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PARTEIEN/137: Horchposten statt Karrierenetzwerke (spw)


spw - Ausgabe 6/2014 - Heft 205
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Horchposten statt Karrierenetzwerke

von Tom Strohschneider



Erstens

Sie haben eine feste Rolle auf der politischen Bühne: die Flügelorganisationen von Linkspartei und Grünen. Sie sind Agenturen von innerparteilichen Auseinandersetzungen um Kurs, Ämter und Ressourcen. Einerseits. Andererseits gelten sie als wichtige Institute der politischen Debatte, als Ausweis von Pluralismus und programmatischer Bewegung. Beginnen sie heftiger zu schlagen, beeinflusst das die politische Kultur in Parteien - nicht immer zum Besseren.

Was durch Strömungsorganisationen in die Diskussion gelangt, vermag Nuancen im Inneren von Parteien zu verdeutlichen, die sonst in deren Außenkommunikation allzu gern mit den Mitteln des politischen Marketings eingeebnet werden. In der Mediendemokratie bekommen die Flügel von Parteien noch eine weitere Funktion - sie bilden die Fixpunkte in einem groben Raster, das zwar keineswegs immer mit den realen Prozessen in Parteien übereinstimmt, diese aber einem an kurzatmige und vor allem einfache Erklärungen gewöhnten Publikum in verdaulichen Häppchen präsentiert. Nicht zuletzt werden die Flügel von der parteipolitischen Konkurrenz gebraucht: um Abgrenzungsverhalten zu begründen oder Annäherungsoptionen zu markieren.

Also: Bleibt alles Fundis und Realos, oder was? Nein, so einfach kann man sich die Sache nicht machen. Denn auf den Flügeln von Linkspartei und Grünen gibt es schon länger Bewegung - mehr noch: Es wird inzwischen viel darüber diskutiert, ob die Bedeutung von Strömungsorganisationen überdacht werden müsste und in welchem Verhältnis sie zu den Mehrheiten der Parteimitglieder stehen, die sich keinem Flügel zugehörig fühlen.

Das hat auch etwas mit dem Faktor Zeit zu tun. Denn Flügelkulturen sind ein Abdruck der Vergangenheit, Formen, die unter Bedingungen entstanden sind, die inzwischen so nicht mehr existieren. Wenn mit Blick auf die Grünen etwa heute wie selbstverständlich von Fundis und Realos, eher: Linken und Realos die Rede ist, dann spiegelt das zwar auch die tatsächliche Quotierung in den Parteiämtern - aber spiegelt es noch die politische Debattenlage wider?

Ähnlich verhält es sich bei der Linkspartei, deren Flügelstrukturen sogar aus zwei Vergangenheitsebenen rühren - jener der PDS, in der sich Anfang der 1990er Jahre unterschiedliche Strömungen herausbildeten und jene der Fusionszeit mit der Wahlalternative, als um das Jahr 2006 herum neue Binnenorganisationen entstanden.

Hinzu kommt, dass das Bild von den Flügeln zu grob ist in dem Sinne, als dass damit der Eindruck von zwei Lagern - eines rechts, eines links - erweckt wird, die ziemlich dauerhaft existieren und um eine Art Zentrum herum ihre Kräfte entfalten. Auch das entspricht keineswegs immer den Verhältnissen innerhalb von Parteien, die weit komplizierter sind. Es bilden sich Kooperationen zwischen Strömungsorganisationen, diese bleiben aber nicht stabil. Und mitunter spaltet sich auch eine Flügelgruppe, was wiederum die Balance innerhalb der Flügelkultur beeinflusst.

Auf eine gewisse Weise sind Strömungen auch Anschlussstellen in die Gesellschaft: Wem das Gesamtangebot einer Partei nicht ausreicht, findet in der von einer Flügelorganisation vertretenen Position womöglich einen Ankerpunkt für eigene Mitgliedschaft, vorübergehendes Engagement oder auch nur die politische Vertretung eigener Interessen. Zugleich aber sind sie immer stärker auch zu Gründen geworden, die gegen Parteien sprechen - weil sie das Apparathafte, die Karriere, das Zerstrittene repräsentieren.

Es würde zu weit gehen, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ansehensrückgang von Parteien und dem Gebaren ihrer Strömungsorganisationen zu konstruieren - es fehlt dafür eine empirische Grundlage. Die Annahme, dass die sichtbare Enttäuschung über "die Parteien" und die Funktionsweise der Parteiendemokratie etwas mit den Strömungsorganisationen zu tun hat, die in den Medien oftmals die "Bilder der Parteien" erzeugen, ist nicht einfach vom Tisch zu wischen.


Zweitens

Um die prekäre Gegenwart der Flügel bei Linkspartei und Grünen zu verstehen, muss man zunächst an deren Vergangenheit erinnern. Die Ökopartei war zunächst aus einem vielfältigen Spektrum von Akteuren entstanden - der Bogen reichte von einem auf die Natur orientierten Konservatismus über die bunte Alternativszene bis zu den Restbeständen linksradikaler Gruppen. Die Parlamentarisierung der Grünen verdichtete die vielfältigen Differenzen in den 1980er Jahren auf einen zentralen Widerspruch: Mitregieren oder in der Opposition für gesellschaftliche Veränderung eintreten.

Einen wichtigen Hintergrund liefern die Debatten über die erste rot-grüne Koalition in Hessen, die 1985 ins Amt kam und schon 1987 scheiterte. Realos und Fundis repräsentierten dabei aber nicht nur die parteiinterne Konfliktlage, sondern wurden auch zu äußeren Erzählungen, in die politische Bedeutungen eingeflochten sind.

"Realos" machten Kompromisse, wurden als Pragmatiker dafür nicht nur von der politischen Konkurrenz gelobt - stellten aber womöglich auch grüne Gewissheiten zur Disposition, im schlimmsten Fall: für Ämter.

Das Bild vom "Fundi" war ebenso doppelsinnig - einerseits negativ aufgeladen, weil dieser Flügel sich angeblich dem üblichen politischen Geschäft des Gebens und Nehmens verweigerte und auf radikale, gegebenenfalls sogar als umstürzlerisch bezeichnete Umgestaltung zielte, schlimmer noch: auf Visionen. Zugleich aber konnte in ihnen auch ein Moment der Glaubwürdigkeit und Stabilität gesehen werden, eine Strömung, welche sich der Bewahrung ureigener grüner Prinzipien wie etwa in der Friedenspolitik verschrieben hat.

Die Lage bei den Grünen hat sich verändert - und ist doch auch gleich geblieben. "Heute heißen die Strömungen Flügel und gehen wesentlich zivilisierter miteinander um", heißt es in einer Selbstbeschreibung der Partei. Statt von Fundis und Realos will man lieber von Linken und Reformern sprechen, unterhalb dieser Zweiteilung haben sich zwischenzeitlich neue Mikrozentren gebildet. Dies ist auch und nicht zuletzt eine Reaktion auf die als überkommen betrachtete Flügel-Parität. Es machen sich aber auch generationelle Veränderungen bemerkbar - also die Praxis einer neuen Generation von Grünen-Politikern, die außerhalb der traditionellen Flügelkultur sozialisiert ist oder jedenfalls außerhalb von ihr die größeren Chancen für den eigenen Aufstieg innerhalb der Partei oder die Durchsetzung inhaltlicher Positionen sieht.

Ende November hat Robert Zion, prominenter Linker der Grünen, öffentlich erklärt, "warum ich die Parteiflügel verlasse". Zion, Jahrgang 1966 und vor allem durch sein Engagement für eine Korrektur der Afghanistanpolitik der Grünen ab 2007 bekannt geworden, nennt die "seit der Gründungszeit überkommene Flügelstruktur" der Grünen "politisch überholt". Zion spricht von einem "informellen Personalorganisationsprinzip", das "dem Debattenbedarf über die strategische und inhaltliche Richtung der Partei nicht mehr gerecht wird".

Die auf die Flügel projizierten parteiinternen "Gegnerschaften werden in dieser Struktur übermäßig ritualisiert, schwierige und inhaltlich Substanz verlangende Debatten in ihr unverhältnismäßig vereinfacht", schreibt der Gelsenkirchner, der selbst so etwas wie ein Flügelprominenter war - unter anderem im neuen Koordinationskreis der Grünen Linken. "Nach über zehnjähriger Arbeit in der Partei ist es leider meine Grunderfahrung, dass sich der faktische Zwang zur Flügelloyalität - aufgrund der informellen Hoheit der Flügel über Ämter- und Mandatsvergaben - in diesem Organisationsprinzip auch vor politisch eigen- und selbstständigem Denken und Agieren nahezu immer durchsetzt."

Die Kritik kommt aber nicht nur von links. Robert Habeck, schleswig-holsteinischer Umweltminister und den Realos zugerechnet, hat sich ebenfalls Ende November zu Wort gemeldet - und ebenfalls die Flügelstruktur als überholt bezeichnet. Was sich einst daran ausgerichtet habe, ob man mit der SPD regieren wolle oder nicht, passe nicht mehr zur heutigen Wirklichkeit. Es bestimmt aber weiterhin die Grünen-interne Praxis, etwa bei der Besetzung der Ämter, bei denen nach wie vor gilt: einer von den Linken, einer von den Reformern. "In dieser Suppe hängen die Vorsitzenden. Da ist es enorm schwierig, sich zu positionieren oder zu behaupten", sagt Habeck.

Welche Chancen ein Selbstverständnis jenseits der Flügelarithmetik hat, lässt sich schwerlich vorhersagen. Die letzte Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Hamburg hat erahnen lassen, dass die alte Frage "mit der SPD oder nicht" inzwischen abgelöst worden ist von einem diffuseren Konflikt um grüne Eigenständigkeit und die Offenheit in beide Richtungen des Parteiensystems - also hin zu Rot-Rot-Grün oder zu einem Bündnis mit der Union. Klare Unterschiede lassen sich auch heute noch feststellen, etwa wenn es um die Rolle steuerlicher Umverteilung geht oder um das, was neuerdings nicht nur bei den Grünen "Wirtschaftsfreundlichkeit" heißt. Die Liste ließe sich fortsetzen, etwa mit Blick auf die Zustimmung der grün-geführten Landesregierung in Baden-Württemberg zum so genannten Asylkompromiss.

Es spricht auch etwas gegen die These von der Prekarität der Flügel: die Vermutung, dass gerade das medial verbreitete einfache Raster von Fundis und Realos oder Linken und Reformern ein Vorteil für die Grünen darstellt. Zwar herrscht in der Parteienforschung die Annahme vor, dass sich parteiinterner Streit negativ auf die Wählerzustimmung auswirkt. Wenn die Konflikte aber auf verträgliche Weise geführt werden, kann das Realo-Fundi-Bild auch positiv wirken - weil es das Festhalten an einer Tradition und den Eindruck von Prinzipienfestigkeit vermittelt.

Veränderungen in der Strömungsdynamik lassen sich seit längerem auch bei der Linkspartei beobachten. Deren Flügelstruktur ist komplexer ausgestaltet als jene der Grünen. In der Öffentlichkeit wird das Innere der Partei aber auch meist auf Reformer und Fundis oder Pragmatiker und Radikaloppositionelle reduziert. Dass es bei näherer Betrachtung schon falsch sein kann, von einem geschlossenen Reformerlager auszugehen, haben die Diskussionen im Forum demokratischer Sozialismus in den vergangenen Jahren gezeigt. Auf dem Flügel der Linken, der sich als der linke betrachtet, hat es in den vergangenen Jahren zudem Neuordnungsprozesse gegeben: Von der Antikapitalistischen Linken spaltete sich ein Netzwerk "Freiheit durch Sozialismus" ab. Die sich als Nicht-Strömung verstehende Emanzipatorische Linke hatte erhebliche Existenzprobleme - und das in einer Zeit, in der die Mitgründerin Katja Kipping an die Parteispitze gelangte.

Nicht zuletzt sind auch die Kooperationsverhältnisse zwischen den Strömungsorganisationen in Bewegung. Im Januar trifft sich mit der Sozialistischen Linken einer der größeren Player im parteiinternen Flügelgeschäft, dann wird auch ein Antrag zur Beratung stehen, der sich gegen eine Fortsetzung der "Aktionseinheit" mit der Antikapitalistischen Linken ausspricht.

In der Linkspartei gibt es schon seit einigen Jahren immer wieder Versuche, zumindest eine Überbetonung der Flügelarithmetik in den innerparteilichen Prozessen zu überwinden. Schon 1998, also vor der Fusion mit der Wahlalternative, hieß es aus dem Reformerlager, "so unverzichtbar Flügel und Strömungen für einen lebendigen, demokratischen, innerparteilichen Pluralismus sind, eines vermögen sie nicht - der Partei als Ganzes Profil und Handlungsfähigkeit zu geben". Zugleich aber wurde damals schon gewarnt, dass einer Partei ohne Flügel, "die sich inhaltlich definieren", die Stagnation droht, "weil ihr der innere Drang zur Weiterentwicklung ausginge".


Drittens

Bleibt also nur medial getriebener Streit oder programmatischer Stillstand? Wenn man einen Ausblick wagen soll, dann vielleicht diesen: Die Parteienlandschaft ist nicht nur insofern in Bewegung, als dass sich Bündnisoptionen verändern (Rot-Rot-Grün), die Voraussetzungen für parlamentarische Gestaltung schwieriger werden (Schuldenbremse) und den großen bekannten Herausforderungen sich neue hinzugesellen, die nicht ohne weiteres Vertretung im klassischen Parteiensystem finden (Digitalisierung) - die politische Landschaft ist noch auf eine weitere Probe gestellt: die Parteien müssen sich neu erfinden.

Dabei könnten Strömungsorganisationen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings nicht, wenn sie weiterhin vor allem als Agenturen der Ämterverteilung, als wenig legitimierte Hausmächte agieren - sondern ihre Zukunft wieder in der Vergangenheit suchen, worauf Matthias Micus vom Göttinger Institut für Demokratieforschung unlängst in "neues deutschland" verwiesen hat.

Es könnte so wieder zum hauptsächlichen Zweck von Flügelorganisationen werden, die Verankerung von Parteien in unterschiedlichen Bevölkerungskreisen zu stärken, für "gesellschaftliche Erdung und Verwurzelung" zu sorgen, als "Horchposten in die Gesellschaft, Seismographen" (Micus) zu wirken. Das stärkt und reaktiviert soziale Verwurzelung - und macht sensibel für Veränderungen in der Gesellschaft. Die Strömungsorganisation haben also eine Zukunft: als Mischung aus debattenfrohem Think Tank und bewegungsähnlichem Basisnetzwerk.


Tom Strohschneider, Jahrgang 1974, ist Chefredakteur der Tageszeitung "neues deutschland". Von ihm erschien zuletzt: "Linke Mehrheit?" Eine Flugschrift über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie bei VSA: Hamburg.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2014, Heft 205, Seite
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2015


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