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HEGEMONIE/1778: Transatlantischer Schulterschluß nicht trotz, sondern wegen NSA-Spähaffäre (SB)




Als der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die NSA-Spähaffäre im August 2013 für beendet erklärte, wußte er noch nicht, daß das Handy seiner Chefin von nämlichem US-Dienst abgehört wurde. Das empörte ihn im Oktober 2013, als die Ausforschung des Spitzenpersonals der Bundesregierung durch die NSA bekannt wurde, ebenso wie Angela Merkel. Sie erweckt bis heute den Eindruck, nie über diesen "Vertrauensbruch" hinweggekommen zu sein. Dazu hätten auch viele Menschen Anlaß, die unter Beteiligung deutscher Dienste ausspioniert wurden. Pofalla hatte kurz nach Beginn der Spähaffäre in seiner Eigenschaft als Geheimdienstkoordinator behauptet, lediglich zwei Datensätze mit vertraulichen Informationen über Bundesbürger seien von deutschen Geheimdiensten an deren US-Kollegen weitergegeben worden. Auch das erwies sich als irreführend, waren es doch, wie sich später herausstellte, einige hundert mehr.

Vertrauen in wen auch immer zu setzen, macht mithin weder für die Kanzlerin noch die Bevölkerung Sinn. Staaten haben Interessen, und wenn diese auf unvereinbare Weise aneinandergeraten, dann wird auch in sogenannten Friedenszeiten der Beweis angetreten, wer in letzter Instanz das Sagen hat. Die derzeit in Politik und Medien anläßlich des Besuchs der Kanzlerin in Washington kolportierte Sprachregelung, die Spähaffäre spiele bestenfalls eine Nebenrolle in den Gesprächen mit US-Präsident Barack Obama, weil der Konflikt mit Rußland um die Ukraine das Feld der deutsch-amerikanischen Beziehungen beherrsche, unterstreicht den Primat der Staatsräson nicht minder als der Versuch Merkels, einen Auftritt Edward Snowdens vor dem NSA-Untersuchungsausschuß zu verhindern.

Die Bundesregierung verweigert dem Whistleblower aus "Staatsruhegründen" die Einreise. Um Ruhe an der inneren Front zu schaffen, hat sie bei einer US-Anwaltskanzlei ein Gutachten erstellen lassen, aus dem hervorgeht, daß eine parlamentarische Befragung Snowdens nach US-Recht den Tatbestand einer "kriminellen Verabredung" erfüllen könnte. Wer sich dieser - im Klartext "Verschwörung" genannten - Tat schuldig mache, könne bei der Einreise in die USA verhaftet werden, so die an die Adresse des Untersuchungsausschusses gerichtete Quintessenz der anwaltlichen Beratung Merkels. Daß die Sachwalter demokratischen Aufklärungsinteresses in Guantanamo landeten, ist wohl eher unwahrscheinlich, doch mit einer solchen Drohung aufzuwarten, zeigt, daß der Krieg für Freiheit und Demokratie kein Hinterland kennt und in alle Richtungen geführt wird. Da die Kanzlerin seit der Konstituierung des NSA-Untersuchungsausschusses entschieden gegen die weitere Aufklärung der Spähaffäre vorgeht, steht mehr auf dem Spiel als die opportunistische Erwägung, einen Auftritt Snowdens zu verhindern, um die US-Regierung nicht zu brüskieren.

Bei aller Konkurrenz zwischen EU und USA auf wirtschaftlichem Gebiet soll die Schlagkraft beider Akteure nicht nur gegen Rußland, sondern auch die eigene Bevölkerung wirksamer gemacht werden. So führt der Eindruck, zwischen dem staatlichen Geheimdienstkomplex und der US-amerikanischen Privatwirtschaft herrsche grundsätzlicher Dissens in der Frage, ob elektronische Daten für Zwecke verwendet werden sollten, die nicht im Interesse der Personen liegen, über die sie erhoben werden, in die Irre. Zum einen sind zahlreiche Unternehmen an den geheimdienstlichen Aktivitäten der US-Regierung mit technischen und operativen Dienstleistungen beteiligt. Rund fünf Millionen US-Bürger verfügen über eine Sicherheitsfreigabe, davon haben rund 1,4 Millionen Zugriff auf Informationen der höchsten Sicherheitsstufe [1]. Nach unterschiedlichen Schätzungen liegt die Zahl der mit höchster Sicherheitsfreigabe betrauten Angestellten der Privatwirtschaft zwischen 400.000 und einer Million.

Zum andern basiert das Geschäftsmodell der großen IT-Konzerne darauf, ihre Dienstleistungen im Tausch gegen personenspezifische Nutzerdaten bereitzustellen. Staat wie Wirtschaft haben ein profundes Interesse daran, den Quell dieses Rohstoffs des kognitiven Kapitalismus nicht versiegen zu lassen. Dies umso mehr, als es dabei nicht nur um das Plazieren individualisierter Werbung, um hocheffiziente Marktforschung oder die Überprüfung der Kreditwürdigkeit einzelner Personen geht. Das zentrale Innovationsmoment der digitalisierten Gesellschaft besteht in der kosteneffizienten Rationalisierung ihrer Produktivität durch eine Form der Sozialkontrolle, die die Zurichtung der Arbeitskraft auf maximale Verfügbarkeit ebenso ins informationstechnische Werk setzt wie die panoptische Überwachung für Erwerbsarbeit überflüssig gemachter Menschen.

Man könnte auch sagen, der Schulterschluß zwischen Berlin und Washington erfolgt nicht trotz der NSA-Spähaffäre, sondern gerade wegen der damit demonstrierten Fähigkeit, in staatlichem Auftrag überall auf der Welt Regierungen abzuhören und zu stürzen, Menschen zu verschleppen oder zu ermorden. Der durch derartige Praktiken in Frage gestellte Nomos der Rechtsstaatlichkeit und des Völkerrechts transformiert sich zur Anomie eines unmittelbaren Gewaltverhältnisses, dem der einzelne Mensch aufgrund der technologischen und sozialstrategischen Qualifizierung staatlicher wie unternehmerischer Verfügungsgewalt möglicherweise noch ohnmächtiger ausgeliefert sein wird, als es unter absoluten Monarchien und feudalistischen Lehnsherren der Fall war. Taten sich in voraufklärerischer Zeit noch Lücken und Brüche im System der Herrschaft auf, die Widerstand oder Flucht möglich machten, so droht die Totalisierung der wissenschaftlichen Normierung, technologischen Konditionierung und administrativen Kontrolle der Marktsubjekte im globalisierten Kapitalismus letzte Auswege aus der unhintergehbaren Bemessung ihrer Produktivität und damit ihres Lebensrechts zu verschließen.

So wird auch die Durchsetzung des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) nicht trotz der NSA-Spähaffäre, sondern gerade wegen der dadurch repräsentierten Leistungsfähigkeit des Kapitalismus bei Mangelverwaltung und Produktivitätssteigerung nach Kräften vorangetrieben. Die Beseitigung tarifärer wie nichttarifärer Handelshemmnisse steht unter dem Primat eines Investitionsschutzes, dessen Durchsetzung auch gegen die legislative Kraft des staatlichen Gemeinwesens erfolgt und so den Zustand der Anomie, in die öffentliche und zivilgesellschaftliche Institutionen gegenüber der Handlungsmacht der Gläubiger geraten, vertieft. Den Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung der öffentlichen Daseinsvorsorge und des ökologischen Ressourcenschutzes als Verhandlungsmasse in den Interessenabgleich mit transnationalen Konzernen und Investoren einzubringen, drückt wenn nicht die Schwäche der dafür zuständigen Regierungen, dann deren Kollaboration mit diesen Akteuren aus.

Von daher richtet sich das Argument, nun müsse die Bundesrepublik an der Seite der USA eine ernstzunehmende Front gegen Rußland aufmachen, weshalb menschen-, bürger- und völkerrechtliche Probleme in den transatlantischen Beziehungen nachrangig seien, nicht nur gegen die russische Staatsräson und das sie personifizierende Böse Putins. Diese Scharade dient auch der weiteren Verschiebung des Verhältnisses zwischen verfassungsrechtlicher Norm und exekutiver Ermächtigung zugunsten der Unhinterfragbarkeit staatlicher Verfügungsgewalt wie kapitalistischer Geschäftsordnung. Der vermeintliche Sachzwang, Rußland Einhalt zu gebieten, stiftet neuen Frieden in den Palästen. Die hegemonialen und geostrategischen Triebkräfte der Eskalation zwischen NATO und Rußland heben alle herrschaftstechnisch wichtigen Projekte auf die Ebene höherer, vor demokratischer Intervention weitgehend geschützter Entscheidungsgewalt. Im Ausnahmezustand kommt der Souverän zu sich selbst, und es ist nicht die Bevölkerung, die damit gemeint ist. Deren Trugschluß liegt darin, beim Krieg gegen die Hütten zu glauben, daß es stets die anderen sind, die dabei umkommen.


Fußnoten:

[1] http://www.vanityfair.com/politics/2014/05/edward-snowden-politics-interview

Zur NSA-Spähaffäre und ihren politischen wie sozialen Konsequenzen siehe auch:

REPRESSION/1491: Informationelle Selbstbestimmung wird nicht mehr reichen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1491.html

REPRESSION/1493: Die Geheimexekutive als institutionalisierter Ausnahmezustand (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1493.html

REPRESSION/1495: Trennscharf entufert - die panoptische Klassengesellschaft (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1495.html

REPRESSION/1508: Dystopie Überwachungsstaat - Die Zukunft der Mangelverwaltung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1508.html

HEGEMONIE/1768: Curriculum der Ohnmacht - Überwachung im kognitiven Kapitalismus (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1768.html

2. April 2014