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REDE/946: Regierungserklärung - Merkel zur Tagung des Europäischen Rates am 18. und 19.12.2014 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Tagung des Europäischen Rates am 18. und 19. Dezember 2014 in Brüssel vor dem Deutschen Bundestag am 18. Dezember 2014 in Berlin:



Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!

Das Jahr 2014 war ein Jahr des Gedenkens an schreckliche und glückliche Momente in der deutschen und europäischen Geschichte. Wir haben uns an den Ausbruch der beiden Weltkriege und ihre furchtbaren Folgen erinnert, aber eben auch an den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren als Symbol für die friedliche Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Jeder, der gesehen hat, wie am Abend die Ballons entlang der früheren Berliner Grenze aufgestiegen sind, wird diesen Moment so schnell nicht vergessen.

Welches große Glück die europäische Einigung ist, das dürfen wir vor dem Hintergrund der Geschichte Europas wie auch vor dem Hintergrund aktueller Krisen und Kriege niemals vergessen. Mir ist das gestern noch einmal bewusst geworden, als ich in einer Videoschaltung mit sechs Standorten verbunden war, an denen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie Polizistinnen und Polizisten Dienst tun, überall auf der Welt. Dabei war ganz offensichtlich, dass wir in Europa großes Glück haben.

Frieden, Freiheit und Wohlstand sind alles andere als selbstverständlich. Stets aufs Neue müssen wir für sie eintreten. Wir müssen unsere Werte schützen und verteidigen. Deshalb werden wir auch beim letzten Europäischen Rat in diesem Jahr wieder über die Lage in der Ukraine sprechen.

Das Ende des Kalten Krieges hat es ja vor 25 Jahren den Staaten Mittel- und Osteuropas ermöglicht, selbstbestimmt ihren eigenen Weg zu gehen. Wenn wir heute zuließen, dass diese Selbstbestimmung wieder aufgegeben werden könnte, dann würde das nichts anderes bedeuten als eine erneute Einteilung Europas in Einflusssphären, ja, eine Spaltung Europas. Das wäre ein erheblicher Rückschritt für die Ukraine, aber es wäre eben auch ein erheblicher Rückschritt für die europäische Sicherheit und für Europa insgesamt. Deshalb können wir das nicht zulassen, und deshalb werden wir das auch nicht zulassen.

Das Miteinander in Europa ist auf Partnerschaft, auf Recht und auf Respekt gegründet, eben nicht auf Einflusssphären. Die Prinzipien - Partnerschaft, Recht und Respekt - wollen wir auch im Verhältnis zu Russland wahren, und wir werden alles daransetzen, dass sie auch im Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine zum Tragen kommen; denn das Ziel unseres Handelns ist und bleibt eine souveräne und territorial unversehrte Ukraine, die über ihre eigene Zukunft selbst entscheiden kann. Wir haben in diesem Jahr erfahren, dass dies Geduld und einen langen Atem braucht. Militärisch ist dieser Konflikt nicht zu lösen.

Unser Handeln setzt deshalb erstens darauf, die Ukraine weiter zu unterstützen, politisch wie wirtschaftlich. Dabei erwarten wir nach den Wahlen nun auch von der Ukraine entschiedene Schritte zur Modernisierung der Wirtschaft, zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und zur Bekämpfung der Korruption.

Gerade jetzt im Winter geht es aber nicht zuletzt auch darum, die humanitäre Hilfe zu verstärken. Der Ukraine muss es ermöglicht werden, eigene Hilfslieferungen ohne Gefahr auch in die von den Separatisten kontrollierten Gebiete im Osten des Landes zu bringen.

Zweitens suchen wir unverändert und unvermindert den Dialog mit Russland. So haben der französische Präsident François Hollande, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der russische Präsident Wladimir Putin und ich vorgestern in einem gemeinsamen Telefonat die Bedeutung eines umfassenden Waffenstillstands noch einmal betont, eines Waffenstillstands, wie er ja bereits im Minsker Abkommen vom September vorgesehen ist. Um hierbei endlich Fortschritte zu erzielen, setzen wir jetzt auf ein rasches Treffen der Kontaktgruppe aus Russland, der Ukraine sowie der OSZE.

Das Ziel unseres Handelns ist und bleibt die Durchsetzung der Stärke des Rechts gegen das vermeintliche Recht eines Stärkeren. Das Ziel ist und bleibt: europäische Sicherheit gemeinsam mit Russland, nicht gegen Russland. Wir wollen die Kontakte zwischen unseren Gesellschaften weiter vertiefen. Gerade Andreas Schockenhoff, um den wir heute trauern, hat dies immer wieder getan und versucht. Wir wollen uns gemeinsam den Herausforderungen für die internationale Sicherheit stellen, von denen es wahrlich genug gibt. Doch allein können wir diesen Weg nicht beschreiten. Es kommt auf Russland an, darauf, ob es unser Angebot des Dialogs auf der Grundlage der Werte der europäischen Friedensordnung aufgreift.

Solange wir dieses Ziel noch nicht erreicht haben, bleibt drittens, dass auch Sanktionen weiterhin unvermeidlich sind. Ich will jedoch noch einmal betonen: Selbstzweck waren sie nicht und sind sie nicht.

Das Jahr 2014 war auch das Jahr der Europawahlen, die im Mai stattfanden. Sie haben eins gezeigt, nämlich dass die Menschen von der Europäischen Union nicht erwarten, dass sich die Europäische Union für alles zuständig fühlt. Vielmehr haben sie ein klares Signal gegeben, dass sich die Europäische Union auf das Wesentliche, auf die großen Zukunftsfragen konzentrieren möge, die ein Land allein in dieser globalen Vernetzung nicht mehr bewältigen kann. Deshalb ist es von so großer Bedeutung, dass der Europäische Rat im Juni erstmals eine strategische Agenda für die nächsten fünf Jahre beschlossen hat - gemeinsam mit der Kommission, in großer Übereinstimmung mit dem Europäischen Parlament. Diese strategische Agenda setzt genau dieses Signal. Die große Herausforderung der kommenden Monate und Jahre bleibt, Europa zu neuer und vor allem auch wirtschaftlicher Stärke zu führen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die europäischen Institutionen werden dies nur gemeinsam, also mit vereinter Kraft, erreichen.

Vor sechs Jahren nahm die weltweite Finanzkrise in den USA ihren Anfang. Ihr folgte kurz darauf mit der europäischen Staatsschuldenkrise die schwerste Krise Europas in unserer Generation. Wir haben diese Krise im Griff, aber wir haben sie eben nicht endgültig überwunden. Es ist so, wie ich es wieder und wieder gesagt habe: Es gibt keine schnellen und es gibt keine einfachen Lösungen. Es gibt auch nicht den einen Paukenschlag, der all diese Probleme über Nacht und auf Dauer aus der Welt schaffen würde. Die Überwindung dieser Krise geht nur Schritt für Schritt. Vor allem gelingt dies nur dadurch, dass wir die Ursachen bekämpfen. Man kann sagen, dass wir auf diesem Weg schon viel geschafft haben.

Wir haben einen dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus eingerichtet, mit dem wir Gefahren für die ganze Euro-Zone künftig viel besser abwenden können. Es gilt dabei die Regel, die ich für absolut richtig halte: keine Leistung ohne Gegenleistung. Anders gesagt: Wer die gemeinsam verabredeten Reformschritte umsetzt, kann in Europa, jedenfalls im Euro-Raum, auf die Solidarität aller bauen. Damit helfen wir den von der Krise betroffenen Mitgliedstaaten, und wir helfen uns selber, nämlich der Euro-Zone als Ganzes.

Wir haben die wirtschafts- und haushaltspolitische Überwachung einschließlich des Stabilitäts- und Wachstumspakts gestärkt - im Übrigen in langen und vielen Diskussion. Wir haben den Fiskalvertrag beschlossen, um die Grundlage für dauerhaftes Vertrauen in die Euro-Zone wiederherzustellen. Wir haben seit November in Europa eine gemeinsame Bankenaufsicht. Wir haben die Situation, dass zum Jahresanfang 2015 die gemeinsame Bankenabwicklungsbehörde ihre Arbeit aufnimmt. Der gemeinsame Abwicklungsfonds wird ab nächstem Jahr schrittweise errichtet. Wir können Bankenkrisen besser vorbeugen, und wir können den Menschen vor allen Dingen sagen: Nicht der Steuerzahler wird zuerst zur Kasse gebeten. Darauf mussten wir hinarbeiten. Das waren wir den Menschen nach der Finanzkrise schuldig.

Wir können außerdem feststellen, dass in den von der Krise besonders betroffenen Ländern die Wettbewerbsfähigkeit steigt, die Leistungsbilanzdefizite sinken, Haushaltsdefizite abgebaut werden. Mit Irland, Portugal und Spanien haben drei von fünf Ländern ihre Hilfsprogramme erfolgreich abgeschlossen. Auch wenn noch viel zu tun bleibt, sind auch in Griechenland die Aussichten wesentlich besser als vor zwei Jahren.

Dies alles wäre nicht möglich gewesen ohne entschlossenes Handeln der einzelnen Länder und ohne entschlossenes und solidarisches gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene. Aber wir sind noch nicht am Ziel; denn die wirtschaftliche Erholung bleibt fragil. Vor allem die Arbeitslosigkeit, allen voran die der jungen Menschen, ist in Teilen Europas immer noch viel zu hoch, und die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion hat nach wie vor Schwachstellen. Aber ich bin mir sicher: Wenn wir weiter entschlossen handeln, dann werden wir am Ende feststellen können, dass Europa aus dieser Krise stärker hervorgegangen sein wird, als es in sie hineingegangen ist. Dies ist und bleibt auch der Anspruch der Bundesregierung.

Dazu genügt es nicht, die immer noch in vielen Ländern spürbaren Folgen der Krise zu bekämpfen. Vielmehr müssen wir, um zukünftige Krisen zu verhindern, vor allem auch die Krisenursachen beseitigen. Deshalb braucht es einen umfassenden Ansatz für diese Krisenbewältigung und eine Krisenvorsorge. Diesen Ansatz haben wir von Anfang an konsequent verfolgt, aber er muss jetzt fortgesetzt werden. Dabei bleiben drei Bausteine gleichermaßen wichtig.

Erstens. Die wachstumsfreundliche Konsolidierung muss fortgesetzt werden. Dass 2013 das durchschnittliche Haushaltsdefizit im Euro-Raum mit 2,9 Prozent erstmals seit 2008 wieder unter der Maastricht-Grenze gelegen hat, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Ich will in diesen Tagen, wo die Zinsen besonders niedrig sind, noch einmal daran erinnern, welche Sorgen wir hatten, als in vielen Ländern der Euro-Zone die Zinsen mehr als doppelt und dreifach so hoch waren, wie sie heute sind. Es ist deshalb entscheidend, dass wir auch die Regeln des gestärkten Stabilitäts- und Wachstumspaktes glaubwürdig anwenden; denn nur so kann der Pakt seine Funktion erfüllen. Seine Funktion war ja nicht nur, die Regelungen umzusetzen, die damit getroffen wurden, sondern vor allem auch Vertrauen aufzubauen, um zu zeigen, dass wir verantwortlich handeln. Wir werden die Kommission auch in Zukunft in der Wahrnehmung dieser Verantwortung für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterstützen.

Zweitens. Wir brauchen Strukturreformen für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Gut funktionierende Arbeitsmärkte, wettbewerbsfähige Produktmärkte und eine effiziente öffentliche Verwaltung sind für uns alle eine Daueraufgabe. Nur so können wir im globalen Wettbewerb mithalten; denn - das spürt man immer wieder - die Welt wartet nicht auf Europa. Wenn wir unser europäisches Modell, ein Modell, das wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung in besonderer Weise verbindet, auch im 21. Jahrhundert zu dauerhaftem Erfolg führen wollen, dann müssen wir uns weiter und zum Teil auch mehr anstrengen, jeden Tag aufs Neue. Wir sehen Dynamik in vielen Wirtschaftsräumen der Welt. Deshalb sind wir gefordert. Dass die Wirtschaft eines Landes, wie zum Beispiel in Irland, das diesen Weg der Reformen in den letzten Jahren sehr konsequent gegangen ist, heute kräftig wächst, dass die Investitionen anziehen und die Arbeitslosigkeit Schritt für Schritt zurückgeht, zeigt, was entschlossenes Handeln bewirken kann.

Drittens: die Förderung von Wachstum, Beschäftigung und Investitionen. Wir tun dies auf nationaler Ebene, und wir investieren damit nicht nur in eine gute Zukunft Deutschlands, sondern wir leisten damit natürlich auch einen Beitrag zu einer guten Zukunft Europas. Denn jeder Mitgliedstaat der Wirtschafts- und Währungsunion - das ist ja die Lehre aus der Krise - trägt Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern gleichzeitig auch immer für die gesamte Euro-Zone und für die Europäische Union als Ganze. Deshalb müssen wir unserer Gesamtverantwortung gemeinsam gerecht werden, indem wir die nationalen Anstrengungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung von europäischer Seite so gut wie möglich unterstützen.

Dafür müssen wir zum einen die bestehenden Instrumente nutzen, die wir auf europäischer Ebene bereits beschlossen haben: Wir haben seit 2012, ausgehend vom Pakt für Wachstum und Beschäftigung, eine Vielzahl von Maßnahmen und Elementen auf den Weg gebracht; das zeigt sich auch in der neuen mittelfristigen Finanziellen Vorausschau.

Aber wir prüfen eben auch, was darüber hinaus jetzt noch getan werden muss. Genau das wird im Mittelpunkt des heute und morgen stattfindenden Europäischen Rates stehen. Dafür brauchen wir, zusammen mit den anderen Bausteinen, eben auch Maßnahmen für Investitionen; wir brauchen Maßnahmen zum Abbau von Bürokratie. Beides wird auf der Tagesordnung stehen. Aus all diesen drei Bausteinen entsteht dann unsere Gesamtstrategie.

Der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat Ende November seinen Investitionsplan für Europa vorgestellt, mit dem in den nächsten Jahren erhebliche zusätzliche Investitionen mobilisiert werden sollen. Es gibt eine gemeinsame Taskforce von Kommission, Europäischer Investitionsbank und Experten der Mitgliedstaaten. Sie hat sich die Investitionsentwicklung in Europa sehr genau angeschaut. Sie hat Investitionshemmnisse und mögliche Lösungsansätze aufgezeigt und hat begonnen, sich auch mit einzelnen Projekten der Mitgliedstaaten zu befassen.

Wirtschaftsminister Gabriel und Finanzminister Schäuble haben vor zwei Wochen zusammen mit ihren französischen Kollegen eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Auch ich werde noch einmal mit dem französischen Präsidenten darüber sprechen, was wir - gerade Deutschland und Frankreich gemeinsam - zu diesen Investitionsprojekten beitragen können. Denn wir wissen: Wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam klare Vorstellungen haben, dann ist das gut für Europa.

Wir haben jetzt eine gute Grundlage für die heute beginnenden Beratungen. Aber für mich sind folgende Punkte entscheidend: Es sind und bleiben die Unternehmen, die Arbeitsplätze und Innovationen schaffen. Es muss also vor allem um die Mobilisierung privater Investitionen gehen. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, dass dies auch die zentrale Stoßrichtung der Vorschläge von Jean-Claude Juncker ist. Es muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass zusätzlich mobilisierte Mittel sinnvoll und effektiv eingesetzt werden. Wir müssen in Zukunftsbereiche investieren. Es müssen Zukunftsbereiche sein, die der strategischen Agenda, die wir im Juni beschlossen haben, entsprechen. Dazu gehören zum Beispiel die digitale Wirtschaft, kleine und mittlere Unternehmen, der Energiebereich, gegebenenfalls die Elektromobilität, also Dinge, mit denen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Wir müssen in Zukunftsprojekte investieren, also in Projekte, die wirtschaftlich sinnvoll sind und die nachhaltiges Wachstum fördern. Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind, Herr Hofreiter. Ich unterstütze die Idee, die Europäische Investitionsbank zu nutzen, um Projekte auszuwählen, die genau diese Kriterien erfüllen. Es ist nämlich wichtig, den Weg über die Europäische Investitionsbank zu gehen, weil nur so sichtbar wird, wo es rentable Projekte gibt, bei denen auch privates Kapital mit einsteigt. Die Politik kann diese Auswahl nicht treffen, obwohl Sie ja offensichtlich Interesse daran haben.

Wir in der Bundesregierung stellen uns vor, dass die ausgewählten Projekte so rasch wie möglich in einem Projektbuch sichtbar werden, damit nachverfolgt werden kann: Was wird jetzt wirklich umgesetzt? Was ist der Mehrwert eines solchen Investitionsprogramms? - Ich erinnere uns einmal an die Verkehrsprojekte "Deutsche Einheit", bei denen sehr schön sichtbar gemacht wurde: Wie kommen wir voran? - Da konnte man das jederzeit nachvollziehen.

Nicht zuletzt bleibt die Stärkung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Wachstum, national wie europäisch, ein entscheidender Faktor. Das bedeutet Strukturreformen in den Mitgliedstaaten. Aber es bedeutet eben auch, dass wir uns auf europäischer Ebene überlegen: Was sind die wichtigen Rechtssetzungsvorhaben? Ich bin sehr froh, dass sich die Kommission in einem ersten Anlauf an die 70 Projekte vorgenommen hat und gefragt hat: Brauchen wir sie noch - wir verhandeln darüber seit Jahren, und es gibt immer noch Widerstände -, oder können wir sie nicht von der Tagesordnung nehmen und durch andere Projekte ersetzen? Ich begrüße das außerordentlich.

Ein wichtiger Rahmen, um immer wieder zu prüfen, ob die Mitgliedstaaten die notwendigen Strukturreformen durchführen, ist das sogenannte Europäische Semester. Auch Deutschland bekommt hier länderspezifische Vorgaben. Wir werden uns weiter damit befassen, wie wir diese bestmöglich umsetzen können. Es geht natürlich auch um wichtige europäische Rechtssetzungsakte.

Ich will es wiederholen: Gerade bei der Digitalen Agenda werden die notwendigen Investitionen in die Breitbandstruktur allein nicht reichen, wenn nicht der richtige rechtliche Rahmen gesetzt ist. Dazu gehören das Telekommunikationspaket und die Datenschutz-Grundverordnung, über die intensiv verhandelt werden muss. Wir werden darum ringen müssen, den persönlichen Datenschutz in eine vernünftige Balance mit der Investitionsmöglichkeit in der digitalen Wirtschaft zu bringen. Das wird uns noch viel Kraft kosten.

Dazu gehört genauso die Energieunion, die eine der strategischen Prioritäten der neuen Kommission ist. Wir brauchen mehr Verbindungen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, insbesondere einen Anschluss der iberischen Halbinsel an das kontinentaleuropäische Stromnetz. Aber auch für Deutschland können die Interkonnektoren noch besser ausgebaut werden.

Dazu gehört natürlich auch eine Entlastung kleiner und mittlerer Unternehmen von unnötiger europäischer Bürokratie. Dies sollte auch Maßstab bei neuen EU-Regelungen sein. Wir hier in Deutschland, wie einige andere Mitgliedstaaten auch, sind mit dem Normenkontrollrat sehr gut aufgestellt, weil wir eine Vorstellung davon bekommen, was Bürokratie verursacht. Aber in Europa insgesamt sind wir noch nicht ganz so weit.

Dazu gehören übrigens auch - der nächste Punkt wird Sie noch mehr erfreuen - die laufenden Verhandlungen über die Freihandelsabkommen. Gerade Deutschland als Exportnation muss für den Welthandel offen bleiben. Ich bin überzeugt, dass die Chancen für Wachstum und Beschäftigung die Risiken der Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit Kanada bei weitem übersteigen.

Ich habe neulich schon darüber berichtet, dass in anderen Teilen der Welt sehr viele Freihandelsabkommen abgeschlossen werden. Wir sollten die Chance nutzen - ich wiederhole es -, sie in unserem Sinne mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass hohe Standards, wie wir sie in Europa etwa beim Verbraucherschutz und beim Umweltschutz haben, auch international festgeschrieben werden. Das ist im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa.

Der Investitionsplan der neuen Kommission benennt wichtige Handlungsfelder für die Schaffung eines investitionsfreundlichen Umfelds. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir einen vernünftigen zeitlichen Fahrplan haben und die Investitionen überprüfbar jetzt auf den Weg bringen.

Wir müssen weiterhin daran arbeiten, die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft krisenfest zu machen. Ich bin unverändert der Überzeugung, dass wir eine engere und verbindlichere wirtschaftspolitische Koordinierung brauchen. Sie muss enger und verbindlicher sein, als sie es heute ist; zumindest im Euro-Raum. Aufgabe der nächsten Wochen und Monate wird es sein, dafür eine gemeinsame Grundlage zu schaffen.

Der letzte Europäische Rat im Gedenkjahr 2014 ist der erste, der von dem neuen Präsidenten Donald Tusk geleitet wird. Wir haben die Personalien nach der Europawahl neu geordnet. Dass 25 Jahre nach der friedlichen Revolution in Mittel- und Osteuropa ein ehemaliger polnischer Ministerpräsident an der Spitze des Europäischen Rates steht, hat eine hohe Symbolkraft, nicht nur für unsere polnischen Nachbarn; denn das Freiheitsstreben, gerade der Polen, hat die Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands erst möglich gemacht.

Ich habe mit Donald Tusk als polnischem Ministerpräsidenten intensiv, vertrauensvoll und freundschaftlich zusammengearbeitet. Ich habe ihn als leidenschaftlichen, überzeugten und überzeugenden Europäer kennengelernt. Ich freue mich darauf, heute Nachmittag gemeinsam mit ihm und meinen Kolleginnen und Kollegen an die Arbeit zu gehen.

Es geht jetzt darum, entschlossen das umzusetzen, was wir uns in unserer strategischen Agenda vorgenommen haben - für ein Europa, das auch in Zukunft sein Versprechen des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands für seine Bürgerinnen und Bürger einlösen kann. Dabei zähle ich auf Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank.

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Quelle:
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
zur Tagung des Europäischen Rates am 18. und 19. Dezember 2014 in Brüssel
vor dem Deutschen Bundestag am 18. Dezember 2014 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2014


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