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REDE/845: Angela Merkel auf der Festveranstaltung "175 Jahre Bertelsmann", 16.09.2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der Festveranstaltung "175 Jahre Bertelsmann" am 16. September 2010 in Berlin:


Sehr geehrter Herr Präsident, lieber José Manuel Barroso,
sehr geehrte Frau Mohn,
sehr geehrter Herr Ostrowski,
sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
sehr geehrte Frau Kommissarin,
liebe Kollegen aus dem Kabinett und aus den Parlamenten,
sehr verehrte Festversammlung,

als der Drucker Carl Bertelsmann im Juli 1835 in Gütersloh einen Verlag gründete, ahnte er sicher nicht, dass er damit den Grundstein für einen Weltkonzern legte. Wie sollte er auch? Von Globalisierung sollte erst weit über hundert Jahre später erstmals die Rede sein. Aber auch damals, 1835, war es eine Zeit des Umbruchs. Noch dominierten die Postkutschen, aber die ersten Eisenbahnen waren die Vorboten der industriellen Revolution. Immer mehr Menschen lernten lesen. Sie erfuhren Bücher und Zeitungen als praktische Hilfsmittel für die Teilhabe am gesellschaftlichen und auch am politischen Leben. So wurden Printmedien mehr und mehr zu Massenmedien. Es war also eine ausgesprochen günstige Zeit für eine Verlagsgründung. Und der Erfolg gab Carl Bertelsmann Recht - ein Erfolg, der weiter fortgeschrieben wurde. Die folgenden Unternehmergenerationen erweiterten das Verlagsprogramm und vergrößerten das Unternehmen durch Zukäufe anderer Verlage. Der wirtschaftliche Weg führte kontinuierlich bergauf.

Aber auch bei Bertelsmann verlief die Geschichte nicht ganz ohne Brüche. Mit dem Nationalsozialismus in Deutschland wurde ein dunkles Kapitel aufgeschlagen, das auch das Verlagshaus immer stärker in Beschlag nahm. Nationalsozialistisches und antisemitisches Gedankengut wurde leider auch Bestandteil des Verlagsprogramms. Es war deshalb ebenso unerlässlich wie unglaublich wichtig, dass der Bertelsmann-Verlag sich später mit diesem Teil der Unternehmensgeschichte auseinandergesetzt hat. Eine unabhängige Kommission wurde damit beauftragt, die Geschichte des Unternehmens zu erforschen. Die Ergebnisse wurden im Bericht "Bertelsmann im Dritten Reich" dokumentiert.

Sich offen der eigenen Geschichte zu stellen - das ist alles andere als selbstverständlich, aber es ist notwendig, um Zukunft gestalten zu können. Das wusste auch Reinhard Mohn. Von Anfang an zeichnete er sich als weitsichtiger, kluger Unternehmenslenker aus. Seine Aussage "Im Mittelpunkt steht der Mensch" spricht dafür, dass ihm die Menschen wichtig waren. Dabei war es alles andere als einfach, 1947 mit gerade einmal 26 Jahren die Leitung eines Betriebs im zerstörten Nachkriegsdeutschland zu übernehmen. Schließlich war es aber so, dass Reinhard Mohn Bertelsmann stärker verändert hat als alle seine Vorgänger zusammen. Er gab sich mit Erreichtem nicht zufrieden. Immer wieder nahm er technische und ökonomische Herausforderungen an, suchte nach neuen Möglichkeiten und Wegen für sein Unternehmen.

So traf Bertelsmann mit der Gründung des Leserings, der später als Buchclub bekannt wurde, offenbar den Nerv der Zeit. Die Menschen hatten nach dem Krieg wenig Geld, sie drehten jede Münze zweimal um, um sich Bücher leisten zu können. Die preisgünstigen Ausgaben im Lesering, die direkt nach Hause geschickt wurden, waren genau das, was die Menschen wollten. Schon nach vier Jahren hatte der Bertelsmann-Lesering über eine Million Mitglieder. Die geniale Idee des Buchclubs führte Reinhard Mohn dann auch in anderen europäischen Ländern ein, etwa in Großbritannien, Frankreich, Spanien und den Niederlanden. Er hat sozusagen "Europa" vorweggenommen.

Aber das Verlagshaus expandierte nicht nur räumlich, sondern eroberte auch neue Geschäftsfelder. Erst stieg Bertelsmann in das florierende Schallplattengeschäft ein, dann in den 60er Jahren ins Filmgeschäft. In den 70ern zählt das Verlagshaus mit der Mehrheitsbeteiligung bei Gruner und Jahr zu den Großen im Zeitschriftensektor. Und schließlich erfolgte in den 80ern der Einstieg ins Privatfernsehen, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Heute gehört die größte europäische Privatsendergruppe zum Bertelsmann-Konzern. Ich glaube, man kann sagen: Ohne Reinhard Mohn wäre aus dem Carl Bertelsmann Verlag nicht der Weltkonzern Bertelsmann AG geworden.

So eindrucksvoll der bisherige Werdegang des Unternehmens auch ist, so wissen wir alle aber: Die Medienlandschaft ist stets in Bewegung - ich glaube, heute mehr denn je. Vielleicht erleben wir gerade die prägendste Veränderung der Medienlandschaft seit Erfindung des Buchdrucks. Denn die Digitalisierung stellt selbst einen Weltkonzern wie Bertelsmann vor neue, in all ihren Auswirkungen vielleicht noch nicht hundertprozentig absehbare Herausforderungen. Die praktisch bedeutsamste Folge der Digitalisierung zeigt sich am Beispiel des Siegeszugs des Internet in unseren Alltag. Die Rede ist von der Konvergenz der Medien, das heißt, dem Zusammenwachsen von Medieninhalten, technischen Kommunikationsstrukturen und Endgeräten sowie der Telekommunikations- und Medienbranchen - mit all den Schmerzen, die damit verbunden sind, mit all dem neuen Denken, das diese Konvergenz verlangt, mit all den neuen Fragestellungen und auch unternehmerischen Risiken. Setze ich auf den Computer, der sich zum Fernseher entwickelt, oder setze ich auf den Fernseher, der sich zum Computer entwickelt? Wie denken die Kunden, wie wird sich das entwickeln? Ich kann die Unternehmen immer nur ermuntern: Machen Sie es den Kunden praktisch und möglichst leicht. Die meisten Menschen lesen nicht so gerne viele Bedienungsanleitungen, sondern wollen die Bedienung der Geräte sofort verstehen.

Die Grenzen der klassischen Medienbereiche - Presse, Hörfunk und Fernsehen - verlieren also Schritt für Schritt an Bedeutung. Völlig neue Angebotsformen entstehen, die das klassische "Sender-Empfänger-Schema" der analogen Welt überwinden und die auch den Kunden immer mehr als aktiven Teilnehmer einbeziehen. Ich glaube aber, sagen zu dürfen: Bertelsmann hat die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt und mit einer offensiven Digitalisierungsstrategie Weitblick bewiesen. Die Erfolge zum Beispiel bei eCommerce und eBooks sprechen für sich. In der Tat scheint die digitale Revolution Printmedien und Fernsehen mehr und mehr aus ihrer traditionellen Rolle zu verdrängen. Deshalb ist es wichtig, seine Fühler weit und breit auszustrecken. Netzgestützte, interaktive und individuell abrufbare Kommunikationsangebote finden besonders junge Nutzer zunehmend attraktiver.

Dennoch bin ich mir sicher, dass auch mit den traditionellen Medien noch eine ganze Zeit lang zu rechnen sein wird. Denn sie bedienen nach wie vor menschliche Grundbedürfnisse, die in ihrem Kern keinem Wandel unterliegen. - Ich wünsche mir, ehrlich gesagt, dass die Freude am richtigen Buch und das Lesen als kulturelle Eigenschaft und Fähigkeit auch noch in einigen Generationen weit verbreitet sein mögen. - Bei Zeitungen, Zeitschriften und Büchern ist dieses Grundbedürfnis zum Beispiel der Wunsch nach fundierter Information genauso wie nach Muße, der Wunsch, der eigenen Phantasie Raum zu lassen. Insofern denke ich, dass wir eine Verbreiterung unserer Angebotspalette haben werden, aber nicht ein Verschwinden tradierter Medien.

Zu den bereits vielfältigen Medienangeboten und Kommunikationsmöglichkeiten gesellen sich immer wieder neue hinzu. Damit entsteht eine Aufgabe, die uns alle beschäftigen muss. Es geht dabei um die Frage: Welche Kenntnisse und Fertigkeiten müssen die Nutzer mitbringen - nicht nur, wenn es um den Umgang mit der Technik geht, sondern auch, wenn es um den Umgang mit den Inhalten von Medien geht? Mehr denn je hängen davon individuelle Orientierung, beruflicher Erfolg und auch die gesellschaftliche Teilhabe ab. Und schon haben wir eine Diskussion darüber, ob es eine digitale Spaltung der Gesellschaft in eine so genannte Info-Elite einerseits und vermeintliche so genannte Modernisierungsverlierer andererseits gibt. Ich glaube, diesen Fragen müssen wir uns stellen.

Wir können uns darauf einstellen, dass das Thema Medienkompetenz immer wichtiger wird. Diese Aufgabe ist von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Sie fordert uns alle: Eltern, Schulen, Bildungseinrichtungen, aber auch die Medienwirtschaft und nicht zuletzt die Politik. Meine Bitte an Sie ist - das tun Sie auch, wie ich glaube: Helfen Sie mit, Medienkompetenz zu stärken, damit die Bürgerinnen und Bürger wirklich Nutzen aus den Medienangeboten ziehen können. Angesichts der Vielfalt der Angebote und der Schnelligkeit der neuen Angebote ist die Frage "Was ist wichtig, was ist unwichtig?" natürlich ungleich komplizierter, als wenn man mit einer Regionalzeitung und zwei Fernsehprogrammen aufwächst.

Deshalb hat auch die Bundesregierung eine Vielzahl innovativer Projekte aufgelegt. Sie umfassen sämtliche Medienbereiche - von Printmedien bis zu Computerspielen. Sie binden auch Partner aus Wirtschaft und Bildungseinrichtungen mit ein. Ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass wir bei Bertelsmann hierbei immer ein offenes Ohr finden. Wir wollen besonders das Bewusstsein für den Wert qualitativ an-spruchsvoller Medienangebote stärken. Denken wir vor allen Dingen auch an den Umgang junger Menschen mit persönlichen Daten im Internet. Auch das ist ein ganz wichtiger Bereich. Letztlich zählt Medienkompetenz zu den Markenzeichen einer aufgeklärten, modernen, weltoffenen Wissensgesellschaft.

Das ernsthafte Bemühen um mündige Mediennutzer scheint mir eine sehr lohnende Investition in die Zukunft zu sein - in demokratischem Sinne, in moralisch-ethischem Sinne und schließlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dabei hilft uns ein Zitat von Reinhard Mohn. Er hat gesagt: "Ethische Kriterien konnten sich immer gegenüber ökonomischen Zielen durchsetzen. Mir scheint, dass die bemerkenswerte wirtschaftliche Stabilität des Hauses Bertelsmann hier ihre Erklärung findet." So kann nur jemand sprechen, der überzeugt ist von der Sozialen Marktwirtschaft und der in langen Linien denkt. Das war das Erfolgsgeheimnis von Reinhard Mohn.

Daher meine Bitte an Sie alle: Tun Sie sich selbst einen Gefallen und tun Sie unserer Gesellschaft einen Gefallen, indem Sie sich weiter an das bewährte Erfolgsrezept der Werteorientierung halten. Ich denke, Bertelsmann wird das allemal tun. Wenn Sie das beherzigen, Herr Ostrowski, können Sie nicht nur mit Blick auf die Konzernbilanz des ersten Halbjahres 2010, sondern wahrscheinlich auch in Zukunft sagen: "Mediengeschäfte sind und bleiben attraktive Geschäfte."

Wenn Bertelsmann die Maxime der Werteorientierung weiter beherzigt, wenn das Erbe von Reinhard Mohn und das langfristige Denken weiter Ihr Haus bestimmt, dann können wir in 25 Jahren - da bin ich mir ganz sicher - 200 Jahre Bertelsmann feiern. Heute freuen wir uns aber, dass wir alle bei 175 Jahren dabei sind. Herzlichen Glückwunsch zu dieser tollen Erfolgsgeschichte.


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Quelle:
Bulletin Nr. 90-3 vom 20.09.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der Festveranstaltung
"175 Jahre Bertelsmann" am 16. September 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2010