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HEGEMONIE/1745: Rußland ist zweifellos und glücklicherweise anders (SB)



Rußland ist zweifellos und glücklicherweise anders - denn wer wollte schon in einer unumkehrbar zugunsten US-amerikanischer Suprematie neu geordneten Welt leben. Die gern zitierte Eigenart und Unbegreiflichkeit der russischen Seele wird erst dann zum Problem, wenn man dieses Land besiegen, beherrschen und ausplündern will. Daß dies in ihrem geostrategischen Hegemonieentwurf zwingend vorgesehen ist, bestreitet die NATO ebenso vehement, wie alle Zeichen vom Gegenteil zeugen. Von den Plänen der Reagan-Ära, die Sowjetunion ökonomisch in die Knie zu zwingen, über den Coup, sie in Afghanistan militärisch ausbluten zu lassen, bis hin zum triumphal überhöhten Sieg im Kampf der Systeme zieht sich der rote Faden einer unausgesetzten Aggression, die mit dem Ende des Kalten Krieges in eine innovative Phase der Einschnürung und Zersetzung Rußlands eintrat. In der Regierungszeit Boris Jelzins schienen die westlichen Mächte ihrem Ziel in atemberaubender Geschwindigkeit näherzukommen. Die zweitgrößte Militärmacht der Welt verrostete, ihre Wirtschaft fiel westlichen Konzernen in die Hände, der gesellschaftliche Zusammenhalt löste sich auf.

Rußland wurde vom Westen nach 1990 nicht nur als besiegtes Land behandelt, sondern vor aller Augen getäuscht. Es gilt als historisch gesichert, daß der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher Moskau die mündliche Zusage gab, daß die NATO nach einer deutschen Wiedervereinigung keinesfalls nach Osten erweitert würde. Als 2008 ein Krieg zwischen Georgien und Rußland ausbrach, entsandte Washington Truppen in den Kaukasus. Der damalige US-Präsidentschaftskandidat John McCain forderte ausgerechnet zu diesem kritischen Zeitpunkt sogar die Aufnahme Georgiens in die NATO. Dem Anschluß der Ukraine an das transatlantische Militärbündnis steht nur noch der Widerstand des jetzigen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Wege. Das US-Außenministerium und die Geheimdienste unterstützen oppositionelle Kräfte in Rußland, und die NATO läßt nicht von ihrem Vorhaben ab, Raketen vor die russische Haustür zu stellen. [1]

Obgleich sich Rußland offensichtlich unter wachsender militärischer Einschnürung von außen und ideologischer Unterwanderung von innen in einer zugespitzten Verteidigungslage befindet, bezichtigen westliche Medien die Führung in Moskau als pathologisch mißtrauisch, extrem machthungrig und notorisch irrational. Wann immer von russischer Seite die Lage realistisch analysiert, die Absicht der NATO aufgedeckt und die Abwehr dieses Angriffsdrucks für unverzichtbar erklärt wird, kanzelt man jeden Versuch, die Verhältnisse beim Namen zu nennen, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und auf gleicher Augenhöhe eine Deeskalation anzustreben, als lächerliche Verdrehung der Realität und durchsichtige Propaganda ab. Als sich das westliche Bündnis im November 2010 auf dem NATO-Gipfel in Lissabon eine neue Doktrin auf die Fahnen schrieb, war explizit von einer Einbindung Rußlands die Rede. Zugleich wies man den Wunsch Moskaus auf Vollmitgliedschaft rigoros zurück, was nur einen Schluß zuläßt: Rußland soll solange ruhiggestellt werden, bis man es sturmreif auf dem Präsentierteller serviert bekommt.

Unter den zahlreichen Gründen, die man zugunsten oder zu Lasten Wladimir Putins ins Feld führen kann, ist aus westlicher Sicht nur einer relevant: Der aktuelle Ministerpräsident und künftige Staatschef hat bei seinem ersten Amtsantritt als Präsident ein marodes Land übernommen und mit harter Hand stabilisiert. Er hielt den Verfall Rußlands auf, beendete den ökonomischen Ausverkauf und bremste mit seiner Mehrvektorenpolitik gegenüber dem Westen dessen ungehindertes Vordringen. Er durchkreuzte mithin die Pläne der NATO, die Rußland bereits in der Hand zu haben glaubte, als Putin ihr die Beute wieder entriß. Was binnen weniger Jahre beinahe im Handstreich zu gelingen schien, war damit in weite Ferne gerückt: Eine gesellschaftliche Zersetzung herbeizuführen, die das Land, dessen atomare Bewaffnung einen regelrechten Angriffskrieg unmöglich machte, mit Hilfe einer wie auch immer eingefärbten bunten "Revolution" in die Hände der westlichen Mächte spielen sollte.

Wie jedem Staatsführer kann man auch Putin ein gefülltes Arsenal machterhaltender und herrschaftssichernder Motive und Manöver attestieren. Ein Schuh glaubwürdiger Kritik wird daraus erst dann, wenn man dieselben Maßstäbe an die gesellschaftlichen Verhältnisse des Westens und dessen politische Führung anlegt oder besser noch die übereinstimmenden Systeme kapitalistischer Verwertung im Kontext neoimperialistischer Strategien unter die Lupe nimmt. Unterläßt man dies, bleibt die künstliche Aufregung über Putins "diktatorische Gelüste" bloßer Theaterdonner auf der Bühne ideologischen Dauerfeuers zur Perforierung der russischen Verteidigungslinien.

Wladimir Putin hat am 4. März in der Tageszeitung Moskowskije Nowosti einen außenpolitischen Grundsatzartikel veröffentlicht, der umfassend und in aller Deutlichkeit seine diesbezüglichen Einschätzungen und Vorhaben darlegt. Er nimmt in diesem Text, der inhaltliche Anknüpfungspunkte an seine Rede auf der Münchener "Sicherheitskonferenz" 2007 erkennen läßt, zu Fragen des internationalen Rechts Stellung und skizziert Strategien der Bündnis- und Wirtschaftspolitik Rußlands. Wie Putin unter anderem schreibt, werde Rußland nur dann mit Respekt wahrgenommen und berücksichtigt, wenn es stark ist und fest auf den Beinen steht. Er sei fest davon überzeugt, daß die Sicherheit in der Welt nur unter Beteiligung Rußlands garantiert werden kann, ohne daß man versucht, Rußland ins Abseits zu drängen, seine geopolitischen Positionen zu schwächen und seine Verteidigungsfähigkeit zu beschneiden. [2]

Die zahlreichen bewaffneten Konflikte, die in jüngster Zeit durch humanitäre Ziele gerechtfertigt werden, verletzten das Prinzip der staatlichen Souveränität. Wenn Menschenrechte von äußeren Kräften selektiv beschützt werden, wenn bei der "Verteidigung der Menschenrechte" die Rechte von vielen anderen Menschen verletzt werden, darunter das allerwichtigste Recht auf Leben, dann handle es sich nicht um eine edle Sache, sondern um Demagogie. Er habe den Eindruck, daß die NATO-Staaten und insbesondere die USA eine eigenartige Vorstellung von Sicherheit hätten, die sich von der Rußlands grundsätzlich unterscheidet. Die Amerikaner seien von der Idee besessen, sich die absolute Unantastbarkeit zu sichern, was allerdings sowohl aus technologischer als auch aus geopolitischer Sicht utopisch und unerfüllbar sei. Vor allem aber würde die absolute Unantastbarkeit eines Landes die absolute Verletzbarkeit aller anderen bedeuten - und eine solche Perspektive wäre inakzeptabel.

Putin verurteilt die militärische Intervention in Libyen und warnt vor entsprechenden Absichten hinsichtlich Syriens, des Irans und Nordkoreas. Angesichts der Spannungen um die Atomprogramme habe er den Eindruck, daß die zuletzt häufig gewordenen bewaffneten Einmischungen in die inneren Angelegenheiten einzelner Länder dieses oder jenes autoritäre Regime zum Atomwaffenbesitz provozieren könnten. Solche Herrscher könnten den Eindruck haben, daß sie sich nur mit einer Atombombe in Sicherheit wiegen und daß niemand es wagen würde, sie anzugreifen. Die Länder, die keine eigenen Atomwaffen besäßen, müßten sich dagegen auf "humanitäre" Interventionen gefaßt machen.

Putins weitreichender programmatischer Artikel, auf den hier nur in wenigen Auszügen Bezug genommen werden kann, hält der von den USA und der NATO angestrebten absoluten Dominanz die Herausbildung einer gleichberechtigten Weltordnung entgegen. China teile diese Grundhaltung und es eröffne sich die Chance, "chinesischen Wind" in den "Segeln" der russischen Wirtschaft aufzufangen. Man habe alle wesentlichen Konflikte gelöst und ein hohes Niveau beiderseitigen Vertrauens erreicht. Zu Indien unterhalte sein Land eine strategische Partnerschaft, von der auch das sich herausbildende polyzentrische System in der Welt profitiere. Durch eine Stärkung der gesamten asiatisch-pazifischen Region eröffneten sich neue Horizonte, wie man auch dem Zusammenwirken mit den BRICS-Partnern vorrangige Bedeutung beimesse. Diese 2006 geschaffene einmalige Struktur symbolisiere am anschaulichsten den Übergang von einer monopolaren zu einer gerechteren Weltordnung. [3]

Vor dem Hintergrund des Aufstiegs Chinas, Indiens und anderer neuer Ökonomien beobachte man die Finanz- und Wirtschaftserschütterungen in Europa - der früheren Oase von Stabilität und Ordnung - genauestens. Rußland sei ein unabdingbarer und organischer Teil der breiten europäischen Zivilisation und schlage vor, an der Schaffung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok zu arbeiten und in der Zukunft die Bildung einer freien Handelszone und sogar fortgeschrittener Verfahren der Wirtschaftsintegration zu erreichen. Dieser gemeinsame kontinentale Markt würde zweifelsfrei den Interessen der Russen und der Europäer entsprechen.

Natürlich entspricht dieser Entwurf keinesfalls den Interessen der Vereinigten Staaten, die eine Weltordnung unter ihrer absoluten Vorherrschaft anstreben. Wer Putins Entwurf und damit vermutlich die außenpolitischen Ziele Rußlands in den kommenden sechs oder zwölf Jahren für abwegig, naiv oder illusorisch hält, sollte sich ernsthaft der Frage stellen, ob demgegenüber der ausschließliche, aggressive, permanent Kriege führende Entwurf von USA und NATO tatsächlich ein glaubwürdiger und unterstützenswerter Ansatz der Problemlösung in einer Welt dramatisch schwindender Sourcen, hereinbrechender Klimakatastrophen und millionenfachen Sterbens sein kann.

Fußnoten:

[1] http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article2203527/Die-neuen-Feindbilder-des-Wladimir-Putin.html

[2] http://www.jungewelt.de/2012/03-01/007.php

[3] http://www.jungewelt.de/2012/03-02/001.php

3. März 2012