizipation, die Forderung nach Demokratisierung, die Aversion gegenüber Parteien und der Habitus des Anti-Politikers nur der deutschen Piratenpartei eigen sind, oder ob es sich dabei um ein Charakteristikum aller europäischen Piratenparteien handelt.

Wie schon angedeutet, beschränkt sich eine Reihe von Piratenparteien auf die ursprünglichen Kernforderungen. Die schwedische Piratpartiet möchte sich zur Frage der Demokratisierung ebenso wenig äußern wie die dänische Piratpartiet oder die spanische Partido Pirata. Andererseits fordern die tschechische Ceská pirátská strana, die französische Parti Pirate oder die griechische Komma Piraton Elladas ebenso eine stärkere Bürgerbeteiligung durch mehr direkte Demokratie (online und offline) wie die österreichische Piratenpartei. Auch das »Liquid-Feedback«-Tool wird nicht in allen europäischen Piratenparteien genutzt: Während die schwedische Piratpartiet, die niederländische Piratenpartij Nederland und die spanische Partido Pirata es nicht einsetzen, findet es hingegen in der belgischen Pirate Party und der österreichischen Piratenpartei Verwendung. Die Piratenpartei Schweiz verwendet zwar die Software nicht, aber auch dort werden sogenannte Urabstimmungen durchgeführt. Auch die Anti-Parteien-Rhetorik oder der Anti-Politiker-Habitus finden sich, gleichwohl nicht überall, in einigen europäischen Piratenparteien: So bezeichnen sich die österreichischen Piraten als »einfache Bürger«, die »die heutige Politik nicht mehr verstehen«.(2) Auch die englische Pirate Party charakterisiert sich selbst als eine »neue Art« politischer Partei, die »weder links noch rechts«(3) sei und zugäbe, nicht immer alle Antworten zu kennen, dafür aber den Bürgern zuhören würde.

Nicht nur beim letztgenannten Punkt wird deutlich, dass es zwischen den einzelnen Piratenparteien gravierende Unterschiede gibt. Allerdings ist dieser Aspekt für die Fragestellung des Artikels besonders relevant: Während ein Teil der Piratenparteien also mit dem Habitus einer Anti-Parteien-Partei für mehr (direkte) Demokratie kämpft und diese auch innerparteilich praktiziert, ist das Thema für den anderen Teil der Piratenparteien überhaupt nicht von Bedeutung. Die deutsche Piratenpartei gilt hier als Vertreterin der ersten Gruppe, während die schwedische beispielhaft für die zweite steht. Beide werden hier als Idealtypus verwendet, weil sie die elektoral erfolgreichsten Piratenparteien sind. Wenn im nächsten Kapitel der Frage nachgegangen wird, ob die Piratenpartei Teil eines neuen, europaweiten Phänomens ist, muss diese Unterteilung stets im Hinterkopf behalten werden.


2.6 Neue Parteienfamilie oder Teil eines größeren Phänomens?

Zur Einteilung verschiedener Parteien in Parteienfamilien gibt es in der Politikwissenschaft eine ganze Reihe von Konzepten. Man kann Parteien beispielsweise nach ihren Wählern oder ihren Mitgliedern einteilen. Die Piratenparteien könnte man so als eine Partei der jungen Generation verstehen. Eine andere Möglichkeit ist die Einteilung nach der innerparteilichen Organisation; die Piratenparteien könnten dann beispielsweise als internetbasierte Parteien klassifiziert werden. Ebenso interessant ist die Einteilung von Parteien nach ihrer ideologischen Ausrichtung. Die Piratenparteien wären dann Mitglieder der liberalen Parteienfamilie, die deutsche Variante der Piratenparteien könnte auch in die radikaldemokratische Parteienfamilie eingeordnet werden. Möglicherweise handelt es sich bei den Piratenparteien aber auch um einen völlig neuen Parteientyp, was nicht zuletzt der Selbstwahrnehmung der Piraten entsprechen würde. Diese Debatte hat in der Politikwissenschaft gerade erst begonnen, und sie ist schon deshalb noch nicht abgeschlossen, weil noch völlig unklar ist, wohin sich die Mehrheit der Piratenparteien entwickeln wird.(4)

Die Frage nach der Parteienfamilie der Piratenparteien soll hier nicht beantwortet werden. Interessanter ist der Versuch, die Piraten als Teil eines größeren Phänomens zu untersuchen, denn in einigen europäischen Ländern gibt es derzeit Parteien, die mit ähnlichen Erfolgsrezepten wie die Piratenparteien ähnliche Wählergruppen ansprechen können und damit bei professionellen Beobachtern stets die gleiche Verwunderung auslösen. Bevor diese Gruppierungen im nächsten Kapitel detailliert vorgestellt werden, soll die Frage beantwortet werden: Was ist das Gemeinsame, das Verbindende dieser Bewegungen?

Zunächst eint die hier vorgestellten Parteien, dass sie »jung« sind, in vielerlei Hinsicht. Erstens sind ihre Wähler überdurchschnittlich jung, zweitens ihre Mitglieder, drittens ihre Funktionäre. Viertens sind auch die Parteieliten politisch jung, unerfahren und häufig bislang nicht an Politik interessiert gewesen. Fünftens schließlich sind auch die Parteien selbst jung und somit neu auf der politischen Bühne. Daraus ergeben sich viele weitere Gemeinsamkeiten: Da die Parteien neu sind, verfügen sie weder über viele Ressourcen noch über etablierte Strukturen. Beides macht es fast zwingend notwendig, dass sich sowohl die innerparteiliche als auch die auf die Öffentlichkeit zielende Kommunikation hauptsächlich im Internet abspielt, was wiederum der Jugend der Anhänger und Mitglieder entspricht. Das Internet nimmt auch im Parteiprogramm einen wichtigen Stellenwert ein, freier Zugang und möglichst wenig Kontrolle gehören zu dessen Schwerpunkten. Insbesondere den jungen Leuten sind viele Rituale der etablierten Politik fremd, von denen sie sich dann durch Sprache, Kleidung und Auftreten abgrenzen. Die Parteien bezeichnen sich selbst lieber als Bewegungen und grenzen sich vom bestehenden Parteienschema deutlich ab. Mit der Ablehnung der etablierten Parteien oder des Parteiensystems geht die zentrale Forderung nach mehr direkter Demokratie sowie mehr Mitbestimmung einher. Korruption oder ideologische Grabenkämpfe hinderten die Parteien daran, die besten Lösungen für die Bürger zu finden, weswegen die hier vorgestellten Parteien Ideologien ablehnen und pragmatisch die richtigen Lösungen umsetzen wollen. Das könnten einfache Bürger besser als etablierte Politiker. Trotzdem passen die Parteien nicht in das klassische Schema links- oder rechtspopulistischer Parteien. Sie selbst lehnen die Einteilung nach »links« und »rechts« ohnehin ab; da die Parteien zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen oft sehr wenig zu sagen haben, können sie dort nur schwer eingeordnet werden.

Im nächsten Kapitel sollen nun einige Parteien vorgestellt werden, die als Gemeinsamkeiten aufweisen, dass sie jung, gegen etablierte Parteien und Politiker, unideologisch und für mehr Mitbestimmung sind. Dabei soll es vor allem darum gehen, die Gründe für den Erfolg dieser Parteien zu analysieren.


3. Analyse der Erfolge einzelner Parteien

Um die Frage beantworten zu können, ob sich generelle Aussagen über Erfolge oder Misserfolge der infrage kommenden Parteien treffen lassen, müssen zunächst die einzelnen Fälle dargestellt und analysiert werden. Dabei soll es vor allem darum gehen, welche Ereignisse das jeweilige Wahlergebnis beeinflusst haben, welche Wähler die Parteien aus welchen Motiven heraus unterstützt haben, und schließlich - wo eine Aussage darüber möglich scheint - welche spezifischen Eigenschaften der Parteien den Ausschlag für Erfolg oder Misserfolg gegeben haben.


3.1 Schweden

Bei der Frage nach dem Erfolg europäischer Piratenparteien kommt man nicht umhin, mit der schwedischen Piratpartiet zu beginnen. Das liegt nicht nur daran, dass sie die erste ihrer Art war, sondern vor allem an ihrem bisher von anderen Piratenparteien unerreichten Erfolg bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009.

Wie im zweiten Kapitel beschrieben, war die Piratpartiet nach der für sie enttäuschenden Reichstagswahl von 2006 zunächst aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden. Andere Themen rückten in den Vordergrund, und auch für die vielen vor allem junge Menschen, denen das Thema »Filesharing« weiterhin wichtig war, nahm dessen relative politische Bedeutung ab. Die Mitgliederzahlen fielen von knapp 10.000 auf nur noch rund 5.000 im Jahr 2007, und über ein Jahr lang änderte sich daran ebenso wenig etwas wie an der geringen Medienresonanz der Partei.

Im Februar 2009 jedoch begann der in der schwedischen Öffentlichkeit vielbeachtete Prozess gegen die Betreiber von »The Pirate Bay« (vgl. Kapitel 2). Die Verurteilung der Angeklagten zu einjährigen Haftstrafen und einem Schadenersatz von umgerechnet über zweieinhalb Millionen Euro im April desselben Jahres wurde von vielen als ungerecht oder zumindest zu hart empfunden. Die Piratpartiet, die am Tag nach der Verurteilung eine Demonstration in Stockholm organisierte, und ihre Forderungen gehörten mit einem Mal wieder zu den Themen, welche die Menschen bewegten. Außerdem trat ebenfalls im April 2009 eine Gesetzesänderung in Kraft, die dabei helfen sollte, im Internet begangene Urheberrechtsverletzungen leichter verfolgen zu können. Auch dagegen wurde in der schwedischen Presse Protest artikuliert. Diese beiden Ereignisse ließen die Mitgliederzahlen der Piratpartiet in die Höhe schnellen: Nach kurzer Zeit waren nach Parteiangaben 50.000 Menschen offiziell »Piraten«. Dass diese Zahl für schwedische Verhältnisse sehr hoch ist, sieht man daran, dass die Piratpartiet damit zur drittgrößten Partei des Landes wurde. Allerdings muss dazu angemerkt werden, dass die Mitgliedschaft kostenlos ist und über das Internet beantragt werden kann; die Beitrittshemmnisse sind also denkbar gering, die Zahlen daher wenig aussagekräftig.

Noch bevor die Aufmerksamkeit für das Thema der Piratpartiet und der Medienhype über ihr rasantes Wachstum abebben konnte, fanden am 7. Juni 2009 die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Das Ergebnis war, nicht unerwartet, ein riesiger Erfolg für die Partei: Mit 7,1 Prozent der Stimmen konnte sie einen Abgeordneten nach Brüssel entsenden, eine zweite Abgeordnete kam nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hinzu. Die Piratpartiet wurde bei den Wählern zwischen 18 und 30 Jahren mit 19 Prozent sogar die stärkste Partei und sorgte so auch mit dafür, dass die Wahlbeteiligung höher ausfiel als bei allen vorangegangenen Europawahlen. Auffällig ist auch, dass die Piratpartiet bei männlichen Wählern mit zwölf Prozent wesentlich besser abschnitt als bei weiblichen mit nur vier Prozent. Diese Werte korrespondieren mit den von der Partei selbst veröffentlichten Zahlen über ihre Mitglieder, aus denen hervorgeht, dass die Männer stark überrepräsentiert sind und die Frauen nur elf Prozent der Mitglieder stellen. Außerdem wurde sie in Städten stärker als auf dem Land gewählt, auch Menschen mit höherer Bildung und mit geringem Einkommen waren (altersbedingt) überproportional vertreten.

Im Wahlkampf hatte sich die Partei ganz auf ihre Kernthemen fokussiert. Zu anderen Themen wollte sie sich auch deswegen nicht äußern, um nicht in das klassische Links-Rechts-Schema eingeordnet werden zu können. Im Reichstag, so bekannte die Partei im Vorfeld der nationalen Parlamentswahlen, werde sie mit der Partei koalieren, die mehr von ihren Forderungen umzusetzen bereit sei; bei allen anderen Fragen werde man die Position der Regierung unterstützen. Dabei sei der Piratpartiet egal, ob die Regierung konservativ oder sozialdemokratisch sei. Diese Haltung spiegelte sich auch in der Wählerschaft wider, die in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen sehr heterogen war.

Allerdings klang mit dem Ende des Prozesses um »The Pirate Bay« sowie der abflauenden öffentlichen Debatte und der medialen Berichterstattung über die Themen Urheberrecht und »Filesharing« auch das Interesse an der Partei ab, die sich auf allein diese Themen spezialisiert hatte. Die meisten der neu eingetretenen Mitglieder erneuerten ihre Mitgliedschaft nach einem Jahr nicht mehr, sodass sich die Mitgliederzahl im April 2010 zunächst halbierte und kontinuierlich weiter sank. Bei den Wahlen zum schwedischen Reichstag am 19. September 2010, also nur ein gutes Jahr nach ihrem überragenden Erfolg, holte die Partei mit 0,65 Prozent der Stimmen nur 0,02 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl vier Jahre zuvor. Die Mitgliederzahl sank nach diesem Misserfolg stetig, sodass im April 2012 nicht einmal mehr 8.000 Menschen in der Piratpartiet waren.

Die Gründe für das Auf und Ab in der kurzen, wechselhaften Geschichte der schwedischen Piratpartiet unterscheiden sich nicht besonders von denen, die auf andere Single-Issue-Parteien zutreffen. Sofern das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung - und damit vor allem in der medialen Berichterstattung - keine Rolle spielt, ist es für die Partei sehr schwierig, Erfolge zu erzielen. Wenn aber kurz vor einer Wahl durch bestimmte Schlüsselereignisse das Interesse am Thema (und dann meist noch an der neuen und etwas anderen Partei) hoch ist, stehen die Chancen der Partei für einen einmaligen Erfolg nicht schlecht, zumal wenn es sich um eine sogenannte second-order-election handelt, bei der die Bereitschaft, eine unkonventionelle Wahlentscheidung zu treffen, traditionell höher ausgeprägt ist. Der Misserfolg bei der nächsten Wahl bedeutet dann nicht, dass sich die Einstellung der Unterstützer zum Thema geändert hat, sondern einfach nur, dass es in einer langen Liste der vielen Themen, die jedem Menschen wichtig sind, weiter nach unten gerutscht ist und so bei der Wahlentscheidung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Piratpartiet hat sich also nicht verändert oder gravierende Fehler gemacht, die äußeren Umstände, die zuvor den Erfolg hervorgerufen hatten - die öffentliche Diskussion über »ihr« Thema -, haben sich einfach zu ihren Ungunsten verändert. Dabei wurde die Partei auch nach ihrem Erfolg nicht als generelle Alternative zu den etablierten Parteien wahrgenommen, als einzig legitime Vertreterin der jungen Generation (obwohl diese natürlich stärker an einer Reform des Urheberrechts interessiert ist) oder als Erneuerin der Demokratie - es ging lediglich um das eine Thema, das sie vertrat.


3.2 Deutschland

Neben der schwedischen Piratpartiet ist es vor allem die deutsche Piratenpartei, die bisher mit Wahlerfolgen auf sich aufmerksam machen konnte. Gegründet bereits im Jahre 2006, fristete sie zunächst ein Schattendasein. In der deutschen Öffentlichkeit spielte ihr Kernthema keine Rolle, die Partei hatte nur wenige Mitglieder und schaffte es bis 2008 nicht einmal, bei Landtagswahlen anzutreten. Mit 0,2 Prozent in Hamburg und 0,3 Prozent in Hessen bei gleichzeitigem Nichtantritt in Niedersachsen und Bayern wurde es im Jahr 2008 zwar besser, aus der Bedeutungslosigkeit war die Partei aber immer noch nicht gekommen. Das änderte sich - wie in Schweden - erst, als die öffentliche Aufmerksamkeit durch intensive mediale Diskussion auf ein Thema gelenkt wurde, bei dem sich die Piratenpartei profilieren konnte. Zu Beginn des Jahres 2009 stellte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen Überlegungen vor, im Kampf gegen die Verbreitung von Kinderpornographie bestimmte Internetseiten sperren zu lassen. Unter Experten wurde die Wirksamkeit eines solchen Gesetzes bezweifelt, breiter Protest regte sich aber auch, weil die Kritiker hier ein Einfallstor für Zensur im Internet zu erkennen glaubten. Bei der Neuwahl des hessischen Landtags am 18. Januar desselben Jahres kam die Piratenpartei mit 0,5 Prozent zwar immer noch nicht einmal in den Genuss der Wahlkampfkostenerstattung, konnte aber immerhin in der kurzen Zeit ihr Ergebnis im Land beinahe verdoppeln. Da die Diskussion über das sogenannte »Zugangserschwerungsgesetz« auch in den nächsten Monaten bis zur Europawahl anhielt - eine Woche nach der Wahl verabschiedete der Bundestag das Gesetz - und viele junge Internetnutzer die »Freiheit« des Netzes bedroht sahen, konnte auch die deutsche Piratenpartei bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juni 2009 einen relativen Erfolg feiern. Die erreichten 0,9 Prozent waren mit Abstand ihr bis dahin bestes Ergebnis, das über die Wahlkampfkostenerstattung auch staatliche Gelder in die Parteikasse spülte. Wichtiger für den nun folgenden Mitgliederansturm waren aber das sensationelle Ergebnis der schwedischen Schwesterpartei und das damit verbundene mediale Aufsehen. Die Partei war endgültig bekannt und konnte ihre Mitgliederzahl in den nächsten Monaten auf gut 12.000 verzehnfachen. Dazu trug auch der spektakuläre Übertritt des SPD-Politikers Jörg Tauss zur Piratenpartei bei, mit dem diese für einige Monate einen fraktionslosen Abgeordneten im Deutschen Bundestag hatte. Der für Netzpolitik verantwortliche Tauss hatte sich wegen der Zustimmung der SPD zum »Zugangserschwerungsgesetz« mit seiner Partei überworfen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt seine Immunität vom Bundestag bereits aufgehoben worden, da gegen ihn wegen des Verdachts, Bildmaterial von dokumentiertem Kindesmissbrauch zu besitzen, ermittelt wurde; im Anschluss an seine Verurteilung im Mai 2010 trat er wie der aus der Piratenpartei aus, ein späterer Antrag auf Wiedereintritt wurde von der Partei abgelehnt. Nach der Europawahl 2009 war aber allein entscheidend, dass die Kontroverse um seinen Übertritt und die Ermittlungen der Piratenpartei zusätzliche Bekanntheit bescherte. Für die Bundestagswahlen im September des Jahres waren die Bedingungen für die Piratenpartei also günstig. Mit zwei Prozent konnte sie ein achtbares, wenn auch kein überragendes Ergebnis erzielen. Die Ergebnisse bei Landtagswahlen zwischen Sommer 2009 und Sommer 2011 bewegten sich in einem ähnlichen Rahmen. Nachdem sich die Debatte um die Netzsperren gelegt hatte, war das Thema der Piratenpartei wieder von der Agenda verschwunden. Die Mitgliederzahlen gingen auch aufgrund der nicht erreichten parlamentarischen Repräsentation leicht zurück. Für den Durchbruch der Piratenpartei in Deutschland war dann schließlich nicht ihr eigentliches Kernthema verantwortlich.

Nach den Anschlägen von Anders Breivik in Oslo und Ut¢ya am 22. Juli 2011 forderte unter anderem Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich eine Klarnamenpflicht im Internet, weil in der Anonymität zu leicht Gesetzesübertritte möglich seien. Der Vorschlag erzielte keine besondere Resonanz, trug aber mit dazu bei, die Kernklientel der Piratenpartei zu mobilisieren und diese so in einer Umfrage zur Berliner Abgeordnetenhauswahl auf drei Prozent zu bringen. Das wiederum führte dazu, dass das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap die Partei gesondert auswies und nicht mehr unter »Sonstige Parteien« subsummierte. Mit der realistischen Chance, die Fünfprozenthürde zu nehmen, stieg das mediale Interesse an den Piraten ebenso wie deren Bekanntheitsgrad. Sie wurden zu einer Alternative für viele Wähler, die sonst andere, in Berlin traditionell starke Kleinstparteien - oder gar nicht - gewählt hätten. Mehrere Gründe begünstigten den nun folgenden Aufstieg der Piratenpartei, die von da an in den Umfragen kontinuierlich zulegte: Zunächst hatte sie in Berlin eine gute Ausgangsbasis, da ihre Kernwählerschaft hier überproportional vertreten ist. Wichtiger aber war, dass sie im Wahlkampf den Fokus eben nicht auf Urheberrecht oder Netzpolitik legte, sondern mit dem Metathema Transparenz punktete, das in Berlin nach einem erfolgreichen Volksentscheid über die Offenlegung der Verträge der Teilprivatisierung der Wasserbetriebe im Februar 2011 Anklang fand. Neben klugen, kreativen und unkonventionellen eigenen Wahlplakaten und der Tatsache, dass die Piratenpartei in einem Stadtstaat mit begrenzten Ressourcen flächendeckend Wahlkampf machen konnte, war auch der Wahlkampf von Bündnis 90/Die Grünen für ihren Erfolg mitverantwortlich; um Regierende Bürgermeisterin werden zu können, vernachlässigte Spitzenkandidatin Renate Künast linke Positionen, bewegte sich in die Mitte und schloss zunächst auch eine Koalition mit der CDU nicht aus. Die Piratenpartei konnte mit klassisch linken Forderungen wie Drogenfreigabe, kostenlosem Nahverkehr oder bedingungslosem Grundeinkommen diese Lücke besetzen. Bei der Wahl am 18. September 2011 erreichte die Partei schließlich 8,9 Prozent und zog damit erstmals in ein Landesparlament ein. Dabei schnitt sie in allen Altersgruppen außer bei Menschen über 60 Jahren überdurchschnittlich ab, am stärksten aber bei männlichen Erstwählern. Sie konnte von beiden großen Parteien Stimmen hinzugewinnen, stärker aber noch von anderen Kleinstparteien, den Nichtwählern und Bündnis 90/Die Grünen. Ihre Wähler lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen. Zwei bis vier Prozent wählten die Partei primär wegen ihrer netzpolitischen Inhalte: Diese Wähler sind meist jung, männlich, internetaffin und in der Regel gut ausgebildet - die gleiche soziale Gruppe also, die auch für den Erfolg der Piratpartiet in Schweden verantwortlich war. Die übrigen Prozente errang die Piratenpartei bei Wählern, die sich für die konkreten Inhalte der Partei in keiner Weise interessierten, und die auch erst durch die Medienberichterstattung im Vorfeld der Wahl überhaupt auf die Partei aufmerksam geworden waren. Diese Menschen wählten die Piratenpartei aufgrund einer diffusen Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien oder dem als intransparent und zu wenig responsiv empfundenen Politikbetrieb. Sie kamen aus allen Altersgruppen und aus allen sozialen Schichten. Diese Wählergruppe faszinierte an den Piraten das Neue, das Unverbrauchte, die flachen Hierarchien, und dass die Partei so viele Dinge so ganz anders machte als die etablierten Parteien. Die Vertreter der Piratenpartei wirkten auf diese Wähler zwar ahnungslos, aber dabei sympathisch ehrlich, und bildeten so einen Kontrast zu den vermeintlich korrupten, verlogenen Politikern der anderen Parteien. Slogans wie »Mehr Demokratie!« und »Mehr Transparenz!« schafften es, diese Wählergruppe zu begeistern.

Spätestens nach dieser erfolgreichen Wahl und der im Zusammenhang damit stehenden massiven Berichterstattung über jeden Schritt der neuen Fraktion war die Partei bundesweit bekannt. Die Mitgliederzahl stieg seitdem rasant und kontinuierlich auf mittlerweile über 30.000 an, wobei nun auch viele ältere Menschen beitraten, denen die Kernthemen der Partei nicht mehr so wichtig sind, und denen es vor allem um die Möglichkeiten der innerparteilichen Beteiligung bei den Piraten geht. Während einige Mitglieder der ersten Stunde bereits die Vernachlässigung der eigentlichen Anliegen der Partei kritisieren, ist genau diese Vernachlässigung ihr Erfolgsrezept: Bei den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2012 gelang ihr jeweils der Sprung über die Fünfprozenthürde, weil sie es wie in Berlin schaffte, sich als Anti-Parteien-Partei und damit als Alternative zu den etablierten Parteien zu präsentieren, die für mehr Demokratie und Transparenz eintritt. Die Reform des Urheberrechts beispielsweise spielte in keinem der Wahlkämpfe eine Rolle. Betrachtet man die vier erfolgreichen Landtagswahlen insgesamt, so konnte die Piratenpartei relativ zum jeweils vorherigen Ergebnis die meisten Stimmen von sonstigen Kleinparteien gewinnen, gefolgt von der Partei Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie, in etwas geringerem Umfang, der FDP.

Abzuwarten bleibt, wie stabil der Erfolg langfristig ist. Da Netzthemen zwar mithalfen, die Partei bekannt zu machen, für die momentanen Wahlerfolge aber keine Rolle mehr spielen, besteht nicht die Gefahr, dass mit dem Abflauen des öffentlichen Interesses an diesem Thema die Partei - wie in Schweden - in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Ob die Partei es schafft, ihre momentanen Unterstützer auch über den aktuellen Hype hinaus an sich zu binden, ist naturgemäß offen. Erwähnenswert ist hier, dass rund die Hälfte der Parteimitglieder den geringen Mitgliedsbeitrag nicht bezahlt und somit die hohe Mitgliederzahl relativiert werden muss.


3.3 Island

In Island gibt es keinen Ableger der Piratenpartei. Dennoch ist der Inselstaat für diesen Artikel gleich in mehrerer Hinsicht hochinteressant, seit dort das Parteiensystem infolge der internationalen Finanzkrise gehörig durcheinandergewirbelt wurde.

Bereits kurz nach der Insolvenz der Investmentbank Lehmann Brothers im September 2008 gerieten auch die drei großen isländischen Banken in Schwierigkeiten und wurden daraufhin unter staatliche Kontrolle gestellt und schließlich mit öffentlichen Geldern gerettet. Auch durch den Zusammenbruch des bisher lukrativen isländischen Finanzmarkts und dem Einbruch der Isländischen Krone verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation vieler Menschen. Offen wurde über einen drohenden Staatsbankrott spekuliert. Die Lösungsversuche der Regierung empfanden viele Menschen als unzureichend, was zu einer großen Unzufriedenheit, zu tagelangen Demonstrationen und auch zu Gewaltausbrüchen führte. Da diese Proteste letztlich zum Zerbrechen der bisherigen Regierungskoalition unter Führung der Unabhängigkeitspartei Sjálfstæðisflokkurinn führten, werden sie auch als »pots and pans revolution« bezeichnet.

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung bestimmte auch den Vorlauf der für April 2009 angesetzten Neuwahlen. Nicht nur das Parteiensystem, sondern auch das Wahlrecht und die Verfassung wurden infrage gestellt und Reformen diskutiert. Die Parteiführungen wurden meist komplett ausgetauscht, viele Parlamentarier stellten sich nicht zur Wiederwahl. Nach der Wahl stellte dann die größte Fraktion im isländischen Parlament Althing (Alþingi) erstmals seit der Unabhängigkeit Islands nicht jene Unabhängigkeitspartei, sondern es übernahm eine Koalition aus sozialdemokratischer Allianz und einer links-grünen Partei die Regierung. Nachwahlbefragungen zeigten, dass sich der Anteil derer, die keinen oder nur sehr wenige Politiker für vertrauenswürdig hielt, auf über 40 Prozent gestiegen war und sich damit gegenüber 2007 mehr als verdoppelt hatte. Dazu beigetragen hat zweifelsohne auch Davíð Oddsson, Ministerpräsident für die Unabhängigkeitspartei von 1991 bis 2004 und anschließend Chef der isländischen Zentralbank. Diese Verbindung von Politik und Finanzwirtschaft schadete dem Ansehen der Politiker insgesamt, zumal Oddsson sich im Zuge der Krise weigerte, zurückzutreten - eine der Hauptforderungen der Demonstranten während der Proteste.

Bei dieser besonderen Wahl nun gelang es der Borgarahreyfingin (»Bürgerbewegung«) mit 7,2 Prozent der Stimmen vier Sitze im Parlament zu erhalten - für die gerade erst gegründete Partei war dies ein achtbares Ergebnis. Die Borgarahreyfingin war aus den Protesten nach der Finanzkrise hervorgegangen und sah sich als parlamentarischer Arm der vielen Bürgerbewegungen, lokalen Initiativen und Aktionsgruppen, die für einen radikalen Wandel als Folge der Wirtschaftskrise kämpften. Die radikaldemokratisch organisierte Partei hatte dabei vor den Wahlen kein fertiges Programm, sondern versprach, im Parlament die Stimme derer sein zu wollen, die sie repräsentierte. Dass die Partei als Alternative zu den etablierten Parteien gesehen wurde, lag auch daran, dass sie keinen Parteivorsitzenden hat, sondern von drei Menschen gemeinsam »geführt« wird; außerdem lehnt die Partei jede Art von Fraktionsdisziplin ab und gibt an, für eine Überwindung der Teilung in rechts und links in der Politik streiten zu wollen. Alle vier gewählten Vertreter waren vor ihrer Wahl keine klassischen Politiker und gestalteten ihre Imagekampagne entsprechend. Soweit sich das aufgrund des fehlenden Programms sagen lässt, handelt es sich bei der Borgarahreyfingin eher um eine links-liberale, proeuropäische Partei, die im Vergleich zu den (deutschen)(5) Piraten stärker linke und weniger stark liberale Positionen vertritt.

Die nach den Wahlen euphorische Stimmung der Partei hielt allerdings nicht lange an. Da sie kein inhaltliches Programm hatte, zerstritten sich ihre Abgeordneten sowohl untereinander als auch mit der Basis, die ihnen vorwarf, ihre Ideale verraten zu haben. In der Folge wechselte ein Abgeordneter ins Lager der regierenden linksgrünen Partei, die verbliebenen drei gründeten am 18. September 2009 mit der Hreyfingin (»Bewegung«) eine neue Partei, die von den basisdemokratischen, wenig hierarchischen Strukturen der Borgarahreyfingin jedoch weit entfernt ist. Die Zukunftsaussichten beider Parteien sind naturgemäß ungewiss, aber als eher schlecht einzustufen.

Mit der Parlamentswahl von 2009 endete in Island weder die Wirtschaftskrise noch die Unzufriedenheit mit den politischen Parteien. Da nun die linken Parteien an der Regierung waren, gab es unter den großen Parteien keine unverbrauchte Opposition, die den Protest für sich hätte nutzen können. Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Mai 2010 gründete der bekannte isländische Komiker Jón Gnarr die Besti flokkurinn (»Beste Partei«), um, wie er sagte, zu verhindern, dass ein Rechtspopulist die Situation ausnutzen könne. Die Besti flokkurinn war im Prinzip eine Spaßpartei ohne ernsthaftes Programm, trat aber in der Hauptstadt Reykjavík an, in der Gnarr Bürgermeister werden wollte. Zu seinen Forderungen im Wahlkampf gehörte ein Eisbär für den städtischen Zoo, kostenlose Badetücher an allen Thermalquellen und ein drogenfreies Parlament bis zum Jahr 2020. Das selbstironische Programm betont, dass sich die Partei nicht an ihre Wahlversprechen zu halten gedenke. Gnarr gab offen zu, von vielen Themengebieten selbst keine Ahnung zu haben, holte sich aber Expertise von außen, nach der Wahl auch von den anderen Parteien. Das förderte sein Image, nicht in den ideologischen Grabenkämpfen der etablierten Parteien gefangen zu sein. Hervorzuheben ist der gute Internetwahlkampf: Das Musikvideo, in welchem Gnarr mit einer umgedichteten Version von Tina Turners Simply the best auf humorvolle Weise seine Partei vorstellt und in dem zahlreiche prominente Unterstützer auftreten, hat bei Youtube mehr Klicks bekommen als Island Einwohner hat und gilt nicht nur deswegen als voller Erfolg. Mit seinem Spott über die etablierten Parteien und ihre Wahlversprechen und seinem Habitus als Antipolitiker landete Gnarr einen fulminanten Wahlsieg. Bei der Kommunalwahl in Reykjavík wurde die Besti flokkurinn mit 34,7 Prozent stärkste Partei und regiert seitdem in einer Koalition mit den Sozialdemokraten. Jón Gnarr wurde Bürgermeister. Dabei konnte die Partei allen Konkurrentinnen Stimmen abnehmen und gewann mehr als 40 Prozent der vormaligen linken und gut 30 Prozent der vormaligen konservativen Wähler. Daran zeigt sich, dass die Wahlentscheidung nicht durch ihre eher linken Forderungen, sondern durch die massive Unzufriedenheit mit der Situation im Land im Allgemeinen und die Unzufriedenheit mit dem politischen System im Besonderen beeinflusst wurde. Auch in anderen Städten kamen unabhängige Kandidaten oder neue Protestparteien in die Parlamente, unter anderem die Næstbesta flokkurinn, also die »Zweitbeste Partei«. Von den abgegebenen Stimmzetteln waren landesweit 6,3 Prozent und damit dreimal so viele wie im sonstigen Durchschnitt leer oder ungültig.

Von der (deutschen) Piratenpartei unterscheidet die Bewegung von Gnarr vor allem ihre Ausrichtung auf die Lokalpolitik. Zwar fordert auch er eine transparentere Verwaltung, abseits davon gibt es aber kaum thematische Überschneidungen. Als Bürgermeister muss Gnarr pragmatisch konkrete Entscheidungen treffen, darunter auch unpopuläre wie Entlassungen oder die Erhöhung der Strompreise - Urheberrechtsreformen oder Freiheit im Internet stehen naturgemäß nicht auf seiner Agenda. Interessant ist er hier vor allem deshalb, weil er mit genau dem Image und Auftreten die Wahlen gewonnen hat, mit der auch die Piratenpartei in Deutschland zurzeit erfolgreich ist. In Island liegt das am durch die Finanzkrise fundamental erschütterten Vertrauen in die etablierten Parteien, durch das es Raum für solche Bewegungen gibt.

Wichtig war nicht, was Gnarr vertreten hat, sondern, dass er als ehrlich und authentisch galt und von außerhalb des etablierten Systems kam. Auch in einem anderen europäischen Land gibt es einen Komiker, der mit diesem Rezept Erfolg hat: Beppe Grillo in Italien.


3.4 Italien

Beppe Grillo ist ein in Italien seit langem erfolgreicher Kabarettist. Seit Ende der 1970er Jahre trat er im Fernsehen auf und begann, sich über korrupte Politiker lustig zu machen. Nachdem er auf politischen Druck hin in den 1990er Jahren aus dem Fernsehen verschwunden war, trat er nur noch auf kleinen Bühnen auf, was seiner Popularität aber keinen Abbruch tat. Seit Januar 2005 betreibt er einen Internetblog, auf dem er vor allem politische Themen kommentiert und Missstände anprangert. In der italienischen Medienlandschaft, in der aufgrund der Besitzverhältnisse kritische Stimmen rar sind, konnte sich der Blog schnell als eine Art Gegenöffentlichkeit etablieren: Da viele Menschen nur dort kritische Berichte fanden, gewannen Grillo und seine Kolumnen schnell an Bekanntheit. Zusätzlich zum Blog gibt es eine gedruckte Wochenzeitung, in der die wichtigsten Themen zusammengefasst werden, da in Italien Internetanschlüsse wesentlich weniger verbreitet sind als beispielsweise in Schweden. Die Hauptunterstützung findet Grillos Internetseite aber natürlich von Menschen, die sich viel im Internet bewegen, was begründet, weshalb die meisten seiner Anhänger zu Beginn der Bewegung zwischen 20 und 30 Jahren alt waren. Da man nicht nur - wie bei Blogs üblich - Kommentare zu Beiträgen verfassen kann, sondern Nutzer explizit aufgefordert wurden, eigene Berichte über Missstände zu verfassen, ist Grillos Bewegung gut vernetzt und versucht, wo immer möglich, die sogenannte Schwarmintelligenz zu nutzen.

Seine erste politische Kampagne startete Grillo noch im Jahr 2005, als er forderte, korrupte oder vorbestrafte Politiker aus dem Parlament zu werfen, und mit gesammeltem Geld eine Anzeigenkampagne initiierte. Am 8. September 2007 folgte schließlich der erste sogenannte V-Day, wobei V für »Vaffanculo« steht, was auf Deutsch so viel wie »Leck mich am Arsch!« bedeutet. Nach unterschiedlichen Angaben versammelten sich auf Grillos Aufruf hin an diesem Tag bis zu zwei Millionen Menschen, um ihre Zustimmung zu den drei aufgestellten Forderungen zu bekunden. Die erste Forderung lautete, dass vorbestrafte Politiker aus dem Parlament geworfen werden sollen, die zweite, dass Politiker grundsätzlich nur einmal in ein Amt wiedergewählt werden dürfen, und die dritte, dass Abgeordnete direkt vom Volk - und nicht mehr über Parteilisten - gewählt werden sollen. Immerhin konnten über 350.000 Unterschriften gesammelt werden. In dieser Zeit gab es auch bereits lokale Treffen von Unterstützern oder Sympathisanten Grillos, die sich von ihm unabhängig organisierten und zusammenkamen, um politische Fragen zu diskutieren. Diese Gruppierungen einte, dass sie mit dem politischen Establishment unzufrieden waren. Manchmal nahm auch Grillo selber an solchen Treffen teil, oft per Webcam zugeschaltet. So emanzipierte sich die Bewegung teilweise von ihm, profitierte aber weiter von seiner Bekanntheit. Allerdings wurde er verschiedentlich kritisiert, da er seine Aktionen zu wenig an seine Unterstützer rückbindet. Die Art und Weise, mit der er seinen Blog und seine Bewegung anführt, wird von einigen als diktatorisch und selbstherrlich empfunden. Fakt ist, dass er selbst seinen eigenen Ansprüchen in den Punkten Transparenz und Demokratie nicht immer gerecht wird. Dennoch blieb seine Website der zentrale Anlaufpunkt für Vernetzung und Werbung und er die unumstrittene Galionsfigur der Bewegung.

Bei den Kommunalwahlen 2008 unterstützte Beppe Grillo verschiedene lokale Bürgerinitiativen oder unabhängige Kandidaten, wenn sie bestimmte Mindeststandards erfüllten, also keiner Partei angehörten, nicht vorbestraft waren oder keine dritte Amtszeit anstrebten. Die von ihm unterstützten Kandidaten erreichten im Durchschnitt gut 2,8 Prozent der Stimmen, was für die meist unbekannten Kandidaten oder kleinen Listen, die fast ausschließlich im Internet für sich werben konnten, kein schlechtes Ergebnis war.

Im Oktober 2009 schließlich gründete Beppe Grillo formal eine politische Partei mit dem Namen MoVimento 5 Stelle (»Fünf-Sterne-Bewegung«), im Folgenden M5S abgekürzt, deren Vorsitzender er bis heute ist. Allerdings existieren keine Parteistrukturen im klassischen Sinne - Grillo selbst sieht sich eher als Megafon der Bewegung denn als Parteivorsitzender - und die Partei versteht sich weiterhin als Bewegung, die sich nur aus pragmatischen Gründen die Rechtsform einer Partei gegeben hat. Bei den Regionalwahlen 2010 traten in verschiedenen Regionen Kandidaten für seine Liste an, er selbst jedoch nicht. Mangels Medienresonanz fand der Wahlkampf fast ausschließlich über das Internet statt, die Kandidaten waren meist zwischen 20 und 30 Jahre alt und nutzten das Medium geschickt zur Mobilisierung, zumal die etablierten Parteien in Italien bei ihrem Onlineauftritt noch sehr schlecht aufgestellt sind. Die M5S schloss dabei keine (in Italien üblichen) Wahlbündnisse mit anderen Parteien, um unabhängig zu bleiben. Grillo selbst sagte, seine Partei sei weder rechts noch links, sondern vorne. Entsprechend sah das Wahlprogramm aus: Der Hauptpunkt war der Kampf gegen die etablierten Parteien, die verbreitete Korruption, die Ämterpatronage und die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft. Die Forderungen des V-Days wurden wieder aufgegriffen. Hinzu kam die Forderung nach mehr Transparenz im politischen Prozess: Politiker sollten offenlegen, wie Entscheidungen zustande gekommen seien, und dafür auch Akten und Dokumente öffentlich zugänglich machen. So könnten nicht nur die Bürger den Entscheidungsprozess besser nachvollziehen, die Politiker könnten auch das in der Bevölkerung vorhandene Fachwissen in Sachfragen nutzen. Außerdem forderte die M5S mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten sowie eine ökologischere Politik.

Die Regionalwahlen waren insgesamt geprägt von einer starken Unzufriedenheit. Diverse Skandale des Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi bestimmten den Wahlkampf, die linke Opposition aber war nach dem Scheitern ihrer Regierung immer noch in keinem guten Zustand. Der Wahlkampf war schmutzig, die Wahlbeteiligung fiel auf 63,5 Prozent. Hauptprofiteur der Unzufriedenheit war aber nicht die M5S, sondern die rechtspopulistische Lega Nord. Den größten Erfolg erreichte die Partei Grillos in Bologna mit 8,1 Prozent der Stimmen. In der Stadt hatte der Bürgermeister wegen eines Skandals zurücktreten müssen, weswegen die Unzufriedenheit dort besonders hoch war.

Beppe Grillo und seine Partei nahmen die Ergebnisse als Motivation und arbeiteten weiter an ihrer Bekanntheit. Mit der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der sich verschlechternden ökonomischen Situation Italiens wandte sich Grillo vermehrt sozialen Themen zu. Der Schwerpunkt blieb aber der Kampf gegen die etablierten Parteien. Nach dem Rücktritt Berlusconis am 16. November 2011 war deren Ansehen auf einem neuen Tiefpunkt angekommen. Dies machte sich bei den Kommunalwahlen im Mai 2012 bemerkbar.

Die Lega Nord, die zwei Jahre zuvor noch den meisten Nutzen aus der Unzufriedenheit der Wähler hatte ziehen können, war nun selber in einen Parteispendenskandal verwickelt. Im Zuge der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen um veruntreute Gelder trat der langjährige Parteivorsitzende, Umberto Bossi, von seinem Amt zurück. Die konservative Partei Berlusconis war infolge seiner vielen Skandale ohnehin diskreditiert, aber auch die linke Opposition hatte durch die Unterstützung der neuen Regierung von Mario Monti einiges an Zustimmung verloren. Die Situation für die M5S war also denkbar günstig und ihre Ergebnisse fielen, vor allem in Norditalien, entsprechend positiv aus. Zwar erreichte die Partei insgesamt nur rund 6,9 Prozent, sie konnte aber in vielen Gemeinden Mandate erringen und wurde im zersplitterten italienischen Parteiensystem insgesamt die nach Stimmen drittstärkste Kraft. In vier Städten gewannen ihre Kandidaten den Bürgermeisterposten, unter anderem in Parma, wo Federico Pizzarotti bei der Stichwahl über 60 Prozent erhielt. Diesen großen Erfolg schaffte er nach eigenen Angaben mit einem Wahlkampfbudget von nur 6.000 Euro, da der Wahlkampf wiederum hauptsächlich im Internet stattgefunden hatte. Auch in Parma hatte der alte Bürgermeister im Jahr zuvor aufgrund eines Korruptionsskandals sein Amt verloren, weswegen das Wahlkampfmotto des M5S, »maximale Transparenz«, gut ankam.

Insgesamt konnten Grillos Kandidaten von beiden großen Parteien Stimmen gewinnen, von Berlusconis Popolo della Libertà aber aufgrund ihres massiven Einbruchs deutlich mehr, obwohl sich Grillo im Wahlkampf sozialpolitisch eher links positioniert und gegen Montis »herzlosen Sparkurs« (Bremer 2012) gewettert hatte. Die Wahlbeteiligung lag im Durchschnitt nur bei knapp über 50 Prozent, auch das ein Zeichen der allgemeinen Unzufriedenheit. Die zahllosen Skandale und Fehler der etablierten Parteien in den letzten Jahren, vor allem aber die zahlreichen Korruptionsaffären, müssen denn auch als Hauptgrund für den Erfolg von Grillos Partei gelten. Dabei haben die Wähler aber nicht einfach nur protestiert, sondern ihre Stimme bewusst an eine Partei gegeben, die sich für Offenheit im demokratischen Prozess und Maßnahmen gegen Korruption und korrupte Politiker ausspricht. Dabei war es im Wahlkampf hilfreich, dass die Kandidaten des M5S keine Erfahrung in der Politik vorzuweisen hatten und so als echte Alternative gesehen wurden.(6) Insofern ist unter Beobachtern umstritten, inwieweit es sich bei Beppe Grillo um einen Populisten handelt, der mit seiner schematischen Anti-Parteien-Rhetorik letztlich der Demokratie schadet. Immerhin hilft er, dass sich viele, gerade junge Italiener wieder stärker politisch engagieren, und er hat auch eine Reihe von Nichtwählern zurück an die Urne geholt. Trotz seines zum Teil autoritären Führungsstils gibt es ein hohes Maß an Beteiligungsmöglichkeiten für die Mitglieder. Insgesamt scheint es noch zu früh, ein endgültiges Urteil über den Charakter der Partei zu fällen. Sicher ist aber, dass viele junge Menschen sich durch die M5S (wieder) vertreten fühlen. Der moderne Auftritt im Internet und die Sprache der Kandidaten tragen dazu ebenso bei wie das Alter der Kandidaten: Die vier gewählten Bürgermeister sind mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren gerade mal halb so alt wie der durchschnittliche Parlamentsabgeordnete.

Mit den (deutschen) Piraten hat die Partei Beppe Grillos gemein, dass sie ebenfalls vor allem über das Internet kommuniziert, überwiegend junge Leute anspricht, Transparenz politischer Entscheidungsprozesse fordert und sich als Alternative zu den etablierten Parteien darstellen kann. Abgesehen von den Themen Transparenz und Demokratisierung sind ihre Forderungen aber lokaler Natur, die klassischen Piratenthemen wie die Reform des Urheberrechts interessieren sie nicht. Momentan erreicht die M5S in landesweiten Umfragen bis zu 20 Prozent - ihr weiterer Weg in der italienischen Politik sieht also zurzeit vielversprechend aus.


3.5 Polen

Das Parteiensystem Polens ist in den 20 Jahren, die es mittlerweile einen echten Parteienwettbewerb gibt, nicht sehr stabil gewesen. Etliche Parteien sind verschwunden, andere neu hinzugekommen. Die aktuell bemerkenswerteste Neuerscheinung ist auch für diese Untersuchung interessant.

Im Jahre 2005 errang Janusz Palikot erstmals ein Mandat für den Sejm, damals noch als Mitglied der liberalkonservativen Platforma Obywatelska (»Bürgerplattform«). In seiner Partei war der reiche Unternehmer immer umstritten, da er spektakuläre Inszenierungen und Tabubrüche bei seinen öffentlichen Auftritten liebte, aber auch, weil er dem eher linken, radikalliberalen Flügel der Partei angehörte. Nach vielen innerparteilichen Streitigkeiten trat er schließlich aus der Partei aus, gab sein Mandat zurück und gründete am 1. Juni 2011 seine eigene Partei, die Ruch Palikota (»Bewegung Palikot«), die nach ihm benannt und deren Vorsitzender er ist. Im Parteiprogramm finden sich sehr liberale Positionen, wie sie auch die Piratenparteien vertreten. So fordert Palikot die Freigabe »weicher« Drogen, gleiche Rechte für Homosexuelle oder die strikte Trennung von Staat und Kirche (hier unter anderem das Verbot von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen oder den Verzicht auf jegliche religiöse Symbole in der Öffentlichkeit). Letzteres ist im Parteiensystem des katholischen Polens äußerst ungewöhnlich. Palikots netzpolitische Forderungen passen in Teilen ebenfalls zu denen der Piraten, da er nicht nur die freie Kommunikation im Internet für schützenswert hält, sondern auch einen kostenlosen Internetzugang für alle Bürger fordert.

Sein Wahlkampf war gerade bei jüngeren Wählern sehr erfolgreich. Bei den Wahlen nur vier Monate nach der Gründung der Partei erreichte er immerhin knapp über zehn Prozent der Stimmen. Dabei war fast ein Drittel seiner Wähler zwischen 18 und 25 Jahre alt; in dieser Altersgruppe erhielt er sogar über 23 Prozent der Stimmen. Seine Wählerschaft bestand zu fast zwei Dritteln aus Männern, sie war überdurchschnittlich gebildet und eher in großen Städten beheimatet, eine Klientel also, die auch beim Erfolg der schwedischen Piratpartiet relevant war. Für den Erfolg ist neben seinen schrillen Auftritten, die gerade bei jungen Leuten gut ankommen, vor allem das polnische Parteiensystem verantwortlich. Die beiden großen Parteien, die Bürgerplattform und die Partei »Recht und Gerechtigkeit«, sind beide eher konservativ, als große linke Partei existieren nur die Postkommunisten, die sich infolge von Korruptionsskandalen und innerparteilichen Machtkämpfen diskreditiert haben, und die aufgrund ihrer Vergangenheit gerade für viele junge Wähler unattraktiv erscheinen. Linke, zumal linksliberale Positionen, waren im Parteienspektrum nicht ausreichend vertreten. Palikot macht sich diese Situation zunutze, indem er sich als Kämpfer gegen korrupte Parteien, die Bürokratie oder einfach das System stilisiert.(7)

Thematisch und von der Sozialstruktur der Unterstützer passt die Ruch Palikota also sehr gut zu den Piraten, trotz der Eskapaden Palikots gibt es aber einen wichtigen Unterschied: Er ist kein Anti-Politiker, sondern seit sieben Jahren Abgeordneter, teilweise in führender Funktion der Regierungspartei. Darüber dürfen seine Anti-Parteien-Rhetorik und sein Kampf gegen das, was er das politische Establishment nennt, nicht hinwegtäuschen. Auch wenn von den 41 Abgeordneten seiner Partei neben ihm nur ein weiterer Parlamentserfahrung besitzt und seine Anhänger zu einem Teil junge Menschen sind, die sich bisher nicht für Politik interessiert haben, so gehört Palikot doch eigentlich genau zu den etablierten Politikern, gegen die sich Gnarr, Grillo und die Piratenparteien inszenieren.


3.6 Erfolglose Piratenparteien

Bei Berichten über die Piratenparteien wird häufig nur auf die erfolgreichen Beispiele geschaut. Verständlicherweise ist der Nichterfolg einer unbedeutenden Kleinpartei bei einer Wahl kein berichtenswertes Ereignis. In diesem Kapitel soll dennoch kurz dargestellt werden, wie es für die Piratenparteien abseits von Deutschland und Schweden aussieht.

In vielen europäischen Ländern haben sich mittlerweile Piratenparteien gegründet, lediglich in Island, Portugal, Norwegen und den meisten osteuropäischen Ländern (z. B. Polen, Rumänien, Ukraine, Slowakei, Lettland, Litauen) gibt es keine solche formale Organisation. Allerdings waren diese meist völlig erfolglos, sowohl was Wahlergebnisse bei nationalen Wahlen angeht als auch was die Mitgliederzahlen betrifft. In Belgien konnte die Pirate Party bei den Wahlen 2010 nur in einem Wahlkreis antreten und erhielt dort 0,26 Prozent. In Spanien erreichte die Partido Pirata bei den Parlamentswahlen in den wenigen Wahlkreisen, in denen sie überhaupt antrat, zwischen 0,3 und 0,5 Prozent - trotz einer dramatischen Jugendarbeitslosigkeit und protestierenden Jugendlichen. Bei der Wahl zum griechischen Parlament am 6. Mai 2012 erreichte die griechische Komma Piraton Elladas 0,5 Prozent, obwohl in der griechischen Krise das Vertrauen in beide großen Parteien zutiefst erschüttert ist und sich die griechischen Piraten explizit am Vorbild ihrer deutschen Schwesterpartei orientieren. Bei der Wahl zur französischen Nationalversammlung im Juni 2012 konnte die Parti Pirate nur in 101 von 577 Wahlkreisen antreten und erreichte im Durchschnitt rund 0,8 Prozent. In ganz Frankreich hat die Partei weniger als 600 Mitglieder. In Irland schließlich löste sich die bereits im Jahre 2009 gegründete Pirate Party Ireland nach zwei Jahren wieder auf, weil sie es nicht schaffte, einen Parteitag abzuhalten und somit nicht an den Parlamentswahlen teilnehmen konnte. Die im April 2012 wiedergegründete Partei hat zurzeit nicht einmal 100 Mitglieder.

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Abgesehen von Schweden und Deutschland kamen Piratenparteien nur in Frankreich und Tschechien (mit jeweils rund 0,8 Prozent) auf mehr als ein halbes Prozent bei nationalen Wahlen. Die Gründe für den jeweiligen Misserfolg im Einzelnen zu analysieren, kann hier nicht geleistet werden. Die politische Kultur eines Landes, die Stabilität des Parteiensystems, die Hürden für neue Parteien, das Wahlsystem oder die Zufriedenheit der Wähler mit Parteien und Politikern können neben vielen anderen Dingen eine Rolle spielen. Deutlich wurde, dass es offensichtlich kein europaweit einheitliches Erklärungsmuster gibt, sondern die einzelnen Fälle auch einzeln analysiert und in ihrer jeweiligen Besonderheit verstanden werden müssen. Entscheidend ist aber, dass es für die dargelegten erfolgreichen Fälle jeweils Ereignisse oder Rahmenbedingungen gab, welche die Parteien überhaupt erst bekannt machten. Das gilt besonders für diejenigen unter den Piratenparteien, die sich auf die Kernthemen fokussiert haben. Fehlen Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit auf die Partei lenken, hat sie in der Regel keine Chance, bei Wahlen ein gutes Ergebnis zu erreichen. Abzuwarten bleibt, inwieweit sich der Wahlerfolg der deutschen Piratenpartei positiv auswirken wird: In anderen europäischen Ländern wird zurzeit vermehrt über das neue Phänomen berichtet, und einige Piratenparteien beginnen, sich vom schwedischen zum deutschen Modell hinzuwenden. Die Zukunft wird zeigen, ob sie damit Erfolg haben werden.


4. Europäische Zusammenarbeit

Da die Piratenpartei von Anfang an ein internationales Projekt war (vgl. Kapitel 2), ist es wenig verwunderlich, dass die Zusammenarbeit intensiv bleibt. Vereinfacht wird das durch die Tatsache, dass sich in allen Parteien sehr viel Kommunikation über das Internet abspielt und so jeder europäische Pirat - Sprachkenntnisse vorausgesetzt - aktiv am Leben jeder beliebigen Piratenpartei teilhaben kann, sofern er dafür Zeit findet. Die internetbezogenen Kernthemen sind dabei in allen Ländern die gleichen, was eine Zusammenarbeit erleichtert bzw. sogar erfordert.

Bereits im Jahr 2007 trafen sich Vertreter der damals schon existierenden Piratenparteien, um ihre Zusammenarbeit zu koordinieren und sich für die kommende Europawahl abzusprechen. Auf dem dritten Treffen 2008 in Uppsala wurde die oben vorgestellte Erklärung verabschiedet. Am 18. April 2010 wurde dann auch eine formale Dachorganisation gegründet, die Pirate Parties International (PPI), formal eine »International Nongovernmental Organisation« (INGO). In dieser sind nicht nur europäische Piratenparteien, sondern mittlerweile Piratenparteien aus aller Welt vertreten. Die Gründung einer Europäischen Piratenpartei ist zwar schon lange geplant, aber noch nicht umgesetzt. Bei einem Treffen in Prag im April 2012 verabschiedeten Vertreter verschiedener europäischer Piratenparteien die »Prager Erklärung«, in der - im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2014 - einige Absichtserklärungen gegeben wurden: Erstens planten die Piratenparteien wiederum mit einem gemeinsamen Kernprogramm in den Wahlkampf zu ziehen, zweitens wollten sie ihre Wahlkämpfe koordinieren, und drittens nach einer erfolgreichen Wahl im Europäischen Parlament zusammenarbeiten. Außerdem sprachen sie sich viertens dafür aus, eine europäische politische Partei zu gründen, analog beispielsweise zur Europäischen Volkspartei oder der Sozialdemokratischen Partei Europas. Die Arbeitstreffen zur Konkretisierung dieser Vorhaben finden dann wiederum online statt, sodass sich interessierte Piraten beteiligen können, ohne durch Europa reisen zu müssen.

Das gemeinsame Programm der europäischen Piratenparteien ist, wie dargestellt, proeuropäisch. Durch den Wahlerfolg der schwedischen Piratpartiet verfügen sie über zwei Abgeordnete im Europäischen Parlament, Lars Christian Engström und Amelia Andersdotter. Diese schlossen sich der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz an, mit denen es nach Aussage von Engström bei der Netzpolitik die meisten Übereinstimmungen gäbe. Bei allen Fragen, zu denen die Piratpartiet keine Position habe, wollten sie sich am Abstimmungsverhalten der Grünen orientieren.

Während also die Zusammenarbeit der Piratenparteien auf europäischer Ebene für die geringe Größe der Parteien enorm ist, gibt es mit den anderen beschriebenen Parteien keine Zusammenarbeit. Die Bewegungen von Gnarr und Grillo sind ortsbezogene Projekte, in die Pirate Parties International dürften diese schon deswegen nicht eintreten, weil sie das Wort »Pirat« nicht im Parteinamen führen. Ihr Erfolg ist auf andere Länder nicht übertragbar, weil er untrennbar mit ihren Führungspersönlichkeiten sowie mit ihrem Ansehen im jeweiligen Land verbunden ist. Zwar fuhren nach dem Wahlerfolg in Berlin einige der neu gewählten Abgeordneten der deutschen Piratenpartei nach Island, um sich mit Vertretern der Besti flokkurinn zu treffen, dabei handelte es sich aber lediglich um einen für die Medien inszenierten PR-Termin.


5. Fazit und Handlungsempfehlungen

Nach ihrer Gründung in Schweden breitete sich das Phänomen »Piratenpartei« schnell in Europa aus. Mit den internetbezogenen Kernthemen Reform des Urheberrechts und Stärkung der (digitalen) Bürgerrechte errang die Partei bei der Europawahl 2009 erstmals zwei Sitze, weil das Thema durch äußere Umstände kurz vor der Wahl enorm an Bedeutung gewonnen hatte. Ihr Wahlerfolg lässt sich nicht als Protestwahl erklären. Mit dem Abflauen des Themas versank die Partei wieder in der Bedeutungslosigkeit, da sie sich voll auf ihre ursprünglichen Kernthemen fokussiert hatte. Bei der Landtagswahl in Berlin im Herbst 2011 zog die Piratenpartei in Deutschland erstmals in ein Landesparlament ein. Wahlentscheidend war hier nicht das eigentliche Kernthema der Piratenparteien, sondern, dass die Piraten in der öffentlichen Wahrnehmung für Transparenz in der Politik, mehr innerparteiliche Mitbestimmung und mehr direkte Demokratie standen. Menschen, die in Bezug auf diese Themen mit den etablierten Parteien unzufrieden waren, wählten die Piratenpartei, weil sie sich als Anti-Parteien-Partei darstellen konnte. Das Konzept der deutschen Piratenpartei kann man als Alternative zum schwedischen auffassen - es gibt also innerhalb der Parteienfamilie der Piratenparteien zwei sehr unterschiedliche Strömungen. Weitet man den Blick auf andere Parteien und Bewegungen, die in Europa für mehr Transparenz in der Politik, mehr (innerparteiliche) Demokratie und gegen die etablierten Parteien stehen, fallen vor allem die Besti flokkurinn in Island sowie die M5S in Italien auf. Aber auch abseits der hier vorgestellten Beispiele gibt es gerade in Ländern, in denen Direktkandidaten in Einerwahlkreisen gewählt werden, und europaweit bei Kommunal- oder Bürgermeisterwahlen immer wieder einzelne Kandidaten oder kleine, meist lokale Gruppen, die mit den genannten Themen (Achtungs-)Erfolge erzielen können. Die Betrachtung einiger dieser Parteien zeigen, dass besondere Rahmenbedingungen(8) für ihren Erfolg notwendig sind. Ein gutes Angebot muss mit einer entsprechenden Wählernachfrage, beispielsweise durch eine tiefe Krise des Parteiensystems, zusammentreffen.

Das Erstarken der betrachteten Parteien kann also als Symptom - und nicht als Ursache - für eine Krise des politischen Systems gewertet werden. Sie politisch zu bekämpfen ist also nicht unbedingt sinnvoll. Stattdessen sollten gerade etablierte linksliberale, emanzipatorische Parteien die Gründe für diese Krise angehen. Einige Vorschläge dazu sollen hier kurz umrissen werden:

• Innerparteiliche Beteiligungsmöglichkeiten stärken: Die Attraktivität der vorgestellten Parteien hängt zu einem Teil mit den innerparteilichen Beteiligungsmöglichkeiten zusammen. Diese werden zwar auch bei den Piratenparteien verhältnismäßig wenig genutzt, ihr Fehlen bei den etablierten Parteien wird aber als großes Manko empfunden und lässt diese unattraktiv erscheinen - nicht nur für Mitglieder, sondern auch für Wähler. Dabei sollte natürlich das Internet stärker als bisher eingebunden werden. Allerdings gibt es auch in der realen Welt noch viel Luft nach oben; so könnten beispielsweise in Städten und Stadtstaaten Parteitage grundsätzlich als für alle offene Mitgliederversammlungen abgehalten und auf Delegierte verzichtet werden. Allerdings sollten die Parteien sich hüten, die Konzepte der Piratenpartei zu kopieren: Ein Bundesparteitag als Mitgliederversammlung beispielsweise führt zu einem Weniger an innerparteilicher Demokratie.

• Mehr Transparenz: Politik und Verwaltung müssen, wo dies möglich und sinnvoll ist, transparenter werden. Die beschriebenen Parteien sind auch deswegen so erfolgreich, weil ein Teil der Wähler die etablierten Parteien und ihre Funktionsträger für korrupt hält. Abgeordnete wie Parteien sollten daher beispielsweise deutlich machen, woher sie Spenden oder Nebeneinkünfte bekommen und was sie dafür gegebenenfalls tun. Gerade beim Thema Lobbyismus kann viel getan werden, beispielsweise durch die Einführung eines Registers. Aber auch einige Entscheidungsprozesse sollten transparenter gestaltet werden. Wichtig ist jedoch auch hier, nicht den vermeintlich transparenten Piraten hinterherzulaufen und zu versuchen, immer alles für die Öffentlichkeit einsehbar zu machen. Bei vielen Prozessen ist es wichtig, intern miteinander sprechen zu können. Darum ist der Punkt der Kommunikation noch wichtiger als der der Transparenz.

• Bessere Kommunikation: Politische Prozesse können nicht immer transparent sein. Parteien können nicht komplett auf Spenden verzichten. Nebenjobs für Abgeordnete können sinnvoll sein. Ohne Fraktionsdisziplin funktionieren Parlamente in modernen Massendemokratien nicht. Mit diesen einfachen, aber unbeliebten Wahrheiten dürfen die etablierten Parteien nicht verschämt hinter dem Berg halten oder versuchen, das Thema unter den Teppich zu kehren - vielmehr müssen sie den Bürgern offensiv erklären, warum das politische System so ist, wie es ist. Nicht jede Sitzung kann transparent gestaltet werden, wohl lässt sich aber immer erklären, warum sie nicht transparent sein kann. Immer wieder zeigt sich, dass ein Teil der Unzufriedenheit aus Unkenntnis über die politischen Abläufe resultiert. Ein gutes Beispiel ist hier der Kompromiss, eine große Errungenschaft und zentral für das Funktionieren einer Demokratie. Viele jedoch sehen darin Gemauschel oder Parteienklüngel, und Politiker behandeln den Kompromiss zu oft stiefmütterlich, indem sie im Anschluss verkünden, sich durchgesetzt zu haben und eigentlich die Sieger zu sein. Wichtig wäre es stattdessen, den Menschen zu erklären, dass und warum der Kompromiss gut und richtig ist, nicht nur in diesem konkreten Einzelfall, sondern als ein wichtiges Prinzip der Demokratie. Diese Aufgabe müssten die Politiker insgesamt ernster nehmen.

• Das Urheberrecht nicht in den Mittelpunkt stellen: Nur in einer besonderen Situation hat die Debatte um das Urheberrecht für einen Wahlerfolg der Piratenparteien gesorgt, den meisten Wählern ist diese Frage egal. Es ist also ein Irrglaube, wenn man meint, mit einer Urheberrechtsreform, wie die Piraten sie fordern, den Parteien das Wasser abgraben zu können. Falls das Urheberrecht einer Reform bedarf, dann sollte diese sachbezogen angegangen werden - und nicht mit Blick auf die Piraten und ihre Forderungen.

• Bessere Korruptionsbekämpfung: Wie beschrieben ist es wichtig, den Eindruck von Korruption möglichst zu vermeiden. Wichtiger aber noch ist logischerweise, Korruption in der Politik insgesamt zu bekämpfen. Nicht in allen europäischen Staaten gibt es hierzu ausreichend strenge Regeln, auch in Deutschland könnte das Gesetz zur Abgeordnetenbestechung reformiert werden. In vielen europäischen Ländern werden die Regeln auch nicht ausreichend kontrolliert und Verstöße sanktioniert - für dieses alles sollten sich linke, emanzipatorische Parteien einsetzen.

• Große Erzählungen verteidigen: Die neuen, erfolgrei-chen Parteien lehnen für sich die Einteilung in rechts oder links ab und halten Ideologien für überholt. Das aber verschleiert, auf welcher Basis Entscheidungen getroffen werden: Bei der Frage nach einem Mindestlohn oder Quotenregelungen gibt es kein falsch oder richtig, sondern aufgrund unterschiedlicher Menschenbilder oder einem anderen Verständnis von Staat kommen unterschiedliche Parteien zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wer vorgibt, mit Fachwissen die richtige Entscheidung treffen zu wollen, sollte dafür rhetorisch angegangen werden.


Anmerkungen

(1) So steht das Projekt »eurotours 2012«, eine durch die Europäische Kommission ermöglichte journalistische Recherchereise, beispielsweise unter dem Motto »Europäischer Frühling? - zwischen Bürgerprotest und Demokratiekrise«.

(2) http://www.piratenpartei.at/partei/ (aufgerufen am 11.06.2012).

(3) http://www.pirateparty.org.uk/policies/uk-2011/ (aufgerufen am 11.06.2012).

(4) Nach dem Erfolg der deutschen Piratenpartei nehmen sich bereits einige Piratenparteien, die bisher eher dem schwedischen Modell gefolgt sind, das deutsche Konzept als Vorbild für die eigene Entwicklung.

(5) Hier zeigt sich exemplarisch die Schwierigkeit bei der Einordnung von Nicht-Piratenparteien in die Parteifamilie der Piratenparteien: Während die Borgarahreyfingin, was Struktur, Habitus, Auftreten und Forderungen angeht, mit der deutschen Piratenpartei sehr viele Gemeinsamkeiten aufweist (und darum hier vorgestellt wird), hat sie mit der schwedischen Piratpartiet nur wenig gemein. Allerdings steht eine ihrer vier Abgeordneten, Birgitta Jónsdóttir, als Wikileaks-Aktivistin wiederum thematisch auch der Piratpartiet nahe.

(6) Den neu gewählten Bürgermeistern erschwert dieser Umstand allerdings naturgemäß die Arbeit, den Gemeindeausschuss in der jeweiligen Stadt hatte zwei Monate nach der Wahl noch keiner der vier besetzen können.

(7) Ob es sich bei der Ruch Palikota um eine (links-)populistische Partei handelt, kann und soll hier nicht diskutiert werden.

(8) Neben den hier dargestellten speziellen Rahmenbedingungen gibt es natürlich weitere, die ganz allgemein den Erfolg neuer Parteien begünstigen. Dazu zählen zum Beispiel ein Verhältniswahlsystem, geringe Hürden für die Wahlteilnahme oder ein leichter Zugang zur staatlichen Parteienfinanzierung.


Literatur

Bartels, Henning (2009): Die Piratenpartei. Entstehung, Forderungen und Perspektiven der Bewegung. Berlin: Contumax-Verlag.

Bremer, Jörg (2012): In Italien Erfolge für Linke und Grillo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.3.2012).

Dethlefsen, Knut / Walter, Julia (2012): Zwischen antiklerikaler Systemopposition und postkommunistischer Orientierungslosigkeit. Die polnische Linke auf der Suche nach sich selbst. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Erlingsson, Gissur / Persson, Mikael (2011): The Swedish Pirate Party and the 2009 European Parliament Election: Protest or Issue Voting?, in: Politics 31 (3), S. 121-128.

Hardarson, Olafur / Kristinsson, Gunnar (2010): The parliamentary election in Iceland, April 2009, in: Electoral Studies 29, S. 523-526.

Hardarson, Olafur / Kristinsson, Gunnar (2011): Iceland, in: European Journal of Political Research 50, S. 999-1003.

Laaff, Meike (2010): Kernis gegen Vollis, in: die tageszeitung (21.11.2010); http://www.taz.de/!61579/ (aufgerufen am 6.8.2012).

Larsson, Linda (2011): Die schwedische Piratenpartei. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Navarria, Giovanni (2009): Beppegrillo.it. One Year in the Life of an Italian Blog, in: Russell, Adrienne / Echchaibi, Nabil (Hrsg.): International Blogging. Identity, Politics and Networked Publics. New York: Peter Lang, S. 151-172.

Navarria, Giovanni (2010): Politics vs. Antipolitics in Italy in the Age of Monitory Democracy: The Complex Case of beppegrillo.it, in: Amna, Erik (Hrsg.): New Forms of Citizen Participation. Baden-Baden: Nomos, S. 175-188.

Niedermayer, Oskar (Hrsg.) (2012): Die Piratenpartei, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Tronconi, Filippo (2010): The Italian Regional Elections of March 2010. Continuity and a Few Surprises, in: Regional and Federal Studies 20 (4-5), S. 577-586.


Über den Autor

Carsten Koschmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Stammer-Zentrum für politische Soziologie am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zur Piratenpartei veröffentlichte er zuletzt im September 2012 »Die Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus« im Sammelband »Die Piratenpartei«, herausgegeben von Oskar Niedermayer im VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2012