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HEGEMONIE/1588: Haiti Studienobjekt praktizierter Elendsverwaltung (SB)



Wer nicht im Traum daran denkt, die Hungernden zu ernähren, muß die Kosten der Verhinderung einer Hungerrevolte kalkulieren. Das vielzitierte Motto "zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel" findet dabei keine Anwendung, da die sofortigen Opfer wie auch die mittelbaren Hungertoten durch dauerhafte Unterernährung und die daraus resultierenden Krankheiten auf der Habenseite in die zynische Bilanz eingehen, schließlich sind sie die Lösung des Problems.

Haiti gilt als das Armenhaus Lateinamerikas, was etwas heißen will in einer Weltregion, in der das Elend eine lange Kolonialgeschichte hat. Auf drei Jahre allmählicher wirtschaftlichen Erholung folgte 2008 ein erneuter Sturz in den Abgrund. Dramatisch steigende Preise für Nahrungsmittel und Kraftstoff machten mehr als das zunichte, was sich zuvor in zähem Ringen aus dem Staub erhoben hatte. Die Menschen aßen wieder Erde und Gras, die zu Kugeln geformt auf den Märkten feilgeboten wurden. Dann suchten vier verheerende Wirbelstürme das Land heim und ertränkten in den Fluten, was an Perspektiven noch nicht restlos zugrunde gegangen sein mochte.

Die International Crisis Group mit Sitz in Brüssel bat vor einer Geberkonferenz für Haiti um drei Milliarden Dollar für die kommenden zwei Jahre. Die Ministerpräsidentin des Karibikstaats, Michèle Duvivier Pierre-Louis, schätzte den Bedarf ihres Landes an internationaler Hilfe in diesem Zeitraum wesentlich bescheidener auf rund 900 Millionen Dollar. Auf der Geberkonferenz selbst sagten die Teilnehmer jedoch nur Hilfe in Höhe von 324 Millionen Dollar zu.

Die frappierende Diskrepanz zwischen Bedarf und Zusage legt beredtes Zeugnis davon ab, daß es nie und nimmer darum geht, Not und Elend mit allen Kräften zu bekämpfen. Durchgesetzt wird vielmehr die Administration einer Welt unzureichender Sourcen, in der die Eliten ihr Überleben zu Lasten der "Verdammten dieser Erde" sichern. Die Ausflucht, es sei im Angesicht der weltweiten Wirtschaftskrise gegenwärtig nicht möglich, größere Anstrengungen zur Rettung der Haitianer zu unternehmen, entlarvt sich selbst, wenn man die Milliardenbeträge in Betracht zieht, die von den führenden Nationen zur Rettung ihres einheimischen Finanz- und Industriekapitals aufgeboten werden.

US-Außenministerin Hillary Clinton versuchte es dennoch und rief die internationale Gemeinschaft zu Beginn der Konferenz in Washington mit den Worten zur Unterstützung auf, inmitten der globalen Finanzkrise stelle die Hilfe für den Karibikstaat die Entschlossenheit und Verpflichtung gegenüber Bedürftigen auf die Probe. Ihr schloß sich UN-Generalsekretär Ban Ki Moon mit dem Hinweis an, Haiti befinde sich derzeit in einer kritischen Phase und werde entweder weiter in noch tiefere Armut abrutschen oder mit Hilfe internationaler Geldgeber vorankommen. (NZZ Online 15.04.09)

Salbungsvolle Worte allseitigen Appells, der natürlich ungehört verhallt, weil man einander reihum zur Großzügigkeit auffordert und damit seine Schuldigkeit getan hat, schmieren das Geschäft der Armutsverwaltung. Wie sonst sollte man es nennen, wenn eine Geberkonferenz von nicht weniger als 30 Teilnehmerstaaten und Organisationen unter Trägerschaft der Interamerikanischen Entwicklungsbank trotz Vorlage eines Aufbauprogramms der Regierung in Port-au-Prince nicht mehr zustande bringt als ein Drittel des allerdringendsten Bedarfs? Davon abgesehen handelt es sich um bloße Hilfszusagen, die bekanntlich so gut wie nie in vollem Umfang eingehalten, wenn überhaupt nur mit langer Verzögerung erfüllt und häufig an unzumutbare Auflagen gekoppelt werden.

Daß es im Fall Haitis nicht an Geld fehlt, unterstreichen die Vereinten Nationen, die seit 2004 rund 5 Milliarden Dollar für ihre sogenannte Friedensmission in Haiti aufgewendet haben. Die Rechnung ist müßig, wie viele hungernde Haitianer von diesem Betrag satt geworden wären, und unnötig der Vorwurf, der regulative Überaufwand habe bislang nur reichlich sauere Früchte getragen. Die Investition galt ja dem Scheitern des Staats, der nachfolgenden Verwaltung der chaotischen Verhältnisse und der Zerschlagung jeden organisierten Widerstands. Heute fungiert das Land als Labor eines Krisenmanagements in Armutsregionen, in dem die Zuteilungen unter die Schwelle des Überlebens gesenkt und die Menschen mit vagen Hilfsversprechen in den Zustand dumpfer Resignation gedrängt werden.

Die International Crisis Group, deren Gewerbe die Vermeidung und Lösung von Konflikten ist, warnte ungehalten davor, daß es erneut zu politischer Instabilität und Unruhen in Haiti kommen könnte. Wer so mit der Hungerrevolte argumentiert, die es abzuwenden gelte, trifft den Nagel herrschender Interessen auf den Kopf: Nicht der Hunger ist deren Feind, sondern der Hungernde!

15. April 2009