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FRIEDEN/1093: Willkommen in Palästina ... doch nicht in Israel (SB)



Wir haben nichts davon gewußt, werden Deutsche wieder sagen, wenn eines Tages die Opferbilanz gezogen wird und es veränderte Verhältnisse erlauben, offen über die getöteten, vertriebenen, ausgehungerten, gefangengehaltenen, gefolterten und erniedrigten Palästinenser zu sprechen. Daß dieser Tag kommen wird, weiß man in Jerusalem ebenso gut wie in Berlin, Brüssel oder Washington, weshalb die politische Führung Israels der Doktrin ihrer eigenen absoluten Suprematie folgend niemals nachgibt oder Kompromisse eingeht. Zieht sie die Schraube nicht unablässig enger, muß sie befürchten, die Deutungshoheit und damit ihre schärfste ideologische Waffe zu verlieren. Dann würden sich die Gräber, Gefängnistüren, Grenzsperren, Flüchtlingslager und Armenhäuser öffnen und vor den Augen der Welt die Täter anklagen.

Die Deutschen haben es immer gewußt und wissen es auch heute - doch ob sie es wissen wollen steht auf einem ganz anderen Blatt. Zu den klassischen Werkzeugen der Geheimhaltung, Verschleierung und Propaganda, die in gewissem Umfang die Verhältnisse in den besetzten Gebieten und die Lage der Palästinenser in Israel unter dem Radar der Wahrnehmung halten können, gesellt sich ein wirkmächtigeres Instrument: Die Okkupation von Sprache und Denken. Wo der vielzitierte Menschenverstand erkennen müßte, wie im Nahostkonflikt Stärke und Schwäche verteilt sind, wo sich Mitleid mit den Unterdrückten und Leidenden regen sollte, wo Parteinahme gegen die Zügellosigkeit der Macht ihr Haupt erheben könnte, beherrschen Ignoranz, Gleichgültigkeit und Bezichtigung das Feld.

Die oder wir, lautet die Überlebensformel, deren Mathematik nur die Existenz zu Lasten anderer kennt. Da niemand mit den Herkünften und Konsequenzen seines eigenen Wohlergehens konfrontiert werden möchte, läßt man der Staatsdoktrin und Regierungspolitik freie Hand, gesellschaftliche Widersprüche zu leugnen, Feindbilder zu schaffen und sprachregulierende Antworten zu geben. Dies schafft jenen symptomatischen Zustand selbstgewählter Umnachtung, der dem nie abhanden gekommenen Wissen um die unablässigen Greuel und Grausamkeiten die Absolution des Gottgewollten, Naturnotwendigen und Legitimen verleiht.

Die Palästinenser sind die Verlierer, mit denen man nichts zu tun haben will, denn wer möchte schon auf der falschen Seite stehen, die zu verorten die instinktivste menschliche Regung ist. Damit das so bleibt, unterwirft man sie einer Schuldknechtschaft, aus der es kein Entkommen gibt. Was immer sie tun oder lassen, vermehrt den Saldo ihrer Bringschuld, erhöht ihre Bestrafung und verlegt das Ende ihrer Gefangenschaft in die Unendlichkeit. Sie sind eben keine Menschen wie wir, diktiert eine Mixtur aus uralten rassistischen und hochmodernen sozialchauvinistischen Bezichtigungsstrategien dem Bürger ins Stammbuch.

Wenn Deutsche, Schweizer, Franzosen, Belgier, Italiener, Briten, Griechen oder Amerikaner nach Tel Aviv reisen, um offen ihre Freunde in den Palästinensergebieten zu besuchen, ist das kein Vorgang, den die israelische Regierung dulden würde. Keine schlafenden Hunde zu wecken, heißt für die Administration Premierminister Benjamin Netanjahus nicht etwa, die Aktion totzuschweigen oder als belanglos abzutun. Ganz im Gegenteil erhebt sie ein Kriegsgeschrei, als stünden die Hunnen vor den Toren, und erstaunt die Weltöffentlichkeit wie schon im Fall der Gaza-Flottille mit einer atemberaubenden Vorwärtsstrategie. Zwang man alle Mittelmeeranrainer ins Geschirr, die Blockadepolitik umzusetzen, so verpflichtet man nun die internationalen Fluggesellschaften, israelische Einreiseverbote bereits in den Herkunftsländern zu exekutieren. Wer dennoch durchkommt, wird auf dem Flughafen Ben Gurion von einer martialischen Übermacht an Sicherheitskräften separiert, verhört, eingesperrt und abgeschoben.

Springt man so vor aller Augen mit Besuchern aus Ländern um, an deren Unterstützung Israel gelegen sein müßte? Manche israelischen Medienvertreter und Politiker melden Zweifel an der Sinnfälligkeit dieser Vorgehensweise an. Der frühere Militärsprecher und heutige Abgeordnete der oppositionellen Kadima-Partei kritisierte die Mobilisierung im Fernsehen mit den Worten: "Israel behandelt Demonstrationen nichtbewaffneter Zivilisten noch immer wie eine militärische Bedrohung." Im Radio war von einer "Hysterie" der Behörden die Rede, und die Zeitung Jediot Ahronot titelte: "Wir sind verrückt geworden." Verschiedene Zeitungen werfen den Behörden vor, unter Paranoia zu leiden und mit Panikmache dem Image Israels im Ausland zu schaden und es aussehen zu lassen wie einen Polizeistaat. [1]

Solchen Bedenken gibt die Regierung Netanjahu keinen Raum. Kabinettsmitglieder und Vertreter der Sicherheitskräfte warnten im Vorfeld vor "Provokateuren", "Unruhestiftern", "Extremisten", "Radikalen", "Hooligans" und "Gestörten", die nicht ins Land zu lassen man jedes Recht habe. Dieses Getöse erweckte zwangsläufig die Aufmerksamkeit internationaler Medien, die wie schon im Falle der Gaza-Flottille ausführlich berichteten. Dabei kamen auch die AktivistInnen der Gruppe "Willkommen in Palästina" zu Wort, die unter anderem Umständen keine Erwähnung in der deutschen Mainstreampresse gefunden hätten. Wie Sophia Deeg vom "Deutschen Koordinationskreis Palästina Israel" erklärte, wollten bis zu 700 Menschen im Rahmen der Aktion eine Woche im besetzten Westjordanland verbringen. Bei ihrer Einreise wollten sie ein Signal senden, "dass man einreist und offen sagt bei der Passkontrolle: Wir besuchen unsere palästinensischen Freunde. Wir können nicht anders in die besetzten Gebiete als durch von Israel kontrollierte Grenzen". Sie kritisierte das israelische Vorgehen als "provokativ, erpresserisch und illegal". Israel habe "seine Grenzkontrolle nach Europa verlegt und die Fluggesellschaften kooperieren dabei", so Deeg. [2]

Die israelische Führung rast ungebremst auf der Einbahnstraße voran und brüllt die Kritiker nieder, um aller Welt ihre Doktrin und Lesart aufzuzwingen. Daß dabei plötzlich auch die andere Seite gehört wird, ist der Preis, den sie für diese Strategie zahlen muß.

Aktuelle Berichte siehe:
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Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/ausland/palaestina130.html

[2] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15219966,00.html

9. Juli 2011