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FRIEDEN/1080: Palästina und Israel ... Zerrbilder des Friedens verstellen die Sicht (SB)



Als US-Präsident Barack Obama vor drei Jahren eine neue Runde im brachliegenden Friedensprozeß zwischen Israelis und Palästinensern einleiten wollte, da zeigte sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bereit, "schmerzhafte Zugeständnisse" an seinen "Partner im Frieden", den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, zu machen. Nicht wenige Palästinenser wußten schon damals aus leidvoller Erfahrung, daß der israelische Regierungschef nicht zu seinem Wort stehen wird, und entzogen dieser Friedensinitiative ihre Unterstützung. Die auf eine endlos lange Bank geschobene Aussicht auf einen eigenen Staat zerfällt mit der weiteren Fragmentierung und Reduzierung des Gebietes, auf dem er errichtet werden soll. Man könne nicht über die Aufteilung der Pizza verhandeln und sie gleichzeitig essen, so das treffliche Bild für einen politischen Prozeß, dessen zentrales Merkmal darin besteht, daß er seit Jahrzehnten ausschließlich zu Lasten einer der beteiligten Konfliktparteien geht.

Wenn die US-Regierung ihrem Verbündeten Israel nicht einmal das Zugeständnis eines Baustopps abringen kann, der die Fortsetzung der praktischen Annexion eines Territoriums darstellt, dessen Besiedlung durch Bürger des Staates, der es 1967 erobert hat, von vornherein völkerrechtswidrig war, existiert in Washington auch kein politischer Wille dafür. Es ist schlichtweg irreführend zu behaupten: "Der mächtigste Mann der Welt hat kapituliert vor einer Schar von Siedlern auf den Hügeln von Judäa und Samaria." (09.12.2010, Süddeutsche Zeitung). Weder verfügt Obama über die ihm zugeschriebene Macht, noch kapituliert er vor einigen tausend radikalen Siedlern. Der US-Präsident ist bei seinen außenpolitischen Entscheidungen auf den mehrheitlichen Konsens des Kongresses angewiesen, der in diesem Fall nicht existiert. Es wäre ein leichtes für die US-Administration, wirksamen Druck auf die israelische Regierung auszuüben, indem nur die milliardenschwere Militärhilfe der USA für Israel suspendiert würde. Daß nicht einmal zu einem solchen Mittel gegriffen wird, um von anderen üblichen Druckmitteln der US-Außenpolitik wie Sanktionen gar nicht erst zu sprechen, zeugt davon, daß der Interessenkonflikt zwischen den USA und Israel partikularen Charakters ist und von einer größeren Übereinstimmung zwischen den beiden Regierungen konterkariert wird.

Ohne die grundsätzliche Verkennung, man habe es im Falle der USA und Israels mit zwei voneinander unabhängigen nationalen Kollektiven zu tun, käme die Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß das weit kleinere Israel den weit größeren USA Bedingungen diktiert, die den geostragischen Interessen Washingtons schaden könnten, gar nicht erst auf. Wenn die zweifellos verschiedenen souveränen Interessen Israels und der USA nicht in weit größerem Maße zu Lasten Dritter gingen, als daß sie das Konto des jeweils anderen belasteten, dann hätte man es tatsächlich mit einer machtpolitisch irrationalen Konstellation, als die das Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten gerne apostrophiert wird, zu tun. Dieser blinde Fleck in der herrschaftskonformen Analyse des Nahostkonflikts korrespondiert mit dem klassischen Mißverständnis, bei Israelis und Palästinensern handle es sich um zwei gleichwertige Verhandlungspartner. Die in politischen Stellungnahmen westlicher Regierungen obligatorische Ermahnung, beide Seiten sollten an den Verhandlungstisch zurückkehren, unterschlägt das ihr Verhältnis zueinander bestimmende Gewaltverhältnis. Dieses stellt sich nicht nur in dem völkerrechtlichen Antagonismus zwischen Besatzern und Besetzten dar, sondern manifestiert sich in einem kolonialistischen Klassenverhältnis.

Zwar gibt es auch in Israel große Unterschiede zwischen arm und reich, doch klafft die Schere zwischen dem durchschnittlichen israelischen und palästinensischen Lebensstandard wesentlich weiter auf. Dies hat für die Kolonialmacht Israel den großen Vorteil, daß sie unter den von ihr aktiv durch sicherheitstechnisch legitimierte Obstruktion und Blockade am wirtschaftlichen Aufbau gehinderten Palästinensern eine Kompradorenbourgeoisie heranziehen kann, mit deren Hilfe sie den kolonialistischen Status quo auf lange Sicht beibehalten kann. Die palästinensische Oligarchie hätte bei einer weiteren Intifada zu viel zu verlieren, als daß sie einen Aufstand gegen die Besatzer nicht im Vorweg mit US-amerikanischer und israelischer Unterstützung verhinderte. Die Regierung in Ramallah stellt das untere Ende einer Vertikale regionaler Machtausübung dar, deren oberes Ende eine US-Regierung bildet, die nicht nur durch die in Washington residierende proisraelische Lobby, sondern vor allem aufgrund des eigenen Hegemonialstrebens im Nahen und Mittleren Osten auf das Bündnis mit dem zwischen diesen Polen rangierenden Israel eingeschworen ist.

Jüdische Siedler, die den US-Präsidenten als antisemitischen Muslim schmähen, lenken ab von der integralen Politik kapitalistischer Klassenherrschaft und geostragischer Dominanz. Man bedient sich des endlosen Dramas eines vergeblichen Friedensprozesses, um die Klassenwidersprüche der Staaten des HighTech-Kapitalismus nach außen zu wenden. Die dauerhafte Destabilisierung der mehrheitlich islamischen Staatenwelt hat zwar den Nachteil hoher militärischer Kosten, wie die Eroberung des Iraks gezeigt hat, zahlt sich aber durch die langfristige Abhängigkeit der Region vom Import westlicher Rüstungs- und Industriegüter, Wissensproduktion und Dienstleistungen wie die Notwendigkeit, die eigenen Herrschaftsinteressen mit der Ölrente zu finanzieren, aus.

Ein Frieden, der die Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens in den Stand versetzte, in höherem Ausmaß als bisher selbstbestimmt über ihre politische Zukunft zu befinden, liegt nicht im Interesse der westlichen Hegemonialmächte. Das Argument, den USA wäre doch sehr viel besser damit gedient, sich mit den arabischen Staaten und dem Iran zu arrangieren, anstatt sich auf Israel festzulegen, macht die Rechnung ohne die verelendeten Massen, die den Frieden der Paläste bedrohen. Eine durch die NATO-Staaten und mit ihnen assoziierter Akteure wie Israel gesicherte Hegemonie kommt gar nicht erst in die Verlegenheit, demokratische Kontrollverluste in bevölkerungsreichen Ländern wie Ägypten, in dem die soziale Opposition gegen das Regime Mubarak mit massiver Gewalt am Boden gehalten wird, zu riskieren.

So verfolgen die Länder des Nordens im Nahen und Mittleren Osten im günstigsten Fall ein Konzept der Befriedung, das die autokratischen Regime in Riad, Kairo, Amman und anderen arabischen Hauptstädten vor den eigenen Bevölkerungen schützt und zu Sachwaltern imperialistischer Interessen degradiert. Im schlechteren Fall verwandelt sich die erklärte Absicht der Befriedung in eine am Rand kriegerischer Eskalation lavierende Machtprobe, wie sie seit Jahren am Beispiel des sogenannten schiitischen Halbmonds vom Libanon bis in den Iran vorexerziert wird. Dem Versuch, despotische arabische Regierungen an der Seite Israels gegen den Iran und seine Verbündeten zu mobilisieren, entspricht im Mikrokosmos des Nahostkonflikts der von außen geschürte Konflikt zwischen Fatah und Hamas. Die politischen Hauptakteure der Palästinenser anhand einseitig an ihre Adresse gestellte Forderungen gegeneinander auszuspielen ist eine klassische Spaltungsstrategie, die die Kolonisatoren vom geschlossenen Widerstand der von ihnen kujonierten Bevölkerung entlastet.

Zur Legitimation dieser Fremdherrschaft trägt die Forderung, man müsse den Friedensprozeß endlich vollenden, maßgeblich bei. Begreift man den Nahostkonflikt als Fokus einer den Nahen und Mittleren Osten bis nach Pakistan und Afghanistan bestimmenden Kolonialstrategie, so wird klar, daß es für Palästina keine Separatlösung geben kann, die die Palästinenser tatsächlich in den Stand versetzte, zu einem handlungsfähigen politischen Subjekt zu werden. Sie wären auch nach einer realisierten Zweistaatenlösung Spielball größerer Akteure, wäre mit einem in jeder Beziehung von außen abhängigen, nur eingeschränkt souveränen Palästina doch weder der Klassenkonflikt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft noch in den Ländern der Region auch nur in die Nähe seiner möglichen Überwindung gerückt. Sich innerhalb von Staaten, die in ihrer territorialen Gestalt und ethnisch-religiösen Diversität ihrerseits Produkte des europäischen Kolonialismus sind, zu autonomer Handlungsfähigkeit durchzuringen ist das größere Problem, das hinter den Kämpfen um nationale Selbstbestimmung als erster Schritt zur Aufhebung des Klassenantagonismus steht.

Dieses Problem nicht in den Blick zu nehmen sorgt unter anderem dafür, daß das Eintreten der europäischen und nordamerikanischen Linken für die Selbstbestimmung der Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens mit Hilfe unterstellter antisemitischer Motive unterdrückt wird. Die kulturalistischen Chiffren, mit denen die Widerspruchslagen der Region verschlüsselt werden, fallen mit den Interessen, die sie in die Welt setzen, in eins. Die Annahme, imperialistisch agierende Staaten hätten eine emanzipatorische Lösung für die Probleme der Region im Sinn, verbirgt die materiellen Bedingungen des Konflikts hinter Zerrbildern eines Friedens, der nicht der der Hütten sein kann. Diese Nebelwand aus vorgeblich guten, Ausbeutung und Unterdrückung reproduzierenden Absichten zu durchdringen bedarf einer Gegenposition, die das Kapitalverhältnis und den Klassenwiderspruch zum Ausgangspunkt aller weiteren Fragestellungen und Bündnisoptionen macht.

9. Dezember 2010