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HEGEMONIE/1686: Postdemokratisches Kerneuropa ... Staatsmacht im Aufwind (SB)



Nachdem man zwei Jahre lang überschuldete Banken mit öffentlichen Mitteln refinanziert hat, angeblich um einen Kollaps des gesamten Finanzsystems zu verhindern, sollen privatwirtschaftliche Gläubiger künftig verstärkt in die Pflicht genommen werden. Diese Forderung erhebt nicht nur die Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt. Die am aktuellen Beispiel Irland diskutierte Krise der Staatsfinanzen soll zum einen durch den Entzug souveräner Handlungsfreiheit bei den betroffenen Regierungen, zum andern durch die stärkere Einbindung der Gläubiger in das Kreditrisiko bewältigt werden:

Ich halte strenge Sanktionsmaßnahmen für angemessen, sogar für notwendig und schließe auch einen Stimmrechtsentzug als äußerstes Mittel nicht aus. Darüber hinaus, denke ich, führt mittelfristig kein Weg daran vorbei, private Gläubiger bei solchen Staatsfinanzkrisen mit in Haftung zu nehmen, um die Last nicht allein den Steuerzahlern aufzubürden. [1]

Die Forderung Hundts belegt, wie sehr die Krise der Staatsfinanzen die Verwertungsinteressen des Kapitals bedroht. Die gerne kolportierte Behauptung, das internationale Finanzkapital treibe die Staaten vor sich her und diktiere ihnen seine Bedingungen fast nach Belieben, hat noch nie gestimmt. Sie kann nur unter Ausblendung des politischen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung erfolgen, des voluntaristischen Setzens von Bedingungen, die das Kapital erst mit jenem dominanten Einfluß ausstatten, der der Politik dann als legitimatorischer Sachzwang dient.

Die Umlastung der Kosten der seit 2008 in die manifeste Krise geratenen Finanzakkumulation auf die arbeitende und versorgungsbedürftige Bevölkerung führt auch wirtschaftspolitischen Laien vor Augen, daß sie Objekt eines Raubzugs sind, dessen Sachwalter das Versprechen allgemeiner Prosperität, die zu erwirtschaften es vorab einer reformbedingten Hungerkur bedürfe, nicht mehr glaubhaft vertreten können. An die Stelle neoliberaler Propaganda ist die unvermittelte Gewalt auf lange Sicht unumkehrbaren Mangels getreten, was im Umkehrschluß heißt, daß die davon betroffenen Menschen die Zumutungen, denen sie ohnmächtig ausgesetzt sind, nicht mehr so duldsam wie bisher ertragen werden.

Was die Iren vor dem zweiten Referendum zum Lissabon-Vertrag der EU dazu trieb, sich schlußendlich dem EU-Kapital und den EU-Regierungen zu beugen, hat sie in eine Schuldknechtschaft geführt, der sie allerdings auch ohne EU nicht entkommen wären. Die von ihnen favorisierte neoliberale Standortpolitik hat eine Überschuldung produziert, die auch Armut und Verelendung erzeugte, wenn Irland den Euro aufgäbe. In diesem Falle wäre allerdings das Anstreben einer sozialistischen Neuordnung möglich gewesen, die unter dem Diktat der EU-Schuldenverwaltung undenkbar erscheint. Mit der Inanspruchnahme des Europäischen Stabilisierungsfonds (EFSF) ist Irland langfristig auf einen Schuldendienst festgelegt, der durch Lohn- und Sozialkürzungen bei Aufrechterhaltung niedriger Unternehmenssteuern und anderer Standortvorteile zugunsten des in Irland investierenden Kapitals bewältigt werden soll.

Die von Merkel wie Hundt vorangetriebene Einschränkung der hoheitlichen Entscheidungsgewalt der irischen Regierung im eigenen Land wie im Rahmen der EU ist Ausdruck einer Konzentration ökonomischer wie politischer Verfügungsgewalt zugunsten Deutschlands, die angesichts des von vielen Bundesbürgern kritisierten Beitritts der Bundesrepublik zum Euro nicht ohne Genugtuung als Ergebnis politischer Weitsicht vorgezeigt wird. Die europäische Integration tritt in eine Phase autoritärer Durchsetzung, in der die von Anfang an hierarchisch gemeinte Konzeption der Europäischen Union nicht nur materiell, sondern auch administrativ manifest wird. Das Mißverhältnis zwischen den Produktivitätsniveaus der verschiedenen Mitglieder der Eurozone mag sich anfangs für die ökonomisch schwächeren Staaten in Form von EU-Transferleistungen und einer über die Stabilität des Euro importierten Investitionssicherheit ausgezahlt haben. In der Krise erweist sich jedoch der Vorteil, die industrielle Produktivität der deutschen Wirtschaft exportieren zu können, ohne daß die Adressaten deutscher Güter und Dienstleistungen ihre Volkswirtschaften durch Abwertung und protektionistische Maßnahmen schützen könnten, als weit größerer Gewinn für das deutsche Kapital.

Die Subordination peripherer Volkswirtschaften unter das ökonomische Kerneuropa Bundesrepublik, Frankreich und Benelux schützt nicht nur das dort angesiedelte Finanzkapital vor dem Ausfall ihrer diesen Ländern gewährten Staatsanleihen. Sie zementiert zudem das ökonomische Gefälle zwischen den EU-Staaten, das als Basis einer ordnungs- und währungspolitisch gesicherten Wertschöpfung niemals ernsthaft überwunden werden sollte, durch langfristige Abhängigkeitsverhältnisse, von denen insbesondere deutsche Kapitalinteressen profitieren. Die aus den Entbehrungen, die abhängig Beschäftigte und Empfänger sozialer Transferleistungen zwecks Sicherung der Profitrate erleiden, resultierenden Legitimationsverluste werden durch das Schüren nationalistischer und sozialrassistischer Ressentiments gegen vermeintliche innere wie äußere Feinde gelenkt.

Dennoch kann es sich der Staat als ideeller Gesamtkapitalist nicht leisten, die nach innen repressiv und nach außen aggressiv verfochtene Rentabilität seiner Verwertungsbasis allein zu Lasten der Bevölkerung gehen zu lassen. Mit der Forderung, das Kapital in die gesamtgesellschaftliche Bestandssicherung einzubinden, wird unausgesprochen darauf verwiesen, daß die angebliche Freiheit der Marktwirtschaft stets ein Lehen bourgeoiser Klassenherrschaft war, also Eigentumsordnung und Staatsgewalt konstitutiv für das Wirken nur scheinbar autonom agierender Marktkräfte sind. Daß gerade die Bundesrepublik als das am meisten von der europäischen Wirtschafts- und Währungsordnung profitierende Land eine stärkere Inpflichtnahme der Gläubiger und Banken anmahnt, ist zum einen der dadurch verstärkten Abhängigkeit überschuldeter Staaten von europäischer Finanzhilfe und damit der politischen Macht Berlins, zum andern einem Krisenmanagement, dem die gigantischen, durch reale Werterzeugung ungedeckten Kapitalmengen zusehends als treibendes Moment einer noch katastrophaleren Wirtschaftskrise erscheinen, geschuldet. Um die Politik des Mangels dauerhaft vertreten zu können, bedarf es des Ausbaus staatlicher Verfügungsgewalt nicht zuletzt zu Lasten der demokratischen Möglichkeiten, ihr Einhalt zu gebieten.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1325494/

25. November 2010