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FRIEDEN/1137: Israel - Palästina und der Staffellauf der Mächtigen ... (SB)



Heute ist Gaza vollständig von Israel abgeschottet, das Westjordanland in einem etwas geringeren Ausmaß. Ich verstehe nicht, auf welche Weise diese Situation, in der den Palästinensern fortgesetzt Land, Wasser und vieles mehr weggenommen und die Ökonomie Gazas großflächig zerstört wird, den Israelis nützen und zu ihrer Sicherheit beitragen soll. Das ist in gewisser Weise eine rhetorische Frage, aber es macht tatsächlich keinen Sinn. So sehr Israel auch versucht, sich vor den Palästinensern abzuschotten, ist doch die endgültige Trennung unmöglich. Die beiden Völker leben auf einem kleinen Stück Land in einem Abstand nebeneinander, der sich im Höchstfall auf wenige Meilen bemisst. Wenn es gestattet wäre, könnte man von Tel Aviv entlang der Küste zu Fuß nach Gaza-Stadt gehen.
Dr. Sara Roy, Senior Research Scholar am Center for Middle Eastern Studies der Harvard University, 2014 im Gespräch mit dem Schattenblick [1]

Grenzen bilden die zentrale Achse im Gewaltverhältnis zwischen Israelis und PalästinenserInnen, Grenzen von blutiger und furchteinflößender Monstrosität, aber auch kaum wahrnehmbare Grenzen administrativer und rechtlicher Art. Im Jahr 2021, wo die Notwendigkeit der Dekolonisierung staatlicher Verfügungsgewalt, politischer Hegemonie, kultureller Definitionsmacht und ästhetischer Praktiken ins Bewusstsein vieler Menschen in den Zentren des europäischen Kolonialismus gerückt ist, gibt es weltweit wohl kaum ein zweites Territorium, auf dem sich die Logiken sozialer Kontrolle, technischer Surveillance, militärischer Gewalt, demographischer Bevölkerungspolitik und ethnisch-religiöser Konfrontation auf so kleinem Raum verdichten wie in Israel und Palästina.

100 Meter breit ist die No-Go Zone direkt vor dem Grenzzaun, der Gaza von Israel trennt. Stacheldrahtrollen und ein drei Meter hoher, elektronisch kontrollierter Sperrzaun, der vom israelischen Militär bewacht wird, schließt diese Zone auf der Israel zugewandten Seite ab. Wer sie betritt, muss damit rechnen, erschossen zu werden. 300 Meter breit ist die relative No-Go Zone, sie kann zu Fuß oder zur Feldbestellung betreten werden, ist potentiell aber ebenso tödlich. So wurde zwischen 2010 und 2017 bei 1.300 Anlässen mit scharfer Munition von den Sperranlagen nach Gaza hinein geschossen. Dabei starben 161 PalästinenserInnen und mehr als 3.000 wurden verletzt.

Dennoch gab der "Große Marsch der Rückkehr" Anlass zu zahlreichen Demonstrationen an der Grenze zwischen Israel und Gaza. Anfangs initiiert als zivilgesellschaftliche Kampagne wurde dieser Versuch, die faktische Gefangenschaft von zwei Millionen Menschen in diesem 41 Kilometer langen und 6 bis 10 Kilometer breiten Streifen Landes am Mittelmeer zu überwinden, mit dem Leben von 241 DemonstrantInnen bezahlt. Über 8.000 trugen Schussverletzungen davon und Dutzende von Amputationen wurden durchgeführt, ohne dass der Sicherheitszaun jemals überwunden wurde.

Zwar wurden Steinschleudern eingesetzt, es stiegen auch einzelne Ballons mit zündbarem Material auf, aber von einer ernstzunehmenden Bedrohung der israelischen SoldatInnen durch die Masse der meist nur stehenden und schauenden PalästinenserInnen konnte zu keinem Zeitpunkt gesprochen werden. Doch auch sie wurden zu Opfern vor allem auf den Kopf gerichteter Schüsse, wovon weder Kinder oder Behinderte noch Journalisten und medizinisches Personal ausgespart wurden. Was sich aus der Ferne mit Zielfernrohr und Präzisionsgewehren ausgestatteter Scharfschützen, die ihre Abschüsse im Dialog mit ihren Vorgesetzten vorbereiteten und vollzogen, wie eine Jagd auf friedlich grasendes Wild ausmachte, steigerte auf Seiten der Betroffenen die ohnmächtige Verzweiflung, mit der das ganze Elend eines unter Armutsbedingungen in einem der dicht besiedeltesten Gebiete der Welt eingesperrten Lebens zum Ausdruck gebracht wurde.

Die später von diversen politischen Gruppen in Gaza inklusive der regierenden Hamas organisierten Proteste erweckten zwar den Eindruck eines Reenactments des alttestamentarischen Kampfes zwischen David und Goliath, doch der palästinensische David hätte, anders als in dieser biblischen Geschichte, nicht aussichtsloser agieren können. Der Great March of Return war eine symbolische Aktion, bei der Menschen allen Alters und Geschlechts zur modernen Aktionsform eines selbstorganisierten Massenprotestes griffen, anstatt sich in lebendige Bomben zu verwandeln oder selbstgebaute Raketen auf israelisches Gebiet abzufeuern. In dem 2019 veröffentlichten Film "Gaza Fights For Freedom" wurden die Ereignisse an der Grenze dokumentiert [2] - sie vermitteln einen Eindruck davon, dass es viele Gründe gibt, vom Traum der Freiheit auch dann nicht zu lassen, wenn mensch sprichwörtlich vor der Wand steht.

Die Berichterstattung in den mit Israel verbündeten Ländern bezichtigte meist die Hamas, unbewaffnete Kinder und Frauen für ihre eigenen Machtambitionen ins Feuer zu schicken. Als kollektiver Aufschrei einer Bevölkerung, die ihr von außen aufoktroyiertes Schicksal nicht länger hinzunehmen bereit war, sollten die Proteste jedenfalls nicht verstanden werden. Subjektiver Zorn, der Menschen über sich hinauswachsen und zu verzweifelten Taten schreiten lassen kann, muss systematisch negiert werden, weil das Gründe für ihr Tun offenlegen könnte, die nicht in das weithin bevorzugte Narrativ eines von beiden Seiten auf Augenhöhe ausgetragenen, wenn nicht gar von palästinensischer Seite aggressiv verursachten Konfliktes passen.


Offene Wunde Gaza

Was die Grenze zwischen Israel und Gaza als unüberwindliche Barriere so signifikant für den ganzen Konflikt macht, ist die Diskrepanz zwischen Lebensbedingungen, die auf der einen Seite denen einer Favela in Sao Paulo oder eines Slums in Mumbai entsprechen, während auf der anderen Seite westeuropäischer Lebensstandard herrscht. Alle sozialen Indikatoren dokumentieren ein quasi mikroskopisch auf kleinstem Gebiet eingedampftes soziales Gewaltverhältnis, was sich ansonsten über die langen Wege interkontinental ausgebreiteter Kolonialbeziehungen erstreckt und an vielen Orten verteilt.

Die humanitär auf Dauer gestellte Katastrophe in Gaza ist menschengemacht. Sie ist ein Ergebnis des seit der Staatsgründung Israels 1948 und der anschließenden Vertreibung zahlreicher PalästinenserInnen aus den von ihnen besiedelten Regionen unaufgelösten, durch die Jahrzehnte fest zementierten Gewaltverhältnisses zwischen beiden Gruppen. Fast endlos ziehen sich kausal aufeinander bezogene Aggressionen durch die Jahre, fast unentwirrbar erscheint das Knäuel aus gegenseitiger Bezichtigung und dazu aufgefahrener historischer Legitimation. Im 73. Jahr des Tages der Nakba am 15. Mai [3] bedarf es denn auch einiger Mühe, das gerne aufgemachte Bild von einer "Spirale der Gewalt", also einander aufschaukelnder, quasi frei im Raum hängender, fast schicksalhaft bedingender Aggressionen zu dekonstruieren.

Dem pflegeleichten, kaum politische Konsequenzen zeitigenden Diskurs zweier prinzipiell gleichberechtigt erscheinender Konfliktparteien steht die materiell wie ideologisch belegbare Praxis eines Siedlerkolonialismus gegenüber, der von allen bisherigen israelischen Regierungen beibehalten wurde. Er geht vor allem zu Lasten der palästinensischen Bevölkerung in den von Israel besetzten Gebieten, aber auch in Israel selbst. Letzteres insofern, als die prinzipielle rechtliche und staatsbürgerliche Ungleichheit zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis in der Geschichte des Jüdinnen zum Verfassungssubjekt erklärenden Nationalstaates Israel wurzelt, ersteres, weil der in den Oslo-Verträgen 1993 institutionalisierte Friedensprozess nicht nur stagniert, sondern von der machtpolitisch über das Staatsgebiet Israels wie die Palästinensergebiete souverän verfügenden Regierung in Jerusalem de facto zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht wird.

Gaza ist auch deshalb die tiefste Wunde im schmerzerfüllten Fleisch dieses Konflikts, weil das hermetisch nach allen Seiten, meist auch zu Ägypten hin abgeriegelte, in seiner Versorgung fast vollständig von Israel abhängige Gebiet mit fast 5.500 Menschen pro Quadratkilometer eine mehr als 13-mal so hohe Bevölkerungsdichte wie Israel hat. Seine Bevölkerung leidet nicht nur an materieller Armut, kaum vorhandenen Jobs, unzureichender Gesundheitsversorgung, kaum trinkbarem Wasser, einer immer wieder unterbrochenen Stromversorgung, einer dauerhaft kriegszerstörten Infrastruktur, sondern unter in jeder Beziehung massiv eingeschränkter Selbstbestimmung. Erschwerend kommen die alle Jahre wieder erfolgenden Angriffe auf Gaza hinzu, die sich nicht auf die Einrichtungen der Hamas oder anderer militanter Gruppen beschränken, sondern die Zivilbevölkerung schwer treffen. Darunter zu leiden hat auch Israels Bevölkerung, wenn sie Ziel der Raketen der Hamas wird, die jedoch häufig von der israelischen Raketenabwehr abgeschossen werden oder unwirksam auf freiem Gelände niedergehen.

2008 waren unter den 1391 getöteten PalästinenserInnen 759 Zivilisten, während 3 Israelis getötet wurden. 2012 starben 87 Zivilisten von insgesamt 167 toten PalästinenserInnen, während 4 Israelis getötet wurden. 2014 starben 1.462 Zivilisten von insgesamt 2.104 bei den Kampfhandlungen getöteten PalästinenserInnen, während 7 Israelis getötet wurden. Zur Zeit des Waffenstillstands am 20. Mai wurden insgesamt 243 getötete PalästinenserInnen gezählt. In Israel starben 12 Menschen durch den Raketenbeschuss der Hamas [5]. Die kanadische Aktivistin Judith Deutch fokussiert den Blick auf in diesen Auseinandersetzungen getötete Kinder und fragt, wieso jüdische Kinder etwa 350-mal wertvoller sein sollen als palästinensische Kinder. [6]

Dieses ungleiche Verhältnis wird seitens der israelischen Regierung gerne damit begründet, dass die Hamas ihre Raketen aus der Deckung der Zivilbevölkerung abfeuere, diese also zu "menschlichen Schutzschilden" mache. Das lässt die islamistische Partei, selbst wenn Gaza so dicht besiedelt ist, dass Zivilisten fast immer in Mitleidenschaft gezogen werden, sehr schlecht aussehen. Doch auch die Seite Israels kann sich nur bedingt mit diesem Argument aus der Verantwortung stehlen, wie der an der Universität Tel Aviv lehrende Rechtswissenschaftler Eliav Lieblich ausführt [7]. Für ihn endet die Verantwortung einer Kriegspartei nicht damit, dass der Gegner inmitten der Zivilbevölkerung agiert. Sie habe dennoch die Auflage, diese zu schonen und im Zweifelsfall auf Angriffe zu verzichten.

Laut der von dem israelischen Architekten Eyal Weizmann geleiteten Forschungsgruppe Forensic Architecture [8] waren die im Zentrum von Gaza Stadt während der 11 Tage währenden Angriffe angerichteten Schäden sogar größer als diejenigen, die in dem 7 Wochen währenden, gut 8-mal so viele Todesopfer auf palästinensischer Seite fordernden Krieg 2014 dort angerichtet wurden. Bis zu 80.000 Menschen sind in Gaza beim jüngsten Waffengang obdachlos geworden, 17 Krankenhäuser und Kliniken, darunter das einzige Covid-Testzentrum, wurden bei israelischen Angriffen beschädigt oder zerstört, und die schon zuvor nur sehr bedingt funktionsfähige zivile Infrastruktur ist nun noch weniger in der Lage, die Bevölkerung mit minimalen Basisleistungen zu versorgen. Laut der israelischen Zeitung Haaretz waren schon vor drei Jahren 97 Prozent des verfügbaren Wassers in Gaza nicht mehr für den menschlichen Konsum geeignet [9].


Wegweisender HRW-Report zur Besatzungspolitik Israels

Seit 2005 leben in Gaza keine jüdischen Siedler mehr. Der damalige Premierminister Ariel Scharon entledigte sich mit dem Rückzug aus dem besetzten Gebiet und seiner hermetischen Abriegelung nicht nur eines aufwendigen Sicherheitsproblems, sondern verschob auch das demographische Verhältnis in Israel wie dem besetzten Westjordanland zugunsten der jüdischen BürgerInnen und SiedlerInnen. Gaza wurde zum "feindlichen Gebiet" erklärt, was Israel laut internationalem Recht zwar nicht seiner Pflichten als Besatzungsmacht enthob, aber die Kontrolle des Gebietes durch seine militärische Abriegelung zum Mittelmeer und zum Staatsgebiet Israels stark vereinfachte.

Damit wurde die sehr schmale Verbindung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland fast vollends aufgehoben. Sie bestand schon zuvor in einer Art Einwegverkehr, wurden Erlaubnisse zum Transit fast nur in Richtung Gaza genehmigt. Zwischen 2009 und März 2017 genehmigte die israelische Armee lediglich sechs Personen einen Umzug von Gaza ins Westjordanland, und das nur aufgrund einer Petition an den Obersten Gerichtshof Israels. Zwischen Januar 2011 und August 2014 wurde hingegen 58 Anträgen von EinwohnerInnen des Westjordanlandes zum Umzug nach Gaza stattgegeben, jedoch unter der Bedingung, dass sie niemals ins Westjordanland zurückkehren [10].

In dem am 27. April 2021 veröffentlichten, im Laufe mehrerer Jahre erstellten und 213 Seiten starken Report "A Threshold Crossed - Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution" der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wird die administrative und demographische Logik der israelischen Besatzungspolitik detailliert analysiert und unter Bezug auf das 2002 in Kraft getretene Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wie der Anti-Apartheids-Konvention von 1973 einer rechtlichen Bewertung unterzogen. In beiden von HRW untersuchten Rechtsbrüchen, den als "Verfolgung" und als "Apartheid" im Römischen Statut benannten "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", habe Israel bereits eine Schwelle überschritten.

Prominente Stimmen haben jahrelang davor gewarnt, dass es nur ein kleiner Schritt hin zur Apartheid ist, wenn Israel nicht von dem eingeschlagenen Weg zur Vorherrschaft über die Palästinenser abweicht", sagte Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. "Diese detaillierte Studie zeigt, dass die israelischen Behörden diesen Schritt bereits hinter sich haben und heute die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und der Verfolgung begehen. [11]

Der HRW-Report ist in mehrerlei Hinsicht bedeutsam. Inhaltlich wird der von Kenneth Roth erhobene Vorwurf von den israelischen Menschenrechtsorganisationen Yesh Din und B'Tselem vollständig geteilt. Zudem ist die renommierte, von New York City aus geleitete Menschenrechtsorganisation aller antisemitischen Umtriebe unverdächtig, was angesichts des undifferenzierten, Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus brandmarkenden Generalvorwurfs zu erwähnen und zu belegen nicht ausbleiben darf. Dennoch wurde der Hauptautor der Studie, der HRW-Direktor für Israel und Palästina Omar Shakir, 2019 von der israelischen Regierung unter dem Vorwurf, er unterstütze die BDS-Bewegung, nach Jordanien ausgewiesen [12].

HRW wurde 1978 von den jüdischen Menschenrechtsaktivisten Robert L. Bernstein und Aryeh Neier unter dem Namen Helsinki Watch gegründet. Der 1937 in Berlin geborene Neier floh mit seinen Eltern 1939 in die USA und war von 1965 bis 1975 Exekutivdirektor der American Civil Liberties Union (ACLU), die damals insbesondere für die Sache der schwarzen Bürgerrechtsbewegung engagiert war. 1993 wurde Aryeh Neier Vorsitzender des Open Society Institute, das er, 2010 umbenannt in Open Society Foundations (OSF), bis 2012 leitete. Auch der Vater des heutigen HRW-Exekutivdirektors Kenneth Roth musste als vom NS-Regime verfolgter Jude aus Deutschland fliehen.

Größter Geldgeber der Menschenrechtsorganisation HRW sind die OSF, deren Mittel aus dem Vermögen des Investors George Soros stammen. Die Eltern des als György Schwartz 1930 in Ungarn geborenen Milliardärs nahmen 1936 den Namen Soros an, um dem ungarischen Antisemitismus weniger Angriffsfläche zu bieten. Der Deportation ins Vernichtungslager entging die Familie durch den Erwerb von Dokumenten, die sie als christlich ausgaben. 2017 hatte der ungarische Premierminister Viktor Orban eine Plakatkampagne gegen den gebürtigen Ungarn Soros wegen dessen Kritik an der restriktiven ungarischen Flüchtlingspolitik ins Leben gerufen. Während Israels Botschafter in Budapest gegen die Verwendung antisemitischer Stereotypien aus der Zeit der deutschen Besatzung offiziell Protest bei der Regierung einlegte, stärkte das israelische Außenministerium Orban den Rücken, indem es Soros als notorischen Gegner der Regierungen Israels darstellte. Der rechtsextreme Autokrat Orban gilt unter den Regierungen der EU als engster Verbündeter des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, der sich 2019 persönlich bei ihm dafür bedankte, dass Ungarn seine Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt hatte.

George Soros begründet sein Eintreten für den Schutz von Minderheiten damit, dass JüdInnen nur unter der Bedingung einer offenen Gesellschaft, die Schutz vor Diskriminierung aller Art gewährt, sicher sein könnten. Diese liberale und kosmopolitische Haltung hat ihn nicht nur bei der israelischen Rechten unbeliebt, sondern Politiker vom Schlage eines Erdogan oder Trump zu seinen erklärten Gegnern gemacht. Dementsprechend wild wuchern Verschwörungsideologien aller Art, die hinter seiner einflussreichen Stiftung sinistre Motive wittern, was wiederum nicht selten in seiner jüdischen Identität verortet und damit auf klassisch antisemitische Weise begründet wird. Das hat auch für sich als links verortende Kreise Bedeutung, sollte eine Kritik an Soros als wichtiger Akteur des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus in kausale Verbindung zu seiner jüdischen Identität gebracht werden.

Obwohl der HRW-Report zum Beleg der darin getroffenen rechtlichen Bewertung detailliert auf die administrative und demographische Logik der Besatzungspolitik Israels eingeht und in seiner fundierten Kritik an deren unrechtmäßigen Charakter kaum Lücken lässt, wurde in überregionalen Medien der Bundesrepublik kaum Bezug auf ihn genommen. Um so erkenntnisreicher ist die Lektüre der bislang nur auf englisch vorliegenden Studie, denn die Hintergründe der jüngsten Angriffe auf Gaza und der überraschend breiten Solidarisierung in Israel lebender PalästinenserInnen mit der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten sind kaum zu verstehen, wenn die ihnen zugrundeliegenden Zwangsverhältnisse nicht bekannt gemacht werden.


Der Status quo bröckelt

Die von zahlreichen liberalen und linken JüdInnen insbesondere in den USA an der Besatzungspolitik Israels und seinem mit Parteien der extremen Rechten koalierenden Premierminister geübte Kritik hat insofern etwas mit jüdischer Identität zu tun, als sie in dem ethischen Anspruch des Judentums wurzelt, gerade aufgrund der Katastrophe der Shoah gegen rechtswidrige und unterdrückerische Praktiken welcher Staatsgewalt auch immer Widerstand zu leisten. Wo der universale Grundsatz menschlicher Gleichheit und Würde in Konflikt mit einem Siedlerkolonialismus gerät, dessen ExponentInnen kein Problem damit haben, die Vertreibung aller PalästinenserInnen aus den besetzten Gebieten und deren Annexion zu verlangen, da treffen politische Positionen unvereinbarer Art aufeinander.

Bis auf das Jahr 2008 wurden die Angriffe auf Gaza vom amtierenden, seit 2009 regierenden israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu angeordnet. Seine Strategie bestand seit jeher darin, den Status quo der Besatzungspolitik nicht gemäß der Oslo-Verträge zu hinterfragen, sondern die Unterlegenheit der palästinensischen Bevölkerungen im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und in Gaza als gegebene Tatsache zu nehmen. Das galt auch für die fast vorbehaltlose Unterstützung Israels durch die USA, wobei die Zugeständnisse Donald Trumps alle Begünstigungen Israels früherer US-Präsidenten als auch der großen EU-Staaten, allen voran die Bundesrepublik, in den Schatten stellten. Mit Netanjahu waren sich große Teile des politischen Establishments in Israel einig darin, dass die Politik administrativer Zwangsverhältnisse und territorialer Fragmentierung die PalästinenserInnen dauerhaft in Schach halten würde.

Die alle Jahre wiederkehrenden Angriffe auf Gaza schienen den Zweck zu erfüllen, die Hamas als einzige größere Gruppe unter den palästinensischen Fraktionen so kurz zu halten, dass mit dem Sicherheitsproblem des gelegentlichen Beschusses mit improvisierten Raketen aus Gaza heraus vermeintlich gelebt werden konnte. "Das Gras in Gaza mähen" lautet der Titel eines Artikels auf der Webseite des Begin-Sadat Centers for Strategic Studies, in dem dieser pragmatische Ansatz propagiert wird.

Bis zu den jüngsten Ereignissen schienen die Voraussetzungen für einen Modus vivendi, der die elende Situation der PalästinenserInnen auf längere Zeit festschreibt und Israel der Notwendigkeit enthebt, den Forderungen nach einer Zwei-Staaten-Lösung praktisch zu entsprechen, diese Strategie zu rechtfertigen. Dazu trägt auch die in vielen internationalen Medien übliche Sichtweise zweier Konfliktparteien bei, die gleichermaßen Verantwortung für das blutige Geschehen tragen, wenn die palästinensische Seite nicht ohnehin in Gestalt der Hamas als primärer Aggressor hervortritt. Die Sache sei kompliziert und müsse von jeweils beiden Seiten betrachtet werden, lautet die gängige Lesart in vielen Kommentaren, deren VerfasserInnen bei Menschenrechtsvergehen missliebiger Staaten wie etwa Russland oder China weit weniger Verständnis für die Erfordernisse "robusten" Regierungshandelns aufbringen.

In den Augen der Bevölkerungen Westeuropas und Nordamerikas kann die Hamas nicht viel mehr repräsentieren als das hässliche Gesicht, das aus äußerer Unterdrückung ersteht. Die islamistische Partei eignet sich gut dazu, den Gegensatz zwischen einer demokratischen und in weiten Teilen sehr liberalen Gesellschaft wie der Israels und einer von patriarchaler Ignoranz und religiösem Fundamentalismus in Schach gehaltenen Bevölkerung wie der Gazas zuzuspitzen.

Problematisch daran ist, dass die palästinensische Bevölkerung sich, wenn sie gegen die eigenen Herrschaftsstrukturen aufsteht, in noch größere Schwierigkeiten bringt. Das Mittel der israelischen Besatzungspolitik ist vor allem Repression, die nicht aufhört, wenn etwa jugendliche AktivistInnen versuchten, die Hamas respektive die Palästinensische Autonomiebehörde zu entmachten. Von daher gilt für viele PalästinenserInnen, erst die Besatzungspolitik zu überwinden, bevor weitere Schritte der Emanzipation ins Auge gefasst werden können. Werden die Kolonisierten in Unmündigkeit und Unterdrückung gehalten, um ihnen dann den Vorwurf zu machen, sie seien nicht aufgeklärt und demokratisch genug, um nicht anders als westliche Metropolengesellschaften selbstbestimmt und souverän zu handeln, dann fördert das eine Seite kolonialistischer Arroganz zu Tage, die in den weißen Bevölkerungsmehrheiten Europas und Nordamerikas so tief verankert ist, dass sie gar nicht erst als Problem erkannt wird.


Kolonialismus - das ignorierte Paradigma

Weitgehend ignoriert wird auch der koloniale Charakter des Verhältnisses Israels zu den von seinen Streitkräften besetzten oder zumindest eingeschlossenen Gebieten. Wo Menschenrechtsverletzungen an einer ethnisch und national eindeutig markierten Bevölkerung verübt werden, deren Bewegungsfreiheit und bürgerlichen Rechte stark eingeschränkt sind, während die ausführende Gewalt ihrerseits eine Staatlichkeit mit spezifischem Nationalcharakter vertritt, da werden Fragen internationalen Rechts aufgeworfen, die in der stets von den Unterdrückten angestoßenen Überwindung des historischen Kolonialismus ihren Ausgangspunkt genommen haben.

Der Vorwurf, der palästinensischen Bevölkerung gegenüber kolonialistisch zu agieren, betrifft auch die Geschichte der Staatsgründung Israels. Sie wurde mit Gutheißung der über das Territorium gebietenden Kolonialmacht Großbritannien vorbereitet und im Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen 1947 vor allem durch Staaten mit mehrheitlich weißer Bevölkerung und kolonialistischer Vergangenheit maßgeblich vollzogen. In immer größerem Ausmaß nahmen die USA die Rolle der wichtigsten Schutzmacht Israels ein und tun es weiterhin, wie die 2016 getroffene, auf 10 Jahre terminierte Zusage von Militärhilfe an Israel in Höhe von 38 Milliarden Dollar belegt. Bis heute summieren sich die Zahlungen an Israel für militärische und ähnliche Zwecke aus US-Steuergeldern auf fast 150 Milliarden Dollar [13], hinzu kommt die politische Unterstützung Israels durch die unter US-Konservativen einflussreichen evangelikalen Kirchen.

Die arabischen Gegner Israels waren, auch wenn es anfangs anders aussah, nicht nur militärisch unterlegen. Ihre Machthaber waren stets untereinander zerstritten, wie am heutigen Stand weitreichend korrumpierbarer und häufig diktatorisch agierender Regimes in den Hauptstädten der ihrerseits aus dem europäischen Kolonialismus hervorgegangenen Staatenwelt Westasiens abzulesen ist. Die jüngere Geschichte der Region ist von blutigen Waffengängen zwischen ihren Staaten, Bürgerkriegen insbesondere zwischen säkularen und religiösen Akteuren sowie kriegerischen Interventionen von außen gezeichnet, von denen Israel insofern profitiert hat, als das Zustandekommen einer vielbeschworenen panarabischen Front frühzeitig kollabierte. Das Scheitern aller säkularen Versuche panarabischer Art, staatliche Souveränität zu regionaler Hegemonie auszubauen, brachte mit dem politischen Islam einen Gegner Israels hervor, der auch in anderen regionalen Konflikten eine zwielichtige Rolle spielte, so etwa im Bündnis zwischen der Türkei und islamistischen Gruppen im Kampf gegen die kurdische Autonomie oder die Unterstützung islamistischer Milizen im Syrienkrieg durch westliche Staaten.

Die von patriarchaler Ambition und religiösem Fundamentalismus bestimmte Regierungspartei Hamas entspringt als Ablegerin der ägyptischen Muslimbruderschaft dieser Tradition. Als seit 2007 allein in Gaza regierende Verfechterin einer Doktrin, die nach wie vor das ganze Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebietes zur Grundlage palästinensischer Eigenstaatlichkeit erklärt, bietet die Hamas viel Angriffsfläche. Zwar sind in ihrer 2017 überarbeiteten Charta einige Öffnungen enthalten[14], die eine gewisse Verhandlungsbereitschaft mit Israel und den Willen zur Kooperation mit der Regierung in Ramallah erkennen lassen, aber dafür, das Stigma der "Terrororganisation" hinter sich zu lassen, reichen diese Modifikationen nicht aus. Als Antagonistin zur Palästinensischen Autonomiebehörde, die kaum minder autoritär regiert und zudem eine gegen Basisbewegungen im Westjordanland gerichtete Sicherheitskooperation mit israelischen Repressionsorganen unterhält, kann sich die Hamas dennoch als konsequentere Vertreterin palästinensischer Eigenstaatlichkeit profilieren.

Wie die erste und zweite Intifada, die Proteste an der Gaza-Grenze und immer wieder aufflammende kleinere Erhebungen gegen das Besatzungsregime zeigen, ist insbesondere die palästinensische Jugend häufig entschlossener, für ihre Freiheit zu kämpfen, als es den eigenen Funktionären und Oligarchen lieb sein könnte. So ist Israel bei der Durchsetzung des Besatzungsregimes auf die Zusammenarbeit mit palästinensischen Institutionen angewiesen, denn diese gewähren selbst bei quasimilitärischen Auseinandersetzungen wie der jüngsten Entwicklung ein gewisses, über die Jahre eingespieltes Ausmaß an politischer Berechenbarkeit. Ein Massenaufstand hingegen will keine Regierung in Jerusalem riskieren, also folgen alle Akteure, die dabei etwas zu verlieren hätten, einer Art ungeschriebenem Drehbuch kalkulierter Eskalation und Deeskalation.

Zu einer solchen Erhebung ist es während der jüngsten Angriffe auf Gaza in Israel gekommen. Die infolge der Zwangsräumungen in Jerusalem und dem provokativen Polizeieinsatz an der Al Aqsa-Moschee eröffneten Raketenangriffe der Hamas und die israelischen Angriffe auf Gaza brachten Zehntausende der in Israel lebenden PalästinenserInnen auf die Straße, wo sie mit militanten SiedlerInnen konfrontiert waren, die ihrerseits Jagd auf PalästinenserInnen machten. Ein palästinensischer Generalstreik komplettierte den zivilen Widerstand in bislang nicht gekannter Weise. Die Gefahr, dass gut ein Sechstel der Bevölkerung Israels gegen die Besatzungspolitik mobil macht, dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass die Regierung in Jerusalem sich auf einen Waffenstillstand mit der Hamas einließ.

Auch dieses Szenario entspricht dem antikolonialen Charakter des Widerstandes gegen Israels Politik in den besetzten Gebieten. Die Parallelen zur antirassistischen Black Lives Matter-Bewegung und indigenen Protesten gegen extraktivistische Landnahme in aller Welt drängten sich vielen in diesen Kämpfen aktiven Menschen förmlich auf, so dass es zu großen Demonstrationen wie etwa in London kam, wo am 22. Mai 180.000 Menschen ihre Solidarität mit den PalästinenserInnen auf die Straße brachten. Damit übertraf die historisch größte Demonstration für Palästina den bereits eine Woche zuvor von 150.000 Menschen geübten Protest gegen die Angriffe auf Gaza.


Fridays For Future im Zwiespalt

Selbst Fridays For Future zeigte sich solidarisch mit den PalästinenserInnen. Unter der Überschrift "Warum eine Klimagerechtigkeitsgruppe über Palästina postet" wurde auf die Einheit aller Befreiungskämpfe verwiesen und Kolonialismus wie Imperialismus als hauptverantwortlich für die Klimakrise benannt. Dieser von Climate Strike Canada verfasste Post erschien auf der Instagram-Seite von FFF, wo angesichts kritischer Einwände gegen frühere Posts dieser Art klargestellt wurde, dass die AktivistInnen gegen "Antisemitismus und alle Formen der Diskriminierung" Position beziehen, aber auch "gegen alle Formen des Kolonialismus und der systematischen Unterdrückung durch Streitkräfte und Institutionen". Sie seien sich bewusst darüber, dass "die BDS-Bewegung in bestimmten Ländern kooptiert und ihrem ursprünglichen Anliegen enthoben wurde". Weil FFF jedoch in vielen Ländern überall in der Welt aktiv sei, hörten sie vor allem auf "die kolonisierten und unterdrückten Menschen (in diesem Fall insbesondere die PalästinenserInnen) und die Aktionen gewaltfreien zivilen Ungehorsams, mit denen sie den Rest der Welt aufrufen sich mit ihnen zu solidarisieren". [15]

FFF Deutschland hat diese Stellungnahme ausdrücklich nicht unterstützt, was nicht verhinderte, dass bild.de den auf Instagram veröffentlichten Post mit der Schlagzeile "Klima-Aktivisten verbreiten Anti-Israel-Propaganda" [16] quittierte. Zudem wurde Greta Thunberg unter der Überschrift "So viel Israel-Hass steckt in 'Fridays for Future'" zur Last gelegt, "Hass-Botschaften gegen Israel" zu verbreiten [17]. Dessen schuldig gemacht hatte sie sich in den Augen der Bild-Zeitung durch das Verbreiten eines Posts der "kanadischen Israel-Boykotteurin Naomi Klein". Darin hatte die Vordenkerin der Klimagerechtigkeitsbewegung dazu aufgerufen, auch angesichts des Risikos, Ansehen und Privilegien zu gefährden, die Stimme zum Protest gegen Israels Umgang mit den PalästinenserInnen zu erheben.

Da Klimagerechtigkeit ein im Kern soziales Anliegen ist, kommen auch die jungen FFF-AktivistInnen nicht umhin, das Problem der Klimakrise in den strukturellen Voraussetzungen kapitalistischer Vergesellschaftung und kolonialistischer Expansion zu erkennen. Sollten sie sich in diese Richtung radikalisieren, dann wäre es vorbei mit pflegeleichten Integrationsmanövern, mit denen ein harmonischer Dialog zwischen Politik und Jugend simuliert werden kann. Kurz gesagt, FFF darf nicht erwachsen werden und sich Problemen zuwenden, die auf kurzem Wege zu grundsätzlichen Systemfragen führen, so jedenfalls könnte die ihrerseits wenig freundliche Intervention der Bild-Zeitung auch verstanden werden.


Widerspruchslagen der "rechtebasierten Weltordnung"

Da das hegemonial- und bündnispolitisch begründete Handeln kolonial und imperialistisch agierender Staaten meist vor dem Universalismus internationalen Rechts rangiert, sind Relativierungen daraus hervorgehender Prinzipien gängige politische Praxis. So hat der politische Antikommunismus stets mit dem Pfund der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten gewuchert, was die sogenannte freie Welt nicht daran gehindert hat, völkerrechtswidrige Kriege zu führen und faschistische Diktaturen schlimmster Art zu unterstützen. Auch wo Menschenwürde und Rechtsgleichheit verfassungsrechtlich verankert sind, herrscht soziale Ungleichheit frei nach dem Motto, dass Arm und Reich das gleiche Recht haben, unter Brücken zu schlafen. Diese Diskrepanz zwischen normativem Anspruch und realpolitischer Praxis wird dadurch eingeebnet, dass Regierungsmacht lediglich an repräsentative parlamentarische Strukturen gebunden wird, anstatt eine basisdemokratische Willensbildung zuzulassen, die an der herrschenden Eigentumsordnung rütteln könnte, was stets im Interesse der Machtlosen erfolgte.

Widerspruchskonstellationen dieser Art brachten den langjährigen sicherheitspolitischen Chefstrategen der EU und Vordenker eines "neuen liberalen Imperialismus", Robert Cooper, zu der Einsicht, dass die vielbeklagten und dennoch hartnäckig angewendeten doppelten Standards in einer "rechtebasierten Weltordnung" durchaus Sinn machen können. Anstatt universale Werte nicht nur zu propagieren, sondern auch durchzusetzen, unterzieht man die internationale Staatenwelt ihrerseits einer wertebasierten Einteilung, mit der darüber befunden wird, wer in den Genuss dieser Werte gelangen soll und wer nicht.

Die neue Herausforderung für die postmoderne Welt besteht darin, sich an die Idee zu gewöhnen, dass Doppelmoral zum Alltag gehört. Innerhalb der postmodernen Welt können alle beteiligten Akteure auf der Basis von in gemeinsamen Beschlüssen abgesegneten Gesetzen und einer offenen kooperativen Sicherheit miteinander in Eintracht leben. Aber wenn man es mit altmodischeren Systemen außerhalb des postmodernen Kontinents Europa zu tun bekommt, müssen wir auf die rauheren Methoden einer früheren Ära zurückgreifen: Gewalt, Präventivschläge, Betrug und was immer notwendig wird, um mit denen, die noch immer im 19. Jahrhundert leben, zurecht zu kommen. Innerhalb der postmodernen Welt halten sich alle beteiligten Akteure an das Gesetz, doch wenn man den Operationsradius in den Dschungel verlegt, dann gelten auch die Gesetze des Dschungels. [18]

Zwar hat es der auch als "wohlwollender Imperialismus" bekannt gewordene Entwurf des 2002 vom britischen Premierminister Tony Blair nach Brüssel entsandten Cooper niemals in den Rang einer offiziell anerkannten strategischen oder außenpolitischen Doktrin gebracht, aber die zugrundeliegende Denkweise ist durchaus repräsentativ für einen humanitären Interventionismus, der Menschenrechte eher nach Maßgabe eigener Interessen als des unteilbaren Anspruches von staatlicher Gewalt Betroffener auf Schutz durchsetzt. Er erhellt auch die im Verhältnis von Israel und den PalästinenserInnen höchst unterschiedliche Anwendung moralischer und ethischer Normen, lebt im Selbstverständnis westeuropäischer Regierungen doch die eurozentrische Sicht eines Kolonialismus fort, der nicht weiße und patriarchalische Einstellungen favorisiert, sondern als vermeintlich fortschrittlichste und beste aller politischen Welten den Bevölkerungen weniger privilegierter Kontinente vorzuschreiben vermag, wie deren gesellschaftliche und normative Ordnung auszusehen habe.

Während der 11-tägigen Kampfhandlungen zwischen der Hamas und den Israelischen Streitkräften kam es in der Bundesrepublik auf einigen Demonstrationen zu antisemitischen Übergriffen, in denen JüdInnen und ihre Einrichtungen allein deshalb attackiert wurden, weil sie als jüdisch identifiziert wurden. In der medialen Verarbeitung kam es zu einer Verallgemeinerung dieser Taten, die mehr oder minder alle MigrantInnen aus mehrheitlich islamischen Staaten unter Antisemitismusverdacht stellte. Die Verunglimpfung nicht zur herkunftsdeutschen Mehrheit gehöriger BürgerInnen ging so weit, dass von der AfD wie Teilen der Linkspartei ein angeblich importierter Antisemitismus unterstellt wurde. Während mehrere Anwesende auf den betreffenden Demonstrationen nationalistische TürkInnen als hauptsächliche UrheberInnen antisemitischer Ausfälle identifizierten, wurde der Vorwurf eines migrantisch erst relevant gewordenen Antisemitismus in großen Medien tagelang breitgetreten.

Wo es tatsächlich Anlass gegeben hätte, gegen eine besonders laut vernehmliche Form des klassischen Antisemitismus vorzugehen, blieb die Bundesregierung allerdings untätig. So hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unter anderem zu dem klassischen antijüdischen Vorwurf des Blutsaugens gegriffen, um Stimmung gegen israelische JüdInnen zu machen [19]. Deutsches Regierungshandeln geht im Falle der blutigen Verfolgung von KurdInnen und türkischen KommunistInnen mit dem Erdogan-Regime konform, was auf die immense strategische Bedeutung der Türkei für Berlin verweist. Während die US-Regierung Erdogans Judenhass offen kritisierte, ließ die Bundesregierung den Worten der erklärten Freundschaft mit Israel keine Taten folgen. Doppelte Standards sind im geostrategischen Manövrieren gute und bewährte Praxis, mithin hat Robert Cooper nur explizit gemacht, was ohnehin Usus ist.

Die Bundesrepublik Deutschland steht als Rechtsnachfolger des NS-Staates in der besonderen Verantwortung dafür zu sorgen, dass der Antisemitismus, der die Vernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime begründet hat, mit allen Mitteln bekämpft wird. Die PalästinenserInnen, die für die Etablierung eines Staates als Zufluchtsort für die von der Shoah betroffenen JüdInnen, den auf einem Territorium des Kriegsverlierers und Genozidtäters Deutschland einzurichten niemals ernsthaft erwogen wurde, große Gebietsverluste hinnehmen mussten, wurden nicht gefragt, ob sie für die historische Schuld Deutschlands geradestehen wollten. Ihre seitdem ununterbrochene Entrechtung kann im herrschenden Diskurs der Bundesrepublik daher kaum etwas anderes als Ungereimtheiten und Widersprüche produzieren.

So gab der langjährige ARD-Israel-Korrespondent Sebastian Engelbrecht, nachdem er palästinensische Extremforderungen, das ganze ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina für einen eigenen Staat zu beanspruchen, als antisemitisch verurteilt hatte, auf die Frage nach dem strukturellen Unterschied bei entsprechenden Verhaltensweisen unter jüdischen SiedlerInnen im Deutschlandfunk, eine offenherzige Antwort. Es gebe "faschistische Tendenzen unter nationalistischen jüdisch-israelischen Extremisten, und das darf auch als Faschismus bezeichnet werden, wenn diese Leute sagen, Palästinenser sollen in diesem Land nicht existieren, da soll es einen Transfer geben, die sollen jenseits des Jordans nach Jordanien gebracht werden, das muss beim Namen genannt werden, dass das auch einen Faschismus innerhalb der israelischen Gesellschaft gibt, der anderen Menschen das Recht auf Existenz abspricht, das will ich gar nicht verhehlen und gar nicht negieren."[20] Die wiederholte Frage seines Diskussionspartners Peter Lintl, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), warum ein strukturanaloges Verhalten unterschiedlich benannt werde, beantwortete Engelbrecht mit der speziellen deutschen Verantwortung für Israel.

Diese Verantwortung ließe sich auch in einer entschiedenen Unterstützung des Friedensprozesses wahrnehmen, könnte die Beendigung der Unterdrückung der PalästinenserInnen doch die Existenz Israels besser und dauerhafter garantieren als jede Form von Machtpolitik, die permanent Gegenkräfte hervorruft. Dagegen spricht offensichtlich, zwar der historischen Verantwortung Deutschlands gerecht werden zu wollen, dem machtpolitischen Anspruch der deutschen Staatsräson aber den Vorrang einzuräumen, was bei wachsender weltweiter Anerkennung des kolonialen Charakters der israelischen Besatzungspolitik in immer größeren Legitimationsdefiziten zu Buche schlagen wird.


Brandmauer Gesinnungsverdacht

Das betrifft insbesondere die Politisierung des Antisemitismusbegriffes als Mittel zur Rechtfertigung israelischer Besatzungspolitik trotz offenkundiger Rechtsverstöße seitens der Regierung Israels. Allein der Zusatz "israelbezogen" wirft schon die Frage auf, warum die für jeden Menschen leicht verständliche Basisdefinition der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) [21], laut der Antisemitismus die Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische) betrifft, durch einen solchen Zusatz spezifiziert werden muss. Die JDA wurde im März 2021 im Namen von über 200 vor allem mit Holocaust- und Antisemitismusforschung befassten WissenschaftlerInnen veröffentlicht, um die zugunsten Israels besonders weit auslegbare Arbeitsdefiniton der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu präzisieren. Diese wurde seit 2016 von 31 vor allem westlichen Staaten übernommenen und stellt auch die Grundlage des BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages dar.

Unter anderem motiviert durch die Debatte um den angeblichen Antisemitismus des weltbekannten afrikanischen Kolonialismustheoretikers Achille Mbembe in Deutschland und den BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages hat die Existenz dieser beiden nicht rechtsverbindlichen Definitionen der offenen Diskussion um die Frage, welche den Staat Israel betreffende Kritik legitim und welche Aussagen tatsächlich antisemitisch seien, neuen Auftrieb gegeben [22] [23]. Dies gilt auch für die internationale Wahrnehmung des besonderen Umgangs mit dem Problem des Antisemitismus in der Bundesrepublik [24]. Zu den in dieser Frage in Deutschland vernehmlichen jüdischen Stimmen, die die JDA unterzeichnet haben, gehören die Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Zentrums Susan Neiman [24], der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Moshe Zimmermann, der israelische Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann und der Publizist, Pädagoge und ehemalige Leiter des Fritz-Bauer-Instituts Micha Brumlik.

Wie der HRW-Report hat auch die JDA im Vorfeld der jüngsten Auseinandersetzungen seit langem virulente Fragen in die Öffentlichkeit gebracht, die insbesondere linke AktivistInnen umtreiben, da die Frage, wie mensch es mit Palästina und Israel hält, seit vielen Jahren Anlass zu erbitterten Zerwürfnissen unter ansonsten häufig miteinander übereinstimmenden linken Gruppen gegeben hat. Die insbesondere unter sogenannten Antideutschen, aber auch den AnhängerInnen der Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht hervortretenden Ressentiments gegen Flüchtende und MigrantInnen aus mehrheitlich islamischen Staaten und Regionen sind zumindest mittelbar mit einer unbedingten Israelsolidarität verknüpft, der sich auch viele ExponentInnen der Neuen Rechten angeschlossen haben. Wie im Falle des Irakkrieges der USA und ihrer Verbündeten, der von den Antideutschen als Prävention gegen eventuelle Angriffe auf Israel rundheraus begrüßt wurde, können sich die politischen Positionen in diesem Konflikt bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Wenn am Ende deutsche PolitikerInnen darüber urteilen, ab wann JüdInnen antisemitisch eingestellt seien, zeigt der Philosemitismus sein Potential, an seinen Antagonisten fugenlos andocken zu können.


Palästinensischer Aktivismus im Visier

Tragisch am Beziehen ideologisch überdeterminierter Maximalpositionen sind die materiellen Folgen, die den die Selbstbestimmung der PalästinenserInnen unterstützenden Aktivismus einseitig mit Verboten, Nachstellungen und Diffamierungen aller Art konfrontiert. Öffentlich verfügbare Räume werden gesperrt, AktivistInnen mit konkreten Folgen für ihr berufliches Leben des Antisemitismus bezichtigt, ja selbst die Solidarität in antirassistischen und antikolonialistischen Kämpfen wird aufgekündigt. AktivistInnen der Palästinasolidarität können sich noch so sehr gegen jeglichem Antisemitismus positionieren, sie werden seit Jahren bei ihrer Aufklärungsarbeit medial wie institutionell behindert und somit zu Opfern einer Diskriminierung, die heute vor allem von rechts als Cancel Culture besetzt wird, ohne dass bekannt geworden wäre, dass die dem Sarrazinschen Imperativ "Man wird ja wohl noch sagen können" verpflichteten Personen die systematische Unterdrückung palästinensischer Stimmen in Deutschland öffentlich zum Problem erhoben hätten.

Jüngster Vorfall dieser Art ist die Ausladung der Gruppe Palästina-spricht-Freiburg von dem für den 7. bis 13. Juni in Freiburg geplanten rassismuskritischen Bildungsfestival "Dear White PeopleLet`s Break the Silence!". Wie die OrganisatorInnen während der Angriffe auf Gaza am 19. Mai erklärten, wurden sie selbst vor die Wahl gestellt, entweder die Gruppe auszuladen oder den Entzug von Fördergeldern zu erleiden.

Trotz differenzierter Recherchen wurden wir im Zuge der Veröffentlichung unseres Programms, in dem die Kooperation mit "Palestine Speaks Freiburg" als auch die von "Palestine Speaks Freiburg" organisierte Veranstaltung "Anti-palästinensischer Rassismus" öffentlich gemacht wurde, von Kooperations-, Förderpartnerinnen und anderen gesellschaftlichen Akteurinnen scharf kritisiert, antisemitistischen Positionen Raum zu geben - bis hin zur Ankündigung, die bewilligten Fördergelder zurückzuziehen, wenn wir weiterhin mit "Palestine Speaks Freiburg" kooperieren. Wir haben die Kooperation am 17. Mai aufgelöst. [27]

Am 28. Mai reagierte die ausgeladene Gruppe in einer gemeinsam mit Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. verfassten Stellungnahme, deren Inhalt stellvertretend für die vielen anderen AktivistInnen der Palästinasolidarität stehen könnte, die bereits derartige Zurückweisungen erfahren haben.

Das progressive Kuratorium von Dear White People sollte recht gut wissen, dass palästinensische Aktivist*innen in Deutschland zum Schweigen gebracht, diffamiert und verleumdet werden und ihre Karrieren oft zerstört werden. Darüber hinaus sind sie in Palästina mit Apartheid, Verfolgung und illegaler Besatzung konfrontiert, wie von Human Rights Watch, B'Tselem, Yesh Din und verschiedenen Gremien der UN konstatiert und bereits dokumentiert wurde und von Palästinenser*innen selbst schon seit Dekaden angeprangert wird. Es ist das Recht und die Pflicht der Palästinenser*innen, ihre Stimme gegen die Verbrechen zu erheben, die in Palästina begangen werden. Darüber hinaus ist es für PS beleidigend, von sogenannten progressiven, antirassistischen und anscheinend linken Gruppen zum Schweigen gebracht zu werden. Gleichzeitig ist es für uns paradigmatisch, dass die bodenlose Verlassenheit, die wir durch sogenannte Progressive oder Linke in Deutschland erfahren, auch hier wieder systematisch gegen PS mobilisiert wird. (...)

Wir nehmen diese Veranstaltung als Beispiel, um zu diskutieren, was es bedeutet, strukturell aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen zu werden, besonders wenn es um Menschenrechts-Themen geht. Schon lange geht es nicht mehr nur um Palästina oder die Rechte der Palästinenser*innen, vielmehr werden mit solchen Einschränkungen der Meinungsfreiheit die Prinzipien emanzipatorischen Denkens und Handelns wieder in Frage gestellt. Dabei sind Themen wie der Schutz von Frauen und ethnischen Minderheiten, das Ende von Sklaverei, Apartheid und Rassentrennung, sexueller Diskriminierung und klassenbedingten Ausschlüssen keine "Meinungsfragen", sondern historisch erkämpft und kollektiv als die Ethik etabliert worden, welcher demokratische Gesellschaften - vorgeblich - gerecht werden wollen. [28]

Schließlich lehnte die israelische Autorin und Aktivistin Inna Michaeli am 31. Mai eine Einladung zu einer für das Festival geplanten Gesprächsrunde zur Frage Wie kann ein Sprechen zur Situation in Israel und Palästina in Deutschland möglich werden? mit der Begründung ab, dass

man meine Mitstreiter:innen von 'Palestine Speaks Freiburg' zum Schweigen gebracht und vom Festival ausgeschlossen hat, als ihre Teilnahme sowie ihr Workshop zu anti-palästinensischem Rassismus am 17. Mai abgesagt wurde. Wie könnte ich Menschen, vor allem BIPoC Menschen, in die Augen schauen, wenn ich selbst, als israelische Staatsbürgerin, zu den Kolonisierer:innen gehöre (zu den 'Dear White People')?

Ihr habt massiven Druck, wenn nicht sogar direkten Zwang erfahren. Tatsächlich habt ihr das erfahren, was Palästinenser:innen, und auch uns, die wir uns mit palästinensischen Menschen und ihrem Kampf um die Befreiung von israelischem Kolonialismus und israelischer Apartheid solidarisieren, jeden Tag erleben. (...)

Man könnte es fast schon als sarkastisch beschreiben, dass eine grassroots Organisation, die Palestine Speaks heißt, in einem Festival unter dem Namen Lets Break the Silence zum Schweigen gebracht wird wenn es nicht so beängstigend wäre und so viele Menschenleben kosten würde. Die Kündigung der Partnerschaft demonstriert präziser als jede Podiumsdiskussion, wie anti-palästinensischer Rassismus und das zum Schweigen bringen von Palästinenser:innen in Deutschland funktioniert. Man kontrolliert Ressourcen und Machtpositionen in öffentlichen Institutionen, bedroht mit individuellen und kollektiven Auswirkungen. Man macht absurde Antisemitismusvorwürfe mit einem Schreckgespenst namens BDS. [29]

Michaeli nutzte den Anlass dazu, einige grundsätzliche Forderungen zur Ermöglichung des Sprechens über Israel und Palästina zu artikulieren:

Erstens müssen Palästinenser:innen sprechen können, ohne zensiert und zum Schweigen gebracht zu werden, unter eigenen Bedingungen und als autonomes politisches Subjekt. Die Redefreiheit palästinensischer Menschen darf weder von der israelischen Botschaft in Deutschland noch von reaktionären jüdischen Institutionen, die sich mit einem Apartheids-Siedlerkolonialismus Staat und weißem deutschem Establishment aufreihen, bestimmt oder lediglich beeinflusst werden.

Zweitens braucht man Integrität und Mut. Das bedeutet, dass man seine eigene antirassistische Politik entwickeln muss und darauf vorbereitet ist, als Antisemit:in bezeichnet zu werden, solange man weiß, dass das nicht wahr ist. Man braucht auch den Mut, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Israel ist nicht erst letzten Monat zu einem Apartheidsstaat geworden, es war schon seit der Gründung vor 73 Jahren einer und Human Rights Watch hat das vor Kurzem bestätigt. Ihr sprecht von einer Eskalation in Israel und Palästina, wenn ihr eigentlich auf ein Massaker an unter Besatzung lebenden Menschen in Gaza, ethnische Säuberung und eine Welle von polizeilich sanktionierter Gewalt sowie Massenverhaftungen in ganz Palästina verweist.

Drittens, unglücklicherweise, muss man bereit sein, einen Preis zu zahlen. Die israelische Botschaft könnte eure Gastgeber anrufen und verlangen, dass ihr ausgeladen werdet, finanzielle Unterstützer werden ihre Finanzierungen zurückziehen, vielleicht werdet ihr in Deutschland weniger anstellungsfähig. Ein hoher Preis für jene, die eventuell bereits im deutschen Arbeitsmarkt diskriminiert werdenIhr werdet vielleicht wählen müssen, ob ihr eine antikolonialistische palästinensische Gruppe, die nichts falsch gemacht hat, ausschließt, oder ein Festival, dass ihr monatelang kuratiert und vorbereitet habt, absagt. Ich frage mich, ob dies das Dilemma ist, auf das ihr gestoßen seid. Es sind eben solche Dilemmata, die die Grenzen unserer Solidarität austesten. [30]

Der Vorfall wird an dieser Stelle ausführlich dokumentiert, weil linke emanzipatorische Anliegen durch die Empfänglichkeit ihrer UrheberInnen für herrschaftsförmige Imperative gegenstandslos gemacht werden können. Ob dies aus deren Undurchschaubarkeit resultiert oder schlicht durch äußeren Zwang bedingt ist, macht im Ergebnis kaum einen Unterschied. In beiden Fällen ist von einer Logik individueller Relativierung auszugehen, die sich bestens dazu eignet, sozialen Widerstand zu integrieren und gegen seine ursprüngliche Absicht zu kehren. Indem Michaeli daran erinnert, dass es Integrität und Mutes bedarf, Position in einem ideologisch derart aufgeladenen Konflikt zu beziehen, und mensch nicht unbeschadet daraus hervorgehen könnte, wenn gesellschaftlich hegemonialem Druck die Stirn geboten wird, erinnert sie an die essentielle Erfordernis jedes politischen Kampfes, nicht beim Auftauchen erster Probleme zurückzuweichen, sondern standzuhalten.

Die Linke in diesem Land scheint über das Bewusstsein, dass jeder Schritt in Richtung Befreiung zum Teil auf sehr schmerzhafte Weise erkämpft werden musste, nur noch bedingt zu verfügen. Die zahlreichen Karrieren etwa unter PolitikerInnen der Grünen und Linken, die einst einen radikalen Anspruch verfochten, doch dem Angebot eines Lebens voller Komfort und sozialer Anerkennung nicht widerstehen konnten, belegen, wie hochgradig entwickelt die Adaptionsfähigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Immer wieder werden die Erfolge emanzipatorischer Politik in den Dienst von Zielen gestellt, die ganz andere Zwecke verfolgen, wie so mancher imperialistische Krieg gezeigt hat, in dem es angeblich um den Schutz bedrohter Minderheiten, die Befreiung unterdrückter Frauen oder die Einführung der Demokratie ging. Die zahllosen dabei getöteten, verwundeten oder verelendeten Menschen wurden nicht gefragt, ob sie sich befreien lassen wollten, ihnen wurde nicht die Möglichkeit gegeben, aus eigener Hand zu handeln und eine von ihnen gewollte Gesellschaft zu erkämpfen.

Auch das Beispiel Fridays For Future zeigt, dass handzahmer Protest von den damit Adressierten geradezu begierig aufgesogen wird, ist die ihnen dadurch gewährte Legitimation doch den Preis vorübergehender Aufregung um von vornherein auf Befriedung und Schadensbegrenzung begrenzte Kontroversen allemal wert. Dabei steht nicht weniger als die Zukunft aller Menschen auf dem Spiel, wenn die Klimakrise nicht ernst genommen und die sie befeuernden Verbrauchsprozesse nicht entschieden zurückgefahren werden. Den Streit zu wagen, um so etwas wie Frieden jemals erreichen zu können, ist die Mindestforderung in einer Welt, wo täglich Millionen Menschen in der Ohnmacht ihrer desolaten Situation verzweifeln und Zehntausende die bitterste Konsequenz, den durch Hunger, Armut und Gewalt bedingten vorzeitigen Tod, erleiden.

Es ist immer unattraktiv, sich für die Sache in den Staub geworfener, zu Ohnmacht verdammter und ihrer Stimme enthobener Menschen einzusetzen. Politischer Aktivismus, dem es um die Sache selbst und nicht die Attribute, die in einem Schönheitswettbewerb gefragt sind, geht, wird in Deutschland immer eine Angelegenheit kleiner Minderheiten sein. Dessen waren sich entschlossene KommunistInnen und AnarchistInnen stets bewusst, nur so konnten sie die Härten politischen Widerstandes etwa in der NS-Zeit durchstehen, in denen das eigene Leben zur Disposition seines Gelingens stehen konnte. Was vielen Menschen im Globalen Süden eine alltägliche Herausforderung ist, wird dort, wo mensch es sich aussuchen kann, manchmal wie eine Frage des persönlichen Geschmacks oder anderer konsumistischer Interessen behandelt. Genauer betrachtet geht es jedoch auch in den Komfortzonen der kapitalistischen Moderne um Fragen von existenzieller Dringlichkeit, nicht zuletzt die der eigenen Konsequenz und Integrität.

Von daher ist Palästina-spricht-Freiburg zuzustimmen, wenn sie sagen, dass es in dieser Auseinandersetzung um weit mehr geht als Palästina. Einer linken Bewegung, die mehrheitlich zu ignorieren scheint, dass den meisten antikolonialistischen und antirassistischen Bewegungen in aller Welt die Solidarität mit den PalästinenserInnen eine fast selbstverständliche politische Position ist, droht denn auch der weitere Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Das wäre gerade jetzt, wo so vieles auf dem Spiel steht, eine historische Zäsur jener Art, nach der linke und revolutionäre Bewegungen vor den Trümmern gescheiterter Aufbrüche stehen.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0238.html

[2] https://www.filmsforaction.org/watch/gaza-fights-for-freedom/

[3] https://www.rosalux.de/news/id/44381/die-anhaltende-nakba?cHash=598f887b7af7744431afb045343b563b

[4] https://www.researchgate.net/publication/320467857_A_Newer_Hamas_The_Revised_Charter

[5] https://bostonreview.net/law-justice-global-justice/maryam-jamshidi-how-israel-weaponizes-international-law?utm_source=Boston+Review+Email+Subscribers&utm_campaign=67d4903ba2-MC_Newsletter_5_26_21&utm_medium=email&utm_term=0_2cb428c5ad-67d4903ba2-41185489&mc_cid=67d4903ba2&mc_eid=054297d2d5

[6] https://www.counterpunch.org/2021/05/28/what-must-be-done-to-really-stop-child-killing-israel-et-al/

[7] https://www.justsecurity.org/76220/dispatch-from-israel-on-human-shields-what-i-shouldve-said-to-a-dad-on-the-playground/

[8] https://twitter.com/ForensicArchi?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1395805696789295107%7Ctwgr%5E%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.counterpunch.org%2F2021%2F05%2F28%2Froaming-charges-15%2F

[9] https://www.haaretz.com/middle-east-news/palestinians/.premium-expert-warns-97-of-gaza-drinking-water-contaminated-by-sewage-salt-1.5747876

[10] Human Rights Watch: A Threshold Crossed - Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution, S. 76

[11] https://www.hrw.org/de/news/2021/04/27/rechteverletzende-israelische-politik-stellt-verbrechen-der-apartheid-und

[12] https://www.972mag.com/hrw-apartheid-persecution-omar-shakir/

[13] https://www.jewishvirtuallibrary.org/total-u-s-foreign-aid-to-israel-1949-present

[14] https://www.researchgate.net/publication/320467857_A_Newer_Hamas_The_Revised_Charter

[15] https://www.instagram.com/p/CPBwr2cH7w5/

[16] https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/jetzt-auch-fridays-for-future-klima-aktivisten-verbreiten-anti-israel-propaganda-76359336.bild.html

[17] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/greta-thunberg-sorgt-fuer-empoerung-so-viel-israel-hass-steckt-in-fridays-for-fu-76365330.bild.html

[18] https://www.heise.de/tp/features/The-Empire-is-back-3424767.html

[19] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/usa-und-oesterreich-verurteilen-antisemitismus-erdogans-17349092.html

[20] Deutschlandfunk, Kontrovers, 17.05.2021, 43:50
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/05/17/17052021_nahostkonflikt_wie_kann_die_gewalt_gestoppt_dlf_20210517_1224_46dbd155.mp3

[21] https://jerusalemdeclaration.org/

[22] https://www.medico.de/blog/endlich-eine-debatte-18157

[23] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150075.bjerusalemer-erklaerung-zum-antisemitismusl-definitiv-eine-definition.html

[24] https://www.opendemocracy.net/en/north-africa-west-asia/why-germany-gets-it-wrong-about-antisemitism-and-palestine/

[25] https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/zugastbeilisa_susanneiman_antisemitismus

[26] https://www.heise.de/tp/features/Die-Rechte-und-die-Israelsolidaritaet-4122549.html?seite=all

[27] https://zlev.de/kunst-kultur/dear-white-people-let-s-break-the-silence/statements

[28] https://www.palaestinaspricht.de/news/dwp-ausladung

[29] https://www.juedische-stimme.de/2021/05/31/liebe-organisateurinnen-des-dear-white-peoplelets-break-the-silence-festival/

[30] a.a.O.


1. Juni 2021


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