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PARTEIEN/143: Einheit in der Spaltung - Die Linke nach Gysi (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2015

Einheit in der Spaltung: Die Linke nach Gysi

von Albrecht von Lucke


Der 7. Juni 2015 bedeutet eine gewaltige Zäsur für die Linkspartei, größer noch als jene, die der Abgang Oskar Lafontaines darstellte. Mit dem Rückzug Gregor Gysis hat sich die Integrationsfigur der letzten 25 Jahre aus der ersten Reihe verabschiedet. Wenn die Linkspartei tatsächlich nicht ohne Oskar Lafontaine zustande gekommen wäre, wofür vieles spricht, dann die PDS zweifellos nicht ohne Gregor Gysi. Wohl nur durch den quirlig-umtriebigen Anwalt konnte die SED erfolgreich in ihre Nachfolgeorganisation überführt und damit auch zur Basis für die spätere Linkspartei werden. Gysi, dem von Beginn an alles Kaderhafte abging, war der Einzige, der mit seiner virtuosen Eloquenz über unmittelbare Anschlussfähigkeit auch im Westen verfügte. Gleichzeitig war Gysi - spätestens seit dem Tode Lothar Biskys - derjenige, der die hoch zerstrittene Partei bis zuletzt zusammenhielt.

In seiner Bilanzrede auf dem Parteitag in Bielefeld, die noch keine echte Abschiedsrede war (eine Bundestagskandidatur für 2017 wurde von ihm nicht ausgeschlossen), betonte Gysi, dass eine erfolgreiche Linke der Zukunft die Interessen vieler vertreten muss, vom Obdachlosen bis zum Unternehmer. Vor allem aber hat Gysi der Partei ein doppeltes Vermächtnis hinterlassen: Einheit nach innen und Regierungsfähigkeit nach außen.

Faktisch weiß er allerdings ganz genau, dass seine Partei beide Aufträge zusammen gar nicht erfüllen kann, jedenfalls nicht bis zur Bundestagswahl 2017. Denn wenn es einem hätte gelingen können, die Partei regierungsfähig zu machen, dann nur ihm, Gregor Gysi. Dafür allerdings hätte es eines sehr viel rigideren Führungsstils bedurft. Dass Gysi selbst diesen nicht anwandte - ob aus fehlender Härte oder zu großem Anerkennungsbedürfnis, vermutlich aus beidem -, das bereits zeigt, dass seine Nachfolger kaum eine reelle Chance haben werden, bis 2017 eine rot-rot-grüne Option zu entwickeln - so sie dies überhaupt wollen. Letzteres muss für einen ganz erheblichen Teil der Partei bezweifelt werden.

Hinzu kommt aber noch etwas Entscheidenderes: Die ganze Partei basiert nach der Beinahe-Spaltung von 2012 nur auf dem Burgfrieden der beiden hoch verfeindeten Lager. Gregor Gysi brachte vor geraumer Zeit die Entwicklung seit dem Göttinger Parteitag auf den Punkt: "Die, die sich nicht mochten, haben da verstanden, dass sie sich gegenseitig brauchen." In der Tat: Ohne die pragmatischen Reformer im Osten würde es ebenso wenig für die erforderlichen 5 Prozent reichen, wie ohne die Fundamentalopposition um Sahra Wagenknecht. Daher hat man sich, mehr schlecht als recht, miteinander arrangiert. Selbst der liberale Reformer Stefan Liebich, obschon rotes Tuch der linken Linken, plädierte offensiv für Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende, trotz fundamentaler Unterschiede in den politischen Überzeugungen. Was nichts anderes bedeutet, als dass es sich heute bei der Linkspartei nicht zuletzt um eine politische Zweckgemeinschaft handelt - zusammengehalten durch die Notwendigkeit, sich gegenseitig das parlamentarische Überleben zu sichern.

Gerade Gysi stellte den Burgfrieden der beiden Lager über alles, indem er seine radikal-linken Gegenspieler bis zur Selbstverleugnung deckte.[1] Auch das flügelübergreifende Duo Bartsch/Wagenknecht war von Beginn an Gysis Wunsch. Damit entschied er sich primär für die Überlebensfähigkeit der Partei - zu Lasten ihrer Koalitionsfähigkeit, jedenfalls in näherer Zukunft.


Die neue Viererbande

Mit des großen Integrators Abgang wäre daher aus Sicht der Partei schon viel erreicht, wenn seinen Nachfolgern eine ähnliche Konsolidierung nach innen gelänge. Ab dem Parteitag am 13. Oktober wird es nun aller Voraussicht nach eine Viererbande an der Spitze geben, bestehend aus Katja Kipping und Bernd Riexinger als Parteivorsitzenden sowie Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht als dann neu gewählten Fraktionsvorsitzenden. Dass Doppelspitzen in aller Regel eine schwache Führung darstellen, kann man derzeit an den Grünen besichtigen. Zudem ist keiner der vier neuen Protagonisten derart flügelübergreifend anerkannt wie Gysi.

Bernd Riexinger und Katja Kipping haben die Führung der Partei zum Zeitpunkt ihrer größten Schwäche übernommen, nämlich auf dem Göttinger Parteitag 2012. Damals wurde die tiefe Gespaltenheit der Partei in aller Öffentlichkeit sichtbar. Seither arbeiten Kipping und Riexinger unentwegt, und durchaus erfolgreich, an der Integration der verfeindeten Lager, ohne der Partei jedoch eine klare strategische Ausrichtung verliehen zu haben.

Mit Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht stoßen nun zwei durchaus profilierte Figuren in die Parteispitze vor. Die Fähigkeiten des Reformers Bartsch, Weggenosse Gysis von Beginn an, liegen eher in der strategischen Arbeit im Hintergrund, immer ausgerichtet auf die Vergrößerung der koalitionären Machtoptionen. Sahra Wagenknecht hingegen ist ob ihrer Ausstrahlung die am stärksten nach außen, in den medialen Raum wirkende Figur des neuen Quartetts. Daraus resultiert ein klarer Vorteil bei der Präsentation ihrer Positionen.[2]

Bis zu seinem Rückzug war Gysi der eindeutige Primus der Partei. Im neuen Führungsquartett gibt es (noch) keinen Primus inter Pares, keinen Ersten unter Gleichen. In den nächsten Monaten und Jahren werden die vier Akteure sich einen offenen oder verdeckten Kampf um die unterschiedlichen Führungsanteile liefern. Gleichzeitig werden sie ihre Macht immer wieder gegenseitig auszutarieren versuchen. Um nämlich Gysis erstes Gebot, die innere Einheit, zu beherzigen, werden alle den Burgfrieden zwischen Fundis und Realos bekräftigen, der da lautet: Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel - trotz aller (bloß überdeckten) Widersprüche und ohne ein gemeinsames strategisches Projekt. Die Erfüllung von Gysis zweitem Auftrag, die Öffnung zur Regierungsbereitschaft, ist auf diese Weise fast unmöglich, jedenfalls bis 2017.


Einheit durch Gegnerschaft

Was die Partei dagegen über die Lager hinweg eint, ist derzeit vor allem dreierlei: erstens ihr Selbstverständnis als stärkste Oppositionspartei, ja als "die Opposition". "Ein historisches Ereignis" nannte Gregor Gysi die mageren 8,6 Prozent von 2013 (die auch auf die vorangegangene Zerstrittenheit zurückzuführen waren). Nach starken 11,9 Prozent bei der Wahl 2009 war die Partei damit noch ein Promill hinter dem "Einstiegsergebnis" von 2005 geblieben. Dennoch machte dieses Resultat die Linkspartei zur drittstärksten Kraft im Bundestag und damit zur Oppositionsführerin gegenüber den noch enttäuschender abschneidenden Grünen. Seither titelt "die Linke" stolz: "Wir sind Opposition".

Zweitens verbindet die Partei aber vor allem ihr Selbstverständnis als "die Friedenspartei". Durch die Einführung des Mindestlohns und die Rückkehr der Gewerkschaften ins SPD-Lager hat ihr Selbstverständnis als Anti-Hartz-IV-Partei etwas an Bedeutung eingebüßt. Umso mehr sieht die Linkspartei heute in der Friedensfrage ihr eigentliches Alleinstellungsmerkmal. Hier lässt die Parteiführung kein Blatt Papier zwischen die verschiedenen Flügel kommen. Mit ihr sollen jegliche Kampfeinsätze, auch unter UN-Mandat, ausgeschlossen sein, genauso wie ein Engagement in der Nato.

Das aber führt zur dritten und vielleicht wichtigsten Gemeinsamkeit: Am stärksten eint die Partei der politische Gegner. Und der ist aus Sicht der meisten noch immer die SPD. Auf dem Bielefelder Parteitag lieferten sich fast alle Redner einen regelrechten Überbietungswettbewerb bei der Feststellung, dass mit dieser SPD keine Koalitionsoptionen existieren. Höhepunkt, natürlich, Sahra Wagenknechts Suada mit Blick auf Sigmar Gabriels Politik in der Großen Koalition: "Die Linke ist ganz sicher nicht gegründet worden, um in dieser trüben Brühe mitzuschwimmen."

Natürlich sind angesichts derartiger Verbalinjurien ernsthafte Koalitionsverhandlungen kaum denkbar - und offensichtlich auch nicht gewollt. In dezidiert anderer Weise trat dagegen vor allem einer auf, nämlich der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow. Seine Devise: So wie das Regieren niemals zum Selbstzweck werden darf, so auch nicht das Nicht-Regieren. Stattdessen braucht es, so die Lehre aus Thüringen, "eine Perspektive, bei den Menschen die Angst abzubauen" vor einer linken Regierung. Deshalb komme es darauf an, rot-rot-grüne Gemeinsamkeiten zu sammeln, um den Menschen dann ein Angebot bei den Wahlen zu machen, auch mit potentiellen Koalitionskandidaten.

Dass es bis dahin im Bund noch ein weiter Weg sein dürfte, zeigte sich dagegen in den allermeisten Parteitagsreden. Dort wurden vor allem die roten Haltelinien unterstrichen. Mit dem zweiten Vermächtnis Gregor Gysis, der Offenheit gegenüber künftigen Regierungsbeteiligungen, hat diese Rhetorik wenig zu tun. Was aber hat das für Konsequenzen für 2017, gerade auch mit Blick auf die anderen Parteien?


Fatalismus bei der SPD-Linken

Die Reaktionen der potentiellen Koalitionspartner auf Gysis Abgang sind beredt. Zu beobachten sind eine optimistische und eine pessimistische Interpretation.

Bei der SPD überwiegt eindeutig die pessimistische Lesart, selbst auf dem linken Parteiflügel. Eine erstarkte Sahra Wagenknecht, so SPD-Vize Ralf Stegner fatalistisch, sei ein Garant dafür, "dass die Linke niemals Regierungsverantwortung übernimmt". Ohne Gysi werde es die Linkspartei sehr schwer haben, sich auf der Bundesebene von der Fundamentalopposition hin zu einem potentiellen Koalitionspartner zu entwickeln.

Die optimistische Interpretation von Gysis Abgang vertritt dagegen Michael Kellner. Jetzt, so der Bundesgeschäftsführer der Grünen, könne die Linke endlich ihre ungeklärte Richtungsfrage angehen: "weiter mit SPD-Verachtung in Daueropposition oder Arbeiten an progressiver Reformpolitik". Nachdem Gysi diese entscheidende Frage viel zu lange unter den Teppich gekehrt habe, käme die Linke an ihrer Klärung nun nicht mehr vorbei.

Offensichtlich macht sich der linke Grüne Kellner tatsächlich gewisse Hoffnungen auf eine neue Koalitionsbereitschaft der Linkspartei. Allerdings scheint hier eher der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Realistischerweise wird man feststellen müssen, dass Rot-Rot-Grün seit Gysis Rückzug noch unwahrscheinlicher geworden ist, als es davor bereits war.

Hauptleidtragende ist die SPD. Denn sie steht 2017 vermutlich wieder ohne echte Chance auf die Kanzlerschaft da. Wie seine Vorgänger Steinmeier und Steinbrück wäre der voraussichtliche Spitzenkandidat Sigmar Gabriel ein reiner Zählkandidat - wenn denn (jenseits der Großen Koalition) wieder nur eine linke Koalitionsoption zur Verfügung stünde. Daher stärkt Gysis Abgang die wirtschaftsnahen Kräfte in der SPD, die nun umso mehr auf eine Ampel-Koalition mit FDP und Grünen setzen. Immerhin lud sogar SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi unlängst sämtliche Parteien - also auch die außerparlamentarische FDP (aber nicht die AfD) - dazu ein, sich gemeinsam Gedanken über den Rückgang der Wahlbeteiligung zu machen. Offenbar wird die FDP also seitens der SPD noch nicht abgeschrieben, sondern als mögliche (letzte) Regierungsreserve gehandelt. Was allerdings eine aberwitzige Vorstellung ist, da sich Lindners Liberale 2017 radikal wirtschaftsliberal profilieren werden, also deutlich rechts von der in die Mitte gerückten Merkel-Union.


Alle Signale auf Schwarz-Grün

Weit wahrscheinlicher als die Ampel ist durch den Rückzug Gysis somit etwas anderes geworden: nämlich Schwarz-Grün. Bei den Grünen bekommen seither all jene Oberwasser, die ohnehin längst auf eine schwarz-grüne Option zielen, also die Realos um Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir und Winfried Kretschmann.

Bereits nach dem Ende von Rot-Grün 2005 hatte der Ober-Realo Joschka Fischer seinen Nachfolgern sein Vermächtnis mit auf den Weg gegeben: "Schwarz-Grün müsst Ihr nun machen." Heute, zehn Jahre später, gibt es mit Hessen einen erstaunlich reibungslos funktionierenden Präzedenzfall. Und bei der Auseinandersetzung um den zukünftigen männlichen Spitzenkandidaten, ausgetragen voraussichtlich zwischen Robert Habeck und Cem Özdemir, haben wir es in beiden Fällen mit Grünen zu tun, die einer Koalition mit der Union sehr offen gegenüberstehen - zumal die Merkel-Union an etlichen Punkten weit in die Mitte gewandert ist. Mit ihrer absehbaren Akzeptanz der Ehe für alle dürfte sich diese Tendenz noch verstärken.

Kurzum: Joschka Fischers Vermächtnis könnte 2017, zwölf Jahre nach seinem Abgang, Wirklichkeit werden. Mit dem Rücktritt Gregor Gysis ist das Land Schwarz-Grün jedenfalls wieder einen großen Schritt näher gekommen. Auf die Erfüllung seines eigenen Vermächtnisses dürfte Gysi dagegen noch eine ganze Weile warten müssen. Ob die Linkspartei zu einer echten linken Regierungspartei wird, hängt ab jetzt maßgeblich von einer Anderen ab, nämlich von Sahra Wagenknecht. Die Ironie der Geschichte: Um die Einheit und das Überleben der Partei zu sichern, hat Gregor Gysi die Entscheidung über die zukünftige Regierungsfähigkeit der Linkspartei in die Hände seiner größten Gegenspielerin gelegt. Nur wenn Wagenknecht selbst sich für ein mögliches Mitregieren entscheidet und überzeugend darauf hinwirkt, wird auch der linke Flügel eines Tages regierungswillig sein - immer vorausgesetzt, dass er seiner Leitfigur tatsächlich folgt. All das steht derzeit aber noch in den Sternen. Fest steht nur eins: Die Bundestagswahl 2017 kommt dafür aller Voraussicht nach zu früh. Für eine echte linke Alternative bis zur nächsten Wahl war der 7. Juni 2015 daher ein ziemlich schlechter Tag.


Anmerkungen:

[1] Exemplarisch dafür war das legendäre "Toiletten-Gate", als er sogar jene Abgeordneten vor Sanktionen bewahrte, deren Gäste ihn bis auf die Bundestagstoilette verfolgt hatten.

[2] Dagegen gilt Wagenknecht, was die Parteiführung nach innen anbelangt, als weit weniger talentiert und ambitioniert.

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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2015, S. 5 - 8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2015

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