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HEGEMONIE/1629: Eskalation in Nordafghanistan ... Bundesregierung schweigt (SB)



Bundeskanzlerin Angela Merkel gab sich in ihrer Rede vor dem US-Kongreß am 3. November "zutiefst davon überzeugt: Einen besseren Partner als Amerika gibt es für Europa nicht, und einen besseren Partner als Europa gibt es für Amerika nicht." Schon auf dem Rückflug nach Berlin mußte sie erfahren, daß die Freundschaft beim Geld aufhört - der US-Staatskonzern GM wollte Opel nun doch selbst behalten. Wie sehr auch immer die Bundesregierung selbst an dieser unerwarteten Entscheidung mitgestrickt hat, die Washingtoner Ergebenheitsadresse der Kanzlerin wirkte nun noch mehr wie ein devoter Kniefall. Doch der 9. November nahte, und mit ihm weitere Dankesbekundungen an den Großen Bruder in Washington.

In der Regierungserklärung am 10. November rühmte die Kanzlerin nurmehr das "Eintreten der transatlantischen, der westlichen Wertegemeinschaft - Europäische Union, NATO - für die Einheit und Freiheit unseres Landes". Ganz allgemein konstatierte sie, daß es damals wie heute "Bündnisse und Wertegemeinschaften" seien, "die uns die Herausforderungen unserer Zeit meistern lassen". Dazu zählt auch der "Kampfeinsatz in Afghanistan", der zwar "unserem Engagement für eine stabiles Afghanistan" geschuldet sei, nichtsdestotrotz heute kaum mehr mit Euphemismen wie "Schutzmission" und "Wiederaufbau" überschrieben wird. Der humanitäre Lack ist auch in der regierungsamtlichen Rhetorik den Tarnfarben für Gefechte in unwegsamem Gelände gewichen.

So werden die Taliban auch in dem von der Bundeswehr kontrollierten Gebiet in Nordafghanistan angegriffen, allerdings, will man den offiziellen Verlautbarungen glauben, nicht von ihr. Laut Stellungnahme der NATO wurden letzte Woche

"bei einem mehrtägigen massiven Einsatz gegen die Taliban im deutschen Befehlsbereich am Hindukusch nach eigenen Angaben mehr als 130 Aufständische getötet. Die Islamisten seien aus mehreren Dörfern im Norden Afghanistans vertrieben worden, sagte Nato-Sprecher Todd Vician am Montag in Kundus. An den fünftägigen Kämpfen seien 700 afghanische und 50 Nato-Soldaten beteiligt gewesen. Es seien auch Luftangriffe gegen die Extremisten geflogen worden. Die Bundeswehr war nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Berlin nicht an den Kämpfen beteiligt, die von US-Kräften und der afghanischen Armee geführt worden seien."
(Reuters, 09.10.2009)

Diese dürre Meldung bildete die Basis der meisten Nachrichten über diesen nicht geringfügigen Angriff auf Talibanstellungen. Weit mehr erfuhr man bei Spiegel Online (08.10.1009), wo sich der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammed Omar, im Erfolg sonnt, den Taliban endlich einmal richtig zugesetzt zu haben. Die Initiative für diesen Einsatz sei laut den afghanischen Regierungstruppen von dem für die in der Region agierenden US-Spezialkräfte zuständigen US-Kommandanten ausgegangen, und er sei unter Führung der US-Truppen als Bestandteil der Operation Enduring Freedom (OEF) durchgeführt worden. Laut Spiegel Online wären neben "rund 800 afghanischen Soldaten gut 300 Spezialkräfte der US-Armee und von ihnen ausgebildete Afghanen, rund 130 Polizisten und mehrere Dutzend NDS-Agenten" beteiligt gewesen. Der afghanische Geheimdienst NDS wäre für die Zielkoordinaten zuständig gewesen, mit Hilfe derer fünf Tage lang rund um die Uhr angebliche Talibanstellungen "rund um den Ort Gul Tepa nordwestlich des deutschen Armeecamps bei Kunduz" bombardiert worden wären.

Wie viele Zivilisten sich unter den mindestens 130 Opfern der Luftangriffe befanden, bleibt angesichts der Abschirmung der Offensive gegen fremde Beobachter unklar. Laut Reuters hat ein Taliban-Sprecher erklärt, daß nur fünf Kämpfer ums Leben kamen, ansonsten ist davon auszugehen, daß bei einem Dauerbombardement auf bewohntes Gebiet stets Zivilisten sterben.

Die politischen Konsequenzen dieses Angriffs bleiben daher ebenso unter der Decke allgemeinen Wegsehens wie die Tatsache, daß die USA in Afghanistan Krieg nach ihrem Gusto führen und die NATO-Verbündeten auf den Platz von Beobachtern oder Befehlsempfängern verweisen. Da die Bundesregierung nicht gegen das Vorgehen der US-Streitkräfte in einem Bereich Afghanistans, der von der Bundeswehr im Rahmen des ISAF-Mandats kontrolliert wird, protestiert hat, muß ihr trotz des Dementi unterstellt werden, auf diese oder jene Weise an diesem Angriff beteiligt gewesen zu sein. Schließlich hat die Bundeswehr mit dem Luftangriff auf zwei Tanklastzüge am 4. September erkennen lassen, daß ihr die Vorgehensweise des brutalen Niedermachens mit überlegenen Distanzwaffen nicht fremd ist.

Zumindest das Sprachrohr der US-Neokonservativen, das Wall Street Journal (09.10.2009), behauptet, deutsche Truppen hätten die Kampfzone "abgeriegelt und fliehende Aufständische eingeschlossen". Der Tenor dieses Berichts stellt ganz darauf ab, daß entschlossene US-Truppen gegen die Taliban in einer Region vorgegangen wären, die von den "europäischen Alliierten übersehen" worden wäre. So die Umschreibung des Blattes dafür, daß die Bundeswehr sich angeblich davor scheut, eine notwendige "Reinigungsoperation", so die Wortwahl des US-Kommandanten laut Spiegel Online, durchzuführen.

Die Bundesregierung schweigt zu der Eskalation in der Region Kundus. Dazu, daß die eigenen Truppen, so es zutrifft, daß ihre Bereitschaft zur offenen Kriegführung nicht so ausgeprägt ist, wie von der US-Regierung erwartet, im Sog der offensiven Kriegführung der OEF kaum anders können, als ihrerseits immer aggressiver vorzugehen, hat sie nichts zu sagen. Das legt den Schluß nahe, daß es sich um eine von anderen Feldern der transatlantischen Zusammenarbeit wie der Nötigung des Irans und des Ausverkaufs der Palästinenser vertraute Form der deutsch-amerikanischen Arbeitsteilung handelt.

Man überläßt es den US-Streitkräften, die Bedingungen für eine Kriegführung herzustellen, die zu produzieren man aus eigenem Antrieb aus politischen Gründen vermeidet. Sind die Kämpfe erst einmal voll entbrannt, dann kann man nur noch reagieren. Sterben Zivilisten oder werden Taliban regelrecht massakriert, wäscht man die Hände in Unschuld und lastet dem Gegner alle Schuld an. Sollte es sich hingegen so verhalten, daß die Bundesregierung von der US-Administration regelrecht überfahren wird, dann hat sie erst recht allen Grund, sich vor einer Stellungnahme zur Verschärfung der Situation in der Region Kundus, wo sich die Kämpfe zwischen der Bundeswehr und den Taliban nun häufen, zu drücken.

11. November 2009