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SICHERHEIT/085: Die NATO und das Feindbild Islam (inamo)


inamo Heft 68 - Berichte & Analysen - Winter 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Die NATO und das Feindbild Islam

von Werner Ruf


In seiner berühmten Kairiner Rede sagte Barack Obama, dass die USA keinen Krieg gegen den Islam führen. Die Konsequenz daraus wäre gewesen, auch das Huntington'sche Paradigma vom Kampf der Kulturen als "Folie für politische Entscheidungsfragen" abzuschaffen. Dies jedoch ist leichter gesagt als getan, wie Werner Ruf analysiert, geht es doch darum, ein über Jahrzehnte aufgebautes Feindbild zu demontieren. Aber was würde das für die Legitimität der NATO bedeuten, zum zweiten Mal ihren Feind zu verlieren"?


War die NATO wirklich das westliche Verteidigungsbündnis gegen die kommunistische Bedrohung? Als sie 1949 gegründet wurde, stellte die Sowjetunion keine militärische Bedrohung für den Westen dar: Zu sehr war sie noch beschädigt durch die Verwüstungen, die der Vernichtungskrieg Nazi-Deutschlands hinterlassen hatte. Die Systemrivalität, die sich gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildete, nahm zum Anlass den möglicherweise wachsenden Einfluss der Sowjetunion in Griechenland, der Türkei und auf dem Balkan, wo antifaschistische Kräfte, die aus dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung hervorgegangen waren, zunehmend an Einfluss gewonnen hatten. Ihren Interventionsanspruch formulierten die USA erstmals in der Truman-Doktrin vom 12. März 1947, die in dem Satz gipfelte: "Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie die Geschichte auf ihre Weise selbst bestimmen können. (1)


Die NATO - ein Verteidigungsbündnis?

Entscheidender noch mag die militärische Absicherung des unter kapitalistischen Vorzeichen vollzogenen Wiederaufbaus Westeuropas gewesen sein, wo damals in Frankreich und vor allem in Italien starke kommunistische Parteien existierten, deren Regierungsübernahme in demokratischen Wahlen nicht ausgeschlossen werden konnte. (2) Als ideologischer Kitt diente das tradierte Feindbild vom aggressiven und expansiven Kommunismus, der vor allem in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland von Konrad Adenauer und den in seine Regierung übernommenen Alt-Nazis befördert wurde. erst der Beitritt der BRD zur NATO (1955) bewirkte die Gründung der Warschauer Vertragsorganisation. Das so entstandene bipolare System bestimmte für rd. vierzig Jahre die Weltpolitik - bis schließlich der so genannte Realsozialismus implodierte und die WVO sich auflöste: Feind und Feindbild waren schlagartig verschwunden.

Hier erhärtet sich die These: Wäre die NATO, wie vierzig Jahre lang behauptet, nur das Militärbündnis zur Verteidigung gegen die östliche Bedrohung gewesen, hätte sie sich 1991 ebenfalls auflösen müssen. Für den Fortbestand des Bündnisses mussten nun jedoch neue Begründungen gefunden werden. Die westlichen Think-Tanks entdeckten sie in den so genannten "Neuen Risiken": Ökologischen Bedrohungen, internationaler Kriminalität, Migration und - vor allem - Terrorismus und religiösem Fanatismus. Die Bekämpfung dieser "Risiken" impliziert zugleich den seither konsequent vorangetriebenen globalen Interventionsanspruch des Bündnisses. (3)


1. Das Ende des Ost-West-Konflikts und das Feindbild Islam

Schon während des Ost-West-Konflikts war der Islam instrumentalisiert worden als wichtige ideologische Gegenkraft gegen den "atheistischen Kommunismus". Islamistische Bewegungen wurden gefördert als Gegenkraft gegen die Sowjetunion, oder aber als innenpolitische Gegenbewegungen gegen Regime, die gute Beziehungen zur Sowjetunion pflegten und einen mehr oder weniger an sozialistischen Modellen orientierten Umgestaltungsprozess ihrer eigenen Gesellschaften betrieben, wie dies beispielsweise im nasseristischen Ägypten der Fall war. Weitere Beispiele sind die massive Unterstützung der USA (und vor allem Saudi-Arabiens) für die Muslimbrüder im Nahen Osten, für die algerische Islamische Heilsfront Ende der 80er Jahre, vor allem aber für die gegen die sowjetische Präsenz in Afghanistan kämpfende islamistische Guerilla.

Eine erste, "den Islam" zum Feindbild erhebende Interpretation eines zwischenstaatlichen Konflikts folgte der Iranischen Revolution und der Geiselnahme US-amerikanischer Diplomaten in Teheran. Sie blieb jedoch zunächst auf den schiitischen Islam und die feindlichen Beziehungen zwischen Washington und Riad einerseits und Teheran andrerseits beschränkt. Die entscheidende Zäsur erfolgte mit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan und der Krise um Kuwait 1990/91 und des darauf folgenden Zweiten Golfkrieges, der zusammenfällt mit dem Austritt der Sowjetunion aus der Weltgeschichte, sah sich diese doch nicht mehr in der Lage, die Anti-Irak-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates zu verhindern. (4) Reinhard Schulze hat die im Entstehen begriffene neue Weltsituation schon zum Zeitpunkt dieses Krieges treffend auf den Begriff gebracht:

"Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ost-West-Systems 1989/90 einen tiefen Einschnitt in die Selbstlegitimation. Fehlte nun das 'Andere' als Projektionsfläche für die faktische Antithese in der eigenen Gesellschaft, drohte ein Defizit, ja eine Lücke in der Beschreibung des 'Wir'. Der Kuwait-Krieg, der propagandistisch schon seit Ende August 1990 geführt wurde, konnte innerhalb kürzester Zeit diese Lücke wieder schließen. Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein. Die Antithetik, die für den Westen bestimmend ist, wirkte nur noch radikaler. (...) Der Islam wurde als Prinzip des Orients ausgemacht, als Bewahrheitung des Irrationalen, gegenaufklärerischen Fundamentalismus, als Universalie, die nicht nur Ideologie ist, sondern allumfassend Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik beherrschen will. Der Islam wird nun nicht nur als ideologische Antithese begriffen, sondern als gesamtkulturelle Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation." (5)

Dass gerade der säkulare Saddam Hussein für die Schaffung des neuen Feindbildes herhalten musste, erscheint eher als Ironie der Weltgeschichte. Hier kann nicht auf die sozialpsychologischen Mechanismen und Instrumente eingegangen werden, die offenkundig unverzichtbar sind, wenn es darum geht, eine kollektive Identität herzustellen, die zu ihrer Definition des negativen Gegenbildes des "Anderen" bedarf. (6) Wie schnell, ja beinahe nahtlos dieser Wechsel im Feindbild vom verschwundenen Kommunismus zum Feindbild Islam vor sich ging, zeigen beispielsweise die einschlägigen Formulierungen im französischen Verteidigungsweißbuch von 1994, wo festgestellt wird:

"Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. (...) Er nimmt oft den Platz ein, den der Kommunismus innehatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt." (7)

Ähnlich formulierte der damalige NATO-Generalsekretär Willi Claes, als er feststellte, dass der islamische Fundamentalismus möglicherweise eine größere Bedrohung darstellt als dies der Kommunismus war. (8) Dass eine derart schnelle (Wieder-)Belebung des Feindbildes Islam möglich war, dürfte im wesentlichen zwei Gründe haben:

Die Latenz eines lange vorhandenen Feindbildes, das seine Wurzeln in alten antisemitischen Klischees und in den Legitimationsmustern imperialistischer Dominanz hat, wie sie bereits Edward Said so treffend beschrieb,

Die mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse, in deren Folge nicht nur staatliche Handlungsspielräume schrumpfen, sondern auch durch die Transnationalisierung der Ökonomie und durch Prozesse der Migration und multikulturelle Lebensformen neue gesellschaftlich Herausforderungen entstehen. Sie können im Sinne der "neuen Risiken" und der daraus entwickelten Debatte über den erweiterten Sicherheitsbegriff (9) auch als Sicherheitsgefährdungen für "unsere" Gesellschaft interpretiert werden.

Zur historisch-literarischen Figur der identitären Sinnstiftung wurden schon im 19. Jh. historische Konstellationen instrumentalisiert (10) und "der Orientale" wurde im "Abendland" zu einer Bedrohung transformiert, die sich - von den Kreuzzügen über die antijüdischen und antitürkischen Tiraden eines Martin Luther, den Konflikten mit dem Osmanischen Reich - bis ins 19. Jahrhundert hinzog, als Kolonialismus und Imperialismus ihre technische, ökonomische und militärische Überlegenheit auch dadurch kulturell-ideologisch absicherten, dass sie den "Anderen", nämlich den Orientalen, zum kulturell, ja rassisch minderwertigen Menschen erklärten. (11) Entsprechend den rassistischen Klischees des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wurde nun die Überlegenheit des Okzidents genetisch-kulturalistisch erklärt und begründet; so etwa, wenn der "Vater" des Orientalismus, Ernest Renan, 1873 den Orientalen die Unfähigkeit zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen bescheinigte wegen

"(...) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie 'Gott ist Gott' entgegenzuhalten".(12)

Der Orient wird einerseits zum Reich der Untermenschen herabgewürdigt, andererseits ist er aber auch Projektionsort von Sinnlichkeit und Lüsten, die im strengen Moralkodex des Christentums keinen Platz haben. Beiden Charakteristika ist gemeinsam, dass der Orient zum Gegenteil von Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit und Veränderbarkeit hochstilisiert wird, wie es Aziz el Azmeh treffend auf den Punkt bringt:

"Der Vernunft entsprach enthusiastische Unvernunft, politisch übersetzt als Fanatismus, eines der Hauptanliegen der Wissenschaftler und Kolonialisten des 19. Jahrhunderts wie der zeitgenössischen Fernsehkommentatoren. Dieser Begriff liefert eine Erklärung für den politischen und sozialen Antagonismus zu kolonialer und nachkolonialer Herrschaft, indem politische und soziale Bewegungen auf Beweggründe reduziert werden, die Menschen mit Tieren gemeinsam haben. (...) Die Zivilgesellschaft, der Ort, an dem individuelle Bedürfnisse rational koordiniert werden, und welche den Staat hervorbringt, ist undenkbar. (...) Islam, als Anomalie (...) wird als Anachronismus betrachtet, seine Charakteristika - Despotismus, Un-Vernunft, Glauben, Stagnation, Mittelaltertum - gehören zu Stadien der Geschichte, deren Inferiorität eine zeitliche Dimension erhält. (...) Niedergang wird so nicht zu einem Tatbestand historischer Prozesse, sondern ein vorhersehbares Ereignis der metaphysischen Ordnung." (13)

Es ist genau dieses Bild kulturell (oder genetisch?) bedingter Unfähigkeit, das von Samuel Huntington wieder aufgegriffen wird, wenn er in seinem flammenden Appell "The West unique, not universal" 14 (mi)t großem Nachdruck darzulegen versucht, dass Werte wie Menschenrechte und Demokratie oder Eigenschaften wie Rationalität ausschließlich Spezifika des Westens seien und daher gar nicht universell sein könnten. Deshalb müsse der Westen endlich aufhören, diese nur innerhalb seines Kulturkreises möglichen Prinzipien auf andere Kulturkreise ausdehnen zu wollen - ein aufgrund der Verschiedenheit der Kulturen ohnehin nutzloses Unterfangen.

An diesem Punkt schließt sich der Kreis, der die Wiederbelebung alter Klischees für heutige praktische Politik verwendbar macht, wenn Samuel P. Huntington in seinem zeitgerecht 1993 erschienen Aufsatz The Clash of Civilizations? (15) die Kulturen als die wichtigsten Konfliktakteure des 21. Jahrhunderts benennt und den Islam als die gefährlichste bezeichnet: "Islam has bloody borders". Daraus leitet er den dringenden Ausbau der militärischen Überlegenheit des Westens ab. Übersetzt in die etwas schlichtere Sprache eines deutschen Militärs lautet dann die aus der neuen Weltlage zu ziehende Schlussfolgerung:

"Abschreckung war bisher bestimmt von rationaler abendländischer Logik, wenn auch im Osten ideologisch geprägt. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Wegtreten einer Welt- und Ordnungsmacht ist dies jetzt anders. Ausgangspunkte künftiger Konflikte sind Irrationalität, nicht vorhandenes Risikobewusstsein und nahezu unbegrenzte Risikobereitschaft. Abschreckung in der klassischen Form kann und wird daher schlicht nicht mehr funktionieren, zumindest nicht, um vom Einsatz konventioneller Waffen abzuhalten. (...) Sicherheit bedeutet dann nicht nur die territoriale Integrität und den Schutz vor direkten militärischen Angriffen, sondern beinhaltet - weiter gespannt - den Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems." (16)

Damit ist die Brücke geschlagen vom internationalen System zur Bedrohung unserer Gesellschaft und Lebensweise. Die westliche "Wir"-Sicht zeichnet sich aus durch ein Begriffsgemenge, das alte, aus den rassistischen Paradigmen des 19. Jahrhunderts stammende Vorstellungen verquirlt mit neuen Bedrohungsvorstellungen, die nun nicht mehr in den Formen klassischer militärischer Bedrohungen erscheinen, also nicht mehr als Konflikte zwischen territorial verfassten Nationalstaaten gedacht werden, sondern die auch "den Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems" beinhalten. Diese Erweiterung des Sicherheitsbegriffs weg von der Territorialität und hin zu einem transnationalen gesellschaftlichen Konflikt kennzeichnet das Ende der Bipolarität. Zugleich scheint sie den neuen globalen Verhältnissen Rechnung zu tragen: Die islamische Bedrohung ist dank der Migration in dieser neuen Gefahrenanalyse auch zu einer Gefahr des Fortbestands unseres Gemeinwesen, seiner Wertordnung, unserer Identität geworden. In dieser Weltsicht vermengen sich zwei der genannten "neuen Risiken", Terrorismus und Migration, stammen doch die meisten Migranten in Europa aus islamischen Ländern. Sie bilden den Hintergrund für rechtspopulistische Kampfschriften, wie sie schon 1991 der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Hans Stercken lieferte, indem er die Migration als Bedrohungspotenzial definierte (17) und wie sie jüngst von Henryk Broder (18) und Thilo Sarrazin (19) popularisiert wurden. "Der Islam" ist nicht mehr im fernen Orient, er lebt unter uns.


2. Von 9/11 zur "Arabellion": Wie weiter mit dem Feindbild Islam?

In das gut vorbereiteten Klima der Angst platzten die Anschläge des 11. September 2011, die den endgültigen Beweis für die globale Bedrohung unserer freiheitlich-westlichen Gesellschaftsordnung durch die dem Islam innewohnende terroristische Gewalt zu liefern schienen. Sie nähren seither nicht nur die anti-islamische Hysterie in den westlichen Gesellschaften, sie dienten auch als Begründung für den durch den US-Präsidenten George W. Bush ausgerufenen "Krieg gegen den Terror", der sich allerdings nicht gegen das wahabitische Saudi-Arabien richtete, aus dem 12 der 19 Attentäter stammten, sondern zur Besetzung Afghanistans und zu einem vernichtenden Krieg gegen den Irak führten. In beiden Fällen lieferte die Bekämpfung des Terrorismus den Vorwand, Kriegsziel war jedoch die Sicherung geostrategischer Interessen: Die Erdölreserven des Irak wurden den Interessen der Ölkonzerne zugänglich gemacht, Afghanistan ist der zentrale Ort für die Kontrolle der Ressourcen Mittelasiens und ihrer Transportwege. (20) Demselben Ziel dient auch die Gründung eines militärischen Oberkommandos für den afrikanischen Kontinent, African Command, kurz africom, das gleichfalls unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung der Kontrolle der Ressourcen des Schwarzen Kontinents dient, im Wettlauf mit den aufsteigenden Mächten China, aber auch der EU. (21)

Terrorismus bleibt nach wie vor ein völkerrechtlich ungeklärter aber moralisch aufgeladener Begriff, der je nach Interessenlage politischen Gegnern angeheftet werden kann. Es ist gerade die Unbestimmtheit dieses Begriffs, die ihn für die politische Praxis so handhabbar macht. Die in zwanzig Jahren politische und medial geschaffene diffuse Verschmelzung des Begriffs Terrorismus mit einer Religion ist so gelungen, dass Muslime unter Generalverdacht gestellt werden können und terroristische Akte - wie beispielsweise in Oslo - spontan islamistischen Tätern zugeordnet werden. Auch die NATO nutzt den Begriff weiterhin, um einen inzwischen von den Bündnisgrenzen befreiten und weltweit gültigen Verteidigungsauftrag zu begründen, wenn sie etwa in Ziff. 10 ihres jüngsten strategischen Konzepts (Lissabon am 19. Nov. 2010) lapidar formuliert, dass Terrorismus "eine direkte Bedrohung der Staatsbürger der NATO-Staaten" darstellt - also den Verteidigungsfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags auslösen kann. (22)

Dass die mit dieser Begriffsassoziation einhergehende Vorstellung von Sicherheit und Verteidigung geradezu zwangsläufig die Entgrenzung des Sicherheitsbegriffs von der Sicht auf Staatlichkeit befördert und Sicherheit zu einer globalen Herausforderung macht, schafft gleichzeitig die Hintergrundfolie für die nicht mehr auf das Territorium des Bündnisses bezogene, sondern global vorgegebene Verantwortung der NATO für weltweite "Friedenssicherung". Der "global war on terror" wird so zur Legitimation eines militärisch abgesicherten globalen westlichen Herrschaftsanspruchs.

Die Jahreswende 2010/2011 hat dieses schon immer falsche, aber zum allgemein gültigen Paradigma erhobene Konstrukt in einen Scherbenhaufen verwandelt: Nicht zu Unrecht sieht Noam Chomsky den Beginn der arabischen Revolten - von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Kürzel "Arabellion" gefasst - in der marokkanisch besetzten West-Sahara. (23) Dort hatten die Menschen aus Protest gegen ihre Unterdrückung außerhalb der Hauptstadt al Ayoun ein riesiges "Lager der Würde" aufgeschlagen, das dann von den marokkanischen Sicherheitskräften brutal vernichtet wurde, es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Es folgten die Volksaufstände in Tunesien, Ägypten und im Rest der arabischen Welt. Gemeinsam ist den Aufständen der Kampf gegen die Jahrzehnte lange Herrschaft vom Westen ausgehaltener repressiver und korrupter Diktatoren, der Ruf nach Würde, Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie. Dies ist das genaue Gegenteil dessen, was Huntington und seine Apologeten zum Kern ihrer "Theorie" erhoben hatten, die Unvereinbarkeit zwischen Demokratie und Islam. Muslimische Identität wurde von diesen Jüngern des Orientalismus, den schon Edward Said so treffend demaskiert hatte, auf eine einzige Eigenschaft reduziert, die Religion. Und diese musste - ganz im Sinne der alten Definition von Ernest Renan - dafür herhalten, den Muslimen nicht nur jede Fähigkeit zu rationalem Denken, sondern Demokratriefähigkeit schlechthin abzusprechen.

Die arabischen Revolten haben gezeigt, dass hier Menschen für ihre elementaren Rechte auf die Straße gingen und gehen, dass "Würde" zwar auch die bürgerlichen Menschenrechte meint, jedoch nicht reduziert werden kann auf politischen Pluralismus und Meinungsfreiheit, sondern einen harten materiellen Kern beinhaltet: Das Leben unter menschenwürdigen Bedingungen, die basieren auf einem die Grundbedürfnisse deckenden Lohn, auf dem Recht auf eine menschenwürdige Wohnung, auf den Voraussetzungen für die Ausbildung und für Berufsperspektiven der Kinder. Die Demonstranten waren und sind Demokraten, Gläubige und Säkulare, Ärzte, Richter, Arbeiter und Arbeitslose, Frauen und Männer, vor allem Jugendliche, kurz das Volk. Und darin unterscheiden sie sich nicht nennenswert von jenen Demonstranten, die in Athen oder Madrid, ja sogar in Tel Aviv auf die Straße gehen und rufen "Marschieren wir, wie die Ägypter!" Und sie fordern Demokratie nicht als Formalie, sondern im grundlegenden Sinne der Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten.

Wenn richtig ist, was Barack Obama in seiner berühmten Rede in Kairo unter dem Titel "A New Beginning" sagte, das die USA keinen Krieg gegen den Islam führen, dann sollte hieraus endlich die Konsequenz gezogen werden und das enorme Potenzial erkannt werden, das im Streben der arabischen (und nicht nur dieser) Gesellschaften nach Würde liegt. Das würde allerdings voraussetzen, dass das Huntington'sche Paradigma vom Kampf der Kulturen endlich als Folie für politische Entscheidungsfindung beiseite gelegt wird, wie es selbst Alvaro de Vasconcelos, Direktor des militärpolitischen Think Tanks der EU in einem brillanten Plädoyer fordert. (24) Dies jedoch ist leichter gesagt als getan: Nicht nur wird es schwer fallen, ein über Jahrzehnte aufgebautes Feindbild zu demontieren. Dahinter steht auch die fatale Frage, welche Legitimität der NATO bleibt, wenn sie zum zweiten Mal ihren Feind verliert.


Anmerkungen:

(1) http://www.americanforeignrelations.com/A-D/Doctrines-The-truman-doctrin... [07-11-11].

(2) Ruf, Werner: Die NATO - Ein Sicherheitsrisiko? In: ÖSFK / Ronald Tuschl: Auf dem Weg zum neuen Kalten Krieg? Friedensbericht 2009, Wien - Berlin 2009, S. 48 - 63.

(3) Strutynski, Peter: Die Globalisierung der NATO - oder: Die Militarisierung des Globus. In: ÖSFK / Tuschl a. a. O. S. 64 - 87.

(4) Vgl. dazu auch Werner Ruf: Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der Dritten Welt, Münster 1994, insbes. S. 66 - 121.

(5) Reinhard Schulze: "Vom Antikommunismus zum Antiislamismus. Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West-Konflikts", in: Peripherie Nr. 41/1991, S. 5 - 12, hier S. 7.

(6) Klaus F. Geiger: "Deutsch-europäische Festungsgeschichten und die (Re)-Konstruktion des Feindes Islam", in: A. Foitzik u.a. (Hrsg.): Ein Herrenvolk von Untertanen, Duisburg 1992, S. 163 - 184.

(7) République Française: Livre blanc sur la Défense, Paris 1994, S. 18.

(8) Interview mit der britischen Tageszeitung The Independent vom 08. Februar 1995.

(9) Ruf, Werner: Islam: A New Challenge to the Security of the Western World; in: Ruf, Werner (Hrsg.): Islam and the West - Judgements, Prejudices, Political Perspectives. Münster 2002, S. 41 - 54. Ders.: Muslime in den Internationalen Beziehungen - das neue Feindbild. In: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, VS-Verlag Wiesbaden 2009, S. 121 - 129.

(10) Vgl. Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne, Stuttgart 1996.

(11) Vgl. hierzu exemplarisch Edward Said: Orientalism, Western Conceptions of the Orient, London 1978.

(12) Ernest Renan: "De la part des peuples sémitiques", in: Oeuvres complètes, Bd. 2, Paris 1948, S. 333; zit. nach Albert Hourani: Der Islam im europäischen Denken, Frankfurt/Main 1994, S. 45.

(13) Aziz El Azmeh: Islams and Modernities, London 1993, S. 130f.

(14) So der Titel seines Aufsatzes in Foreign Affairs, Nov/Dez. 1996, S. 28 - 46.

(15) in: Foreign Affairs, Sommer 1993, S. 22 - 49

(16) Helge Hansen, (damals Inspekteur des Heeres): "Das deutsche Heer auf dem Weg in die Zukunft", Rede vor der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik. Koblenz 15.04.1993; in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Stichworte zur Sicherheitspolitik, Nr. 5/1993, S. 34 f.

(17) Stercken, Hans: "Die Außen- und Sicherheitspolitik des souverän gewordenen Deutschland", in: Stichworte zur Sicherheitspolitik Nr. 9/1991, S. 16 - 18.

(18) Broder, Henryk: Hurra, wir kapitulieren! Berlin 2006.

(19) Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. München 2010.

(20) Ruf, Werner: Afghanistan im Fadenkreuz der Geostrategie; in: spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Nr. 176 (Heft 1/2010), S. 32 - 37.

(21) Ruf, Werner: Terroristenbekämpfung oder Ressourcensicherung? Afrika im visier der USA; in: Luedtke, Ralph M./Strutynski, Peter (Hrsg.): Deutschland im Krieg. Transatlantischer Imperialismus, NATO und EU, Jenior-Verlag Kassel 2009, S. 206 - 226.

(22) "Terrorism poses a direct threat to the security of the citizens of NATO countries, and to international stability and prosperity more broadly. Extremist groups continue to spread to, and in, areas of strategic importance to the Alliance ..."
http://www.nato.int/lisbon2010/strategic-concept-2010-eng.pdf [07-011-11].

(23) www.democracynow.org [17. Februar 2011].

(24) Vasconcelos, Alvaro de: The Post-Huntington Revolutions. European Union Institute for Security Studies, ISSues Nr. 35, May 2011.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 68, Winter 2011

Gastkommentar:
- Modell Türkei: "They all went in Prison". Von Corry Guttstadt

Feind Bild Islam
- Arabische Aufstände, Islam und Postmoderne. Von Arshin Adib Moghaddam
- Die NATO und das Feindbild Islam. Von Werner Ruf
- Historisierung des Feindes, Globalisierung des Islam, der Gewalt einen neuen Namen geben. Von Mohammad R. Salama
- Jihad Jane von Deepa Kumar
- US-Netzwerk der Islamophobie
- Islamophobie - Plädoyer für eine internationale Bezeichnung. Von Sabine Schiffer
- Islamophobie und Rechtspopulismus. Von Dagmar Schatz
- Aufruf zum Bürgerkrieg? - Das Pariser Islamophobenmanifest. Von Eric Hulsens
- Anders B. Breivik: Wir schufen das Monster! Von Luk Vervaet
- Islamophobia Industry: Zionismus und der Nahe Osten. Von Farha Khaled

Afghanistan
- 8 Schritte zur Desavouierung westlicher Demokratie. Von Matin Baraki

Usbekistan
- Usbekistan: ein "Staat", der antistaatlich agiert? Von Nick Keith

Palästina/Israel
- Wie der "Friedensprozess" die Selbstbestimmung ausgehöhlt hat. Von Ali Abunimah

Syrien
- Schnittmengensuche.
Zwischen Autoritarismus und Neoliberalismus. Von Omar S. Dahi/Yasser Munif
- Fronten und Konfliktdynamik. Von Hassan Abbas


Sudan
- Neue Regierung, Ancien Regime? Von Roman Deckert und Tobias Simon

Westsahara
- Die Westsahara im Abseits der arabischen Revolution. Von Susanne Schmid

Wirtschaftskommentar
- Die politische Ökonomie des Golf- Kooperationsrates. Von Adam Hanieh

Ägypten
- Giftgas gegen das eigene Volk? Von Dagmar Schatz

Zeitensprung
- Der Untergang der "Egoz". Von Jörg Tiedjen

Ex Mediis
- Revolutionen - und sonst? Von Irit Neidhardt
- Über das Entstehen einfältiger Bilder
- Zalman Amit/Daphna Levit: Israeli Rejectionism. Von Ludwig Watzal
- Äthiopien - von innen und außen, gestern und heute. Von Fritz Feder
- Jean-Baptiste Rivoire: Le Crime de Tibhirine. Von Werner Ruf
- "Fix me", Regie : Raed Andoni, Palästina 2009. Von Pepe Egger

Nachrichten//Ticker


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Quelle:
INAMO Nr. 67, Jahrgang 17, Herbst 2011, Seite 9 - 12
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012