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HEGEMONIE/1691: "Weltweite Christenverfolgung" ... ein Vorwand für alle Gelegenheiten (SB)



Selbstkritik Fehlanzeige. Anstatt zu fragen, wie es zu religiösen und konfessionellen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten kommt, wird die Gelegenheit genutzt, um das Problem auf eine Weise auszudeuten, die das Entflammen bürgerkriegsartiger Konflikte in der Region allemal begünstigt. So ist der Anschlag auf die koptische Kirche in Alexandria, bei dem in der Neujahrsnacht 21 Menschen starben, nur eine von zahlreichen Gewalttaten, von denen auch in mehrheitlich islamischen Ländern in erster Linie Muslime betroffen sind. Indem deutsche Politiker den Anschlag in Ägypten als Fanal der Christenverfolgung in aller Welt anprangern und nach Konsequenzen verlangen, die bis zum Verhängen von Sanktionen reichen, schüren sie ein Feuer, dessen Nahrung von ganz anderer Art als die des fundamentalistischen Ressentiments ist.

So wird die besondere Aufmerksamkeit, der man dem Anschlag auf die ägyptischen Kopten zubilligt, damit begründet, daß in Ägypten schließlich kein Krieg wie im Irak herrsche. Dieser Lesart nach ist es nicht weiter erwähnenswert, wenn dort fast täglich Anschläge in vergleichbarer Dimension erfolgen, ohne daß davon in besonderer Weise Notiz genommen würde. Wenn allerdings irakische Christen betroffen sind, dann ist ihnen das Mitgefühl sich als christlich titulierender Politiker sicher, ohne daß diese einen Gedanken daran verschwendeten, daß die deutsche Unterstützung des Regimewechsels in Bagdad mit dafür verantwortlich war, die im Irak lebenden Christen der Gewalt des Bürgerkriegs preiszugeben. Das hindert die Bundesregierung nicht daran, das Ausmaß dieser Gewalt herunterzuspielen, um zur Tagesordnung lukrativer Geschäfte übergehen zu können.

Zu diesem Zweck sind westliche Regierungen auch in Ägypten, dem Urlaubsziel des deutschen Außenministers, bereit, einen die eigene Bevölkerung massiv unterdrückenden Präsidenten zu unterstützen. Auch wenn am Nil kein offener Krieg herrscht, so befindet sich das Land im Griff eines Regimes, das nur bestehen kann, weil sein geostrategischer Wert die vielen Gründe aus dem Feld schlägt, die es als Bündnispartner demokratischer Staaten inakzeptabel machen müßte, wenn diese ihre eigenen Wertgrundsätze ernst nähmen.

Die ägyptische Gesellschaft ist von schweren sozialen Konflikten gezeichnet, so daß die terroristische Bedrohung nicht gelegener kommen könnte. Sie soll vergessen machen, daß die ökonomische Verelendung der Bevölkerung, die in zahlreichen Arbeitskämpfen gegen frühkapitalistische Formen der Ausbeutung manifest wird, das zentrale Problem des Landes sind. Es ist kein Zufall, daß die Führung der stärksten - und daher als politische Partei nicht zugelassenen - Oppositionsbewegung der Muslimbrüder sich mit den Kopten solidarisch erklärt hat. Sie weiß genau, daß ihr ein religiöser Konflikt aufgezwungen werden soll, anhand dessen das Problem der sozialen Verelendung in die Bahnen eines Glaubenskrieges gelenkt werden soll. So wie die irakische Bevölkerung zum Spielball einer Strategie des Teilens und Herrschens wurde, mit der in erster Linie arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden gegeneinander ausgespielt wurden, sollen auch in Ägypten neokolonialistische Ambitionen anhand ethnischer und religiöser Unterschiede ausgetragen werden.

Das schon vor dem Anschlag von Alexandria, dessen Urheber noch nicht bekannt sind, im Bundestag zur Debatte gestellte Thema der Christenverfolgung im Irak und anderen islamischen Ländern bietet sich als Vorwand für Forderungen an, mit denen der eigene Einfluß auf die Länder des Südens ausgeweitet werden kann. Auf der Bahn des weithin etablierten Vorwurfs, "der Islam" sei intolerant und gewalttätig, will man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die in Deutschland von interessierter Seite her entfachte Islamfeindlichkeit wird anhand vermeintlich objektiver Gründe offiziell legitimiert, um ihre sozialen Beweggründe besser leugnen und in Deutschland lebende Muslime unter verschärften Anpassungsdruck stellen zu können. Die im Nahen und Mittleren Osten in Frage gestellte Hegemonie der NATO-Staaten soll unter Zuhilfenahme menschenrechtlicher Argumente gestärkt werden, und zwar auf so apodiktische Weise, daß sich jedes Nachfragen verbietet.

Das von Unionspolitikern angestimmte Lamento über die Christenheit als verfolgteste Religion der Welt entspricht auf globaler Ebene nicht von ungefähr dem gleichfalls von CDU-Politikern erhobenen Vorwurf, deutsche Bürger müßten sich im eigenen Land deutschenfeindlicher Migranten erwehren. Was als "positiver Patriotismus" mit großem Aplomb als endlich wieder mögliches Bekenntnis zur Nation salonfähig gemacht wurde, wird in eine Opferrolle umgemünzt, die nach Vergeltung schreit. Gerade weil die Verkehrung realpolitischer Gewaltverhältnisse nicht abstruser anmuten könnte, wird sie mit stärksten apologetischen Behauptungen in eine Waffe verwandelt, die im Brustton selbstgerechter Empörung auf all diejenigen gerichtet werden kann, die der Sicherung nationaler Verwertungsinteressen im Wege stehen. Wird im Innern der Vorwurf der Bildung von"Parallelgesellschaften" erhoben, um in Deutschland lebende Muslime einer gefährlichen, potentiell terroristischen Illoyalität zu bezichtigen, dann muß auf internationaler Ebene überall dort blankgezogen werden, wo Regierungen die eigene Bevölkerung unterdrücken, die sich nicht der ordnungspolitischen Maßgabe westlicher Staaten unterwerfen. Wo die Flüchtlingsabwehr mit dem bürokratischen Terminus der "Einwanderung in die Sozialsysteme" zum selbstevidenten Imperativ gerät, da muß der "Stabilitätsexport" in angeblich gescheiterte Staaten auf um so "robustere" Weise erfolgen.

Wenn die Drohnen und Bomber der NATO und mit ihr verbündeter Staaten in Afghanistan, Pakistan, im Irak und Palästina Menschenleben vernichten, dann läge nichts ferner, als dies dem religiösen Bekenntnis der befehlshabenden Generäle und ausführenden Soldaten anzulasten. Wenn westliche Regierungen arabische Despoten gegen die eigene Bevölkerung aufrüsten, wenn sie in deren Staaten menschenfeindliche Flüchtlingslager einrichten, um sich das Elend der Welt vom Leib zu halten, dann käme hierzulande niemand auf den Gedanken, dies als Ausgeburt ihrer christlichen Gesinnung zu brandmarken. Wenn der europäische Imperialismus, die kapitalistische Modernisierungsdoktrin und westliche Ordnungspolitik ohne Rücksicht auf Verluste in orientalischen Gesellschaften durchgesetzt werden, dann allerdings werden die dabei provozierten Reaktionen pauschal als Folge eines angeblich nur dem Islam eigenen religiösen Fanatismus verurteilt.

Um wie vieles komplizierter und schwieriger die Sachlage ist, zeigt allein die Entstehung des politischen Islam als eines Produkts am Westen orientierter Intellektueller, die eine für ihren Kulturkreis eigene Form der gesellschaftlichen und staatlichen Modernisierung anstrebten. Wenn dubiose Splittergruppen unter dem Namen Al Qaida nicht nur Christen, sondern vor allem Muslime ermorden, gerät die Entwicklung vollends in ein trübes Gewässer, das durch bloße Mutmaßungen über ihre Motive nicht eben klarer wird. Wenn nun ein christlicher Revanchismus Gestalt annimmt, um in menschenrechtliche Forderungen gekleidet zur Tat zu schreiten, dann ist Schlimmeres zu befürchten.

3. Januar 2011