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HEGEMONIE/1688: Wikileaks-Enthüllungen ... ein Sturm im Wasserglas (SB)



Außenpolitik ist ein Minderheitenprogramm. In Wahlkämpfen spielen außenpolitische Fragen, wenn es denn nicht um akute Entscheidungen zur Kriegsbeteiligung Deutschlands geht, so gut wie keine Rolle, und das liegt durchaus in der Absicht massenmedial orchestrierter Indoktrination. Wenn die Bevölkerung nicht im Sinne der Herrschenden tickt und sich mit Begeisterung in militärische Abenteuer stürzt, dann muß ihr die angebliche Notwendigkeit derselben mühsam unter Inanspruchnahme terroristischer Bedrohungslagen beigebracht werden. Jahrelang mußte das antiserbische Ressentiment geschürt werden, um den Bundesbürgern die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abzunötigen. Heute werden islamfeindliche Klischees auf breiter Front mit Existenzängsten und Sozialneid aufgeladen, um zu verhindern, daß die geringe Zustimmung zum Afghanistankrieg zu offenem Widerstand auswächst.

Kurz gesagt, Außenpolitik im allgemeinen und Diplomatie im besonderen gehen den Plebs nichts an. Er wird, wenn es denn nottut, mit plakativer Propaganda auf ein zweckmäßiges Feindbild geeicht, dessen Inszenierung nicht umsonst mit bewährten, durch Knoppsches Historytainment gabelfertig aufbereiteten Bösewichten aus der NS-Zeit bevölkert ist. So verboten die Verwendung von NS-Vergleichen bei eigenen Politikern oder denen der Verbündeten ist, so erwünscht sind sie, um die Volksseele gegen den Feind des Tages in Stellung zu bringen.

Gerade weil die internationalen Beziehungen der Staaten als Kernkompetenz souveränen Handelns gelten, werden sie so wenig wie möglich einer demokratischen Legitimation ausgesetzt, in der ganz andere Interessen als die der damit befaßten Experten zum Zuge kommen könnten. Das zeigt sich auch an der europäischen Integration, einem Politikfeld, das die Rückwirkungen einstmals außenpolitischer Belange auf die eigene staatliche Verfaßtheit bis hin zu ihrer supranationalen Transformation exemplarisch abbildet. Gerade weil die innereuropäischen Verhältnisse die Zukunft des nominellen Souveräns maßgeblich bestimmen, wurde er von direkter Einflußnahme auf diesen Prozeß weitgehend abgehalten. Wo es, wie bei den Referenden zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden, dennoch erfolgte, zog man die Lehre, daß demokratische Partizipation bei entscheidenden Weichenstellungen Kontrollverluste von unabsehbarer Folgewirkung zeitigt, und verzichtete auf die Einbeziehung der Bevölkerungen bei der Ratifikation des Lissabon-Vertrags. Konsequenterweise spielt das EU-Parlament bei Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik so gut wie keine Rolle.

Es liegt ganz auf der Linie dieser Disparität zwischen demokratischem Anspruch und herrschaftlicher Willkür, daß die Enthüllungen der Internet-Plattform Wikileaks zur diplomatischen Korrespondenz der USA im ersten Antritt mit boulevardesken Schlaglichtern auf die Bewertungen internationaler Politiker durch US-amerikanische Diplomaten aufwarten. An diesen kann sich die mediale Erregungsmaschinerie relativ folgenlos abbarbeiten, und das um so mehr, als betroffene Regierungspolitiker keinen Hehl aus ihrem Ärger über die Veröffentlichung vertraulicher Mitteilungen machen. Wird dann noch ruchbar, daß US-Diplomaten auf Anweisung von höchster Stelle regelrechte Spionageaktivitäten gegenüber ihren ausländischen Verhandlungspartnern entfalteten, dann ist man schnell mit Vergleichen bei der Hand, die Normalbürgern, die gegen ihre ganz alltägliche datenelektronische Überwachung protestieren, als überzogen angelastet werden.

Die bislang durch die fünf internationalen Nachrichtenmagazine, die das nur teilweise als "vertraulich" und "geheim" klassifizierte Material vorab zu Gesicht bekamen, freigesetzten Inhalte sind auch ansonsten alles andere als spektakulär. Daß sich arabische Staatschefs für einen Angriff der USA auf den Iran einsetzten, liegt ebenso nahe wie die Sorge der Regierungen in London und Washington über die terroristische Nutzung des pakistanischen Atomwaffenarsenals. Enthüllungen über Korruption in Kreisen der afghanischen Regierung, über Verstrickungen des Kreml mit Mafia-Organisationen, über Zensurbestrebungen der chinesischen Regierung oder die Annahme der US-Regierung, der Iran verfüge über Trägersysteme mit einer größeren Reichweite als bisher vermutet, arbeiten der Außenpolitik Washingtons geradewegs zu, so daß hier im mindesten Fall eine Beschwichtigungsstrategie der beteiligten Zeitungen vermutet werden kann. Um nicht in den Verdacht einer einseitig antiamerikanischen Veröffentlichungspraxis zu geraten, bietet sich die gezielte Plazierung vermeintlicher Enthüllungen, die den Absichten der US-Regierung zuarbeiten, als adäquates Gegenmittel an.

In Anbetracht der vollmundigen Drohungen, mit denen die US-Regierung bereits die letzten Enthüllungen Wikileaks quittiert hat, scheint umsichtiges Taktieren der von Wikileaks einbezogenen Nachrichtenmagazine allemal vonnöten zu sein. Die New York Times, die heute unter der großspurigen, zahlreiche Länder des Südens mißachtenden Überschrift "Around the World, Distress Over Iran" über den Iran betreffende Diplomatenpost berichtet, hatte sich im Vorfeld des Irakkriegs so entschieden auf die Seite der US-Regierung geschlagen, daß von ihr kaum zu erwarten ist, nun mit die Außenpolitik ihres Landes ernsthaft beschädigenden Enthüllungen aufzuwarten. So wird der offensichtlich mit Leichtigkeit erfolgte Einbruch in ein Kommunikationsnetzwerk, zu dem immerhin 2,5 Millionen Menschen Zugang haben, in vielen politischen und journalistischen Stellungnahmen denn auch als größter Schaden bewertet, der aus dem jüngsten Wikileaks-Coup resultiert.

Ernsthafter Schaden für die außenpolitischen Aktivitäten der US-Regierung ist auch deshalb nicht zu erwarten, weil das Material von Wikileaks selbst nur zum Teil in redaktionell bearbeiteten Auszügen zugänglich gemacht wird. Eher wahrscheinlich ist, daß die Aufregung über die niedrigschwelligen Sicherheitsmaßnahmen des State Department und Pentagons die Optimierung der Geheimhaltungseffizienz zu einem vertretbaren Preis bewirken wird. Als im Vorfeld des Irakkriegs bekannt wurde, daß Mitglieder des UN-Sicherheitsrats von der US-Regierung observiert und unter Druck gesetzt wurden, um ihre Zustimmung zur Mandatierung des so oder so geplanten Angriffs auf den Irak zu erzwingen, war die Empörung groß und folgenlos.

Die grundlegende Frage danach, wie Regierungen das Interesse ganzer Bevölkerungen am grünen Tisch in eine machtpolitische Verhandlungsmasse verwandeln, deren Einsatz Tausende von Menschen mörderischen Interventionen aussetzt oder Millionen ins ökonomische Elend stürzt, bleibt bei alledem ungestellt. Wie die Aufregung über die jüngst publik gemachte Einbindung des deutschen Außenministeriums unter Joachim von Ribbentrop in die massenmörderische Politik des NS-Regimes gezeigt hat, wird Diplomaten von vornherein zugestanden, bei ihren Aktivitäten eine weiße Weste zu behalten. Nichts könnte irreführender sein, das gilt auch für die Nachkriegszeit, bedenkt man die entscheidende Rolle, die US-amerikanische Botschaften bei der Vorbereitung imperialistischer Kriege und der Etablierung neokolonialistischer Besatzungsregimes gespielt haben. Gemessen daran, was darüber längst bekannt ist, bevor es von großen Medien unterdrückt oder Jahrzehnte später behandelt wird, können die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen schon jetzt als Sturm im Wasserglas bezeichnet werden. Wenn sie zumindest den Effekt hätten, das Interesse am Zusammenhang zwischen internationaler Interessenpolitik und kapitalistischer Vergesellschaftung in der Bevölkerung zu vergrößern, wäre schon viel erreicht.

29. November 2010