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HEGEMONIE/1764: Winter in Ägypten - Neue Herren, alte Interessen (SB)




Spätestens mit der Verhängung des Ausnahmezustands durch die ägyptische Interimsregierung unter Ministerpräsident Hasem al-Beblawi ist der Aufbruch des sogenannten arabischen Frühlings im bevölkerungsreichsten Land des Nahen Ostens zurückgefallen auf die Situation vor seinem Beginn. Dies allein auf die angebliche Usurpation der Macht durch die Regierung der Muslimbrüder zurückzuführen, greift zu kurz. Zwar ist dem gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi anzulasten, im November 2012 nach exekutiven Vollmachten gegriffen zu haben, die auf eine Präsidialdiktatur hinausliefen, den verfassungsgebenden Prozeß mit Notstandsmaßnahmen zugunsten der Islamisierung des Landes manipuliert und dem Militär zur Sicherung seiner Handlungsfähigkeit weitreichende Sonderbefugnisse zugestanden zu haben. All dies erfolgte jedoch mit Rückendeckung der USA und der EU. Dort hatte man in Anbetracht der Möglichkeit, daß der gegen die Diktatur Hosni Mubaraks gerichtete Aufstand in eine soziale Revolution münden könnte, nur das eine im Sinn, so schnell wie möglich zu herrschaftstechnisch geordneten Verhältnissen in Ägypten zurückzukehren.

Mursi und die Moslembrüder waren bei allem Bemühen nicht in der Lage, die sozialen Härten durchzusetzen, die die Wirtschaft des Landes nach neoliberaler Lehre wieder wettbewerbsfähig machen sollten. Zudem blieben sie in Hinsicht auf die Hegemonialpolitik der NATO-Staaten unzuverlässige Verbündete, wie vor allem ihre enge historische Verbindung zur palästinensischen Hamas belegt. Nicht zuletzt waren die Muslimbrüder in der Oligarchie des Landes, die dank der Privatisierungspolitik Mubaraks zum eigentlichen Zentrum politischer Macht am Nil wurde, niemals richtig verankert. Der Versuch Mursis, einen zügigen Elitenwechsel in den Zentralen der Regierungsmacht herbeizuführen, rief erst recht den Widerstand der Oligarchen auf den Plan, waren doch ihre eigenen Gewährsleute davon betroffen. Die Amtsenthebung Mursis am 3. Juli durch die Führung der ägyptischen Streitkräfte erfolgte nicht zuletzt auf Betreiben einer Kapitalmacht, der die Muslimbruderschaft zu antiliberal ist und die sie verdächtigt, der neoliberalen Reinform des globalisierten Kapitalismus zumindest skeptisch gegenüberzustehen.

Die seitdem heiß debattierte Frage, ob es sich dabei um einen Putsch handelte oder nicht, wurde von der US-Regierung im Sinne ihres Hegemonialstrebens beantwortet. Die ägyptische Generalität mit jährlich 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe auf der eigenen Gehaltsliste zu halten, sichert nicht nur die Ergebnisse des Camp-David-Abkommens, sondern auch den denkbar direktesten Einfluß auf die Verhältnisse im Land. So vertreten Geostrategen in den USA die Ansicht, daß mit Mursis Amtsenthebung eine Entwicklung korrigiert wurde, bei der die Muslimbruderschaft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen versuchte, in den Stand einer seriösen politischen Kraft zu gelangen, obwohl es sich im Kern um eine ganz anderen Zielen verpflichtete Aufstandsbewegung handelt. In Kommentaren deutscher Zeitungen wurde vertreten, mit dem von der Bevölkerung gewollten und von den Streitkräften in ihrem Namen vollzogenen Ende der Regierung Mursi sei man lediglich gegen eine islamistische Konterrevolution vorgegangen. Die Bestimmung des revolutionären Umbruchs läßt sich aus Sicht derjenigen Verhältnisse, die damit überwunden werden sollen, immer nur auf apologetische Weise vollziehen, will man sich doch keinen Begriff vom sozialen Antagonismus in der eigenen Gesellschaft machen.

Wie auch immer die Tatsache interpretiert wird, daß eine autoritäre Regierung mit den eigenen Mitteln gestürzt wurde, ändert nichts an der Rückendeckung der ägyptischen Streitkräfte durch die US-Regierung und die NATO-Staaten. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, daß die Protestcamps der Muslimbrüder in Kairo auf eine Weise geräumt wurden, die das Risiko eines Bürgerkriegs wissentlich in Kauf nahm. Wenn die US-Regierung nun "das Blutvergießen" - und nicht diejenigen, die es begehen - verurteilt, um im gleichen Atemzug zu erklären, daß die Anerkennung des Sturzes Mursis nicht in ihrem Interesse liegt, dann reflektiert dies die Grundhaltung der NATO-Staaten, die eigenen Vorteile unter allen Umständen zu sichern. Es geht nicht um die Frage "Demokratie oder Diktatur?", wenn die Militärjunta die letzte Instanz jedes politischen Wandels ist. Es geht darum, die spätestens seit 2006 in Ägypten drohende soziale Revolution, also den Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen ihre immer weiter anwachsende Ausbeutung und Unterdrückung, in Schach zu halten.

Das Problem der massenhaften Verelendung zu beheben, stand weder zu Zeiten Mubaraks noch während der Amtszeit Mursis auf der Agenda der NATO-Staaten. Deren Absicht beschränkt sich darauf, die eigenen ordnungspolitischen, ressourcentechnischen und geostrategischen Interessen im Nahen und Mittleren Osten durchzusetzen. Die von den NATO-Staaten geführten oder unterstützten Kriege in Libyen und Syrien, die Zerstörung des Iraks, die Isolation des Iran, die Kriminalisierung der kurdischen Autonomiebewegung wie der libanesischen Hisbollah belegen, daß den Bevölkerungen der Region auf dem machtpolitischen Tableau westlicher Hegemonialpolitik nicht einmal die befristete Funktion eines Bauernopfers zukommt. Sie sind schlichtweg so überflüssig, wie der Kapitalismus alle Menschen macht, die im notdürftigen Erhalt des nur mehr durch Staatsgarantien zu gewährleistenden Geldwertes noch auf diese oder jene Weise produktiv zu verwerten sind. Davon wollen die Muslimbrüder, die bei der Anwendung des Islam auf die moderne Staatsdoktrin auf erhebliche Widersprüche gestoßen sind, so wenig wissen wie die ägyptische Bourgeoisie, die ihr Heil im Bündnis mit den machtpolitisch stärksten Akteuren sucht, um dem sozialen Krieg ihrer Gesellschaft dennoch nicht zu entkommen.

15. August 2013