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FRIEDEN/1024: Angewandte Suprematie ... Netanjahu vor UN-Generalversammlung (SB)



Bei seinem Auftritt vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu all diejenigen beschimpft, die bei der Rede des iranischen Präsident Mahmud Ahmedinejad nicht den Saal verlassen haben. Dieser leugne den Holocaust und wolle Israel auslöschen, so Netanjahu, um, an die Adresse der Menschen, die dennoch hören wollten, was der iranische Präsident zu sagen hatte, gerichtet zu fragen: "Verspüren Sie keine Scham? Haben Sie keinen Anstand?"

Zweifellos tut Ahmedinejad seinem Anliegen, international als Staatschef eines nicht aggressiv expandierenden und nicht atomar aufrüstenden Staates wahrgenommen zu werden, mit der ihm eigenen Vorgehensweise keinen Gefallen. In seinem Versuch, die Instrumentalisierung des Holocaust durch die israelische Regierung, von der Netanjahus Auftritt in New York einmal mehr Zeugnis ablegte, anzuprangern, überzieht der iranische Präsident gewaltig. Der Erfolg dieser Strategie kommt den Regierungen zugute, die Druck auf sein Land ausüben, indem er ihnen auch noch Argumente an die Hand gibt. Was die von Netanjahu behauptete Absicht, Ahmedinejad wolle Israel vernichten, betrifft, so wurde mehrmals klargestellt, daß dies auf einem dennoch systematisch reproduzierten Übersetzungsfehler beruht.

Ohnehin sollte unbestritten sein, daß Sprechen dem Kriegführen in allen Fällen vorzuziehen ist. In Anbetracht der mit massiven propagandistischen Mitteln vorgetragenen Kampagne, den Iran an den Schandpfahl der Weltemeinschaft zu stellen, gilt dies um so mehr. Wenn ideologische Stigmatisierungen im Ergebnis bewirken, daß Tausende von Menschen sterben müssen, dann erweisen sie sich als Waffen einer Kriegführung, bei der schon Worte möderische Folgen haben können.

Der Regierungschef Israels wirft sich in die Brust des moralisch besseren Menschen, als die er all diejenigen Regierungsvertreter hofiert, die den Saal während der Rede Ahmedinejads verließen. "Was für eine Schande! Was für eine Verhöhnung der UN-Charta!" ereifert sich ein Politiker, dessen Land seit Jahrzehnten gültige UN-Resolutionen mißachtet, das erst Anfang des Jahres eine wehrlose Bevölkerung mit einem mörderischen Bombardement überzogen hat und das die Betroffenen heute noch aushungert. Das ist die "Zivilisation des 21. Jahrhunderts", die Netanjahu unter Blick auf die islamische Welt gegen die "Barbarei des 9. Jahrhunderts" stellt. Was immer es an der moralischen Rigidität und gesellschaftlichen Repression vom Islam bestimmter Gesellschaften auszusetzen gibt, kann nicht schlimmer sein als eine jahrzehntelang währende Besatzungspolitik, bei der den Betroffenen grundlegende Rechte vorenthalten und sie einem Leben in Armut und Enge ausgeliefert werden.

Auf einen expliziten Vergleich der Kulturen wollte es Netanjahu allerdings nicht ankommen lassen, galt die gegen Ahmedinejad gerichtete Einleitung seiner Rede doch lediglich dazu, die eigene Gerechtigkeit derart zu verabsolutieren, daß der Goldstone-Report, der die israelischen Streitkräfte verbrecherischer Handlungen gegenüber den Palästinensern bezichtigt, so schnell und folgenlos wie möglich wieder in der Schublade verschwindet. Dieser Untersuchungsbericht setze, so Netanjahu mit der Inbrunst des unschuldig Verfolgten, die Terroristen mit ihren Opfern gleich. Der israelische Regierungschef meint damit die Palästinenser, die Raketen auf israelisches Gebiet abschossen und die im Sinne der von ihm beanspruchten Moral des besseren Menschen hundertfach dafür gestraft werden mußten.

Netanjahus Versuch, die von seinem Land eingesperrten und unterdrückten Palästinenser als Aggressoren darzustellen, die wider die angebliche Zurückhaltung Israels den Bogen überspannten und ihre Heimsuchung daher selbst zu verantworten hätten, wird durch ausführliche Untersuchungen der faktischen und politischen Ereignisse im Vorfeld des Überfalls auf Gaza ad absurdum geführt. Es handelt sich um simple Rhetorik, die, wäre sie unter einer vergleichbaren Verdrehung der Tatsachen aus dem Munde Ahmedinejads gekommen, in westlichen Medien als "Haßpredigt" angeprangert worden wäre.

Nicht so im Fall des israelischen Regierungschefs. Über seine Rede wurde, wenn überhaupt, in deutschen Medien neutral bis zugewandt berichtet. Wer es wagte, einen direkten inhaltlichen Vergleich zwischen der Rhetorik Netanjahus und Ahmedinejads anzustellen, dürfte seiner beruflichen Karriere als Journalist einen Bärendienst erwiesen haben. Es macht nichts, wenn der israelische Regierungschef die Anhänger einer Weltreligion pauschal der Rückständigkeit und Barbarei bezichtigt. So etwas gehört in den Kreisen westlicher Regierungsvertreter zum guten Ton, der schon deshalb angeschlagen wird, um sich von mittelalterlichen, in tribalistischen und patriarchalischen Traditionen gefangenen Potentaten abzusetzen. Man macht gerne gute Geschäfte mit ihrem Öl, verkauft ihnen Kampfbomber und Panzer, um sie gegen den bösen Nachbarn aufzubringen, der seinerseits zu den Käufern westlicher Rüstungsgüter gehört, nimmt gerne die in ihren Ländern ausgebeuteten Arbeiter für die Rentabilität der eigenen Kapitale in Anspruch und singt ein Loblied auf den Islam, wenn er sozialistische Experimente verhindert. Insgeheim bleiben die Regierungen arabischer, afrikanischer und asiatischer Staaten subalterne Verwalter eines kolonialistischen Lehens, das zu sichern dazu berechtigt, eigene Truppen in weit entfernten Regionen aufmarschieren zu lassen.

Israel will sich nur gegen "den Terror" verteidigen und wird in diesem ausschließlich defensiven Anliegen vollständig verkannt. Der Verschlußcharakter des Begriffs enthebt Netanjahu der Notwendigkeit, die Frage zu beantworten, in welchem Zusammenhang palästinensische mit israelischer Gewalt zueinander stehen. "Ganz Israel will Frieden". Zweifellos, wer wollte keinen Frieden. Ausgeklammert aus diesem Ansinnen werden die materiellen Bedingungen des Lebens von Menschen, die für Netanjahu der eigenen Definition des jüdischen Staats nach Bürger zweiter Klasse sind und die in den von Israel besetzten und besiedelten Gebieten ohnehin rechtlos bleiben.

Während Netanjahu sich in Friedensrhetorik übt, erklärt er, daß die Palästinenser sich zwar selbst regieren sollen, aber keinen vollwertigen Staat erhalten können, weil dieser ein zu großes Sicherheitsrisiko für Israel darstelle. Ein palästinensischer Staat müsse "wirksam demilitarisiert" werden, ansonsten sei zu befürchten, daß wenige Kilometer von Jerusalem und Tel Aviv entfernt eine "iranisch unterstützte Terrorbasis" entstehe. Was sollen Palästinenser davon halten, im eigenen Land von einem Terrorregime unterdrückt zu werden, daß seine militärische Überlegenheit rücksichtslos einsetzt, um Menschen zu auszuhungern, zu verschleppen, zu foltern und zu ermorden? Gibt es für die Palästinenser das Recht staatlicher Gleichheit und Souveränität, auf der die von Netanjahu hochgehaltene UN-Charta basiert?

Es steht ihnen, zumindest laut der Stellungnahme dieses israelischen Regierungschefs, nicht zu. Den Palästinensern wird unter der Prämisse der von den USA und EU gedeckten israelischen Vorherrschaft schlicht aberkannt, überhaupt als Rechtssubjekt in Erscheinung zu treten, also die gleichen Bedingungen in Anspruch zu nehmen, die die Partei für sich reklamiert, mit der sie in Konflikt stehen. Netanjahu, der sich darüber beklagt, daß der iranische Präsident die Leiden der vom NS-Regime vernichteten Juden leugnet, leugnet den Anspruch der Palästinenser auf grundsätzliche Gleichbehandlung nach Maßgabe humanitären und internationalen Rechts. Er pflegt im Verhältnis zu den arabischen Bürgern Israels wie den Palästinensern in den besetzten Gebieten ein Verhältnis der Subordination, daß aufgrund seiner ethnischen Bestimmung als rassistisch bezeichnet werden muß.

Indem an den israelischen Ministerpräsidenten nicht die gleichen Wertmaßstäbe angelegt werden wie an seinen erklärten Feind, zeigt sich der strategische Charakter der Verurteilung des iranischen Präsidenten als eine Art Haßprediger und Massenmörder. Wenn der Tatbestand des Antisemitismus gegeben ist, weil Rassismus generell zum Problem erhoben und nicht nur dann kritisiert wird, wenn sein Urheber im Widerspruch zum Universalismus der westlichen Werteordnung steht, dann handelt es sich um eine interessenpolitisch bedingte Ideologie, die ihre Gültigkeit aus herrschenden Machtverhältnissen schöpft.

Israel ist den Vereinten Nationen gegenüber nicht zu Dank verpflichtet, weil es seine staatliche Existenz der im Rahmen der Weltorganisation beschlossenen Teilung Palästinas zu verdanken hat. Es ist lediglich, wie alle anderen Staaten auch, dazu angehalten, das Gewaltverbot der UN-Charta, die Genfer Konventionen zum Umgang mit der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten und Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zum Rückzug aus denselben zu berücksichtigen. Vor den in New York versammelten Delegierten der Staatenwelt das legitime Vorgehen der UNO zu verwerfen, die Folgen eines von israelischen Soldaten angerichteten Massakers zumindest in Einzelaspekten zu untersuchen, entspricht dem generell in Anspruch genommenen Ausnahmecharakter des Umgangs Israels mit der Weltorganisation. Zu behaupten, daß dies Folge einer suprematistischen Ideologie sei, ist zweifellos ein antisemitisches Vergehen im oben genannten Sinne.

28. September 2009