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HEGEMONIE/1783: Feindbild Rußland - Auf der Kommandohöhe moralischer Suprematie (SB)




Danach gefragt, was die Debatte um Wirtschaftssanktionen gegen Rußland bei ihm auslöse, antwortete Egon Bahr im Deutschlandfunk kurz und knapp: "Angst." [1] "Dummheit oder Kurzsichtigkeit" sind für den Veteranen der deutschen Ostpolitik im Spiel, wenn Ideologie vor den Interessen rangiert, die Staaten in ihren Beziehungen verfolgen, wenn Rußland vorgeschrieben werden soll, daß es eine Demokratie "nach unserer Machart und unserem Verständnis sein" soll. Was der SPD-Politiker anspricht, ist ein Werteuniversalismus, der in sich kaum gebrochener sei könnte, als daß er nach außen nicht mit der Aggressivität absolutistischer Letztgültigkeit durchgesetzt werden muß.

22 Senatoren des US-Kongresses haben die Gesetzesvorlage S.2277 "To prevent further Russian aggression toward Ukraine and other sovereign states in Europe and Eurasia, and for other purposes" eingebracht, obwohl der mutmaßliche Abschuß des malaysischen Passagierflugzeuges keinesfalls aufgeklärt ist und der russische Präsident Wladimir Putin dem Wunsch der Aufständischen in der Ostukraine nach Anschluß an die Russische Föderation nicht stattgegeben hat. So hat Putin die Duma gebeten, die ihm dort gegebene Ermächtigung, in diesen Konflikt mit militärischen Mitteln einzugreifen, zurückzuziehen, was das russische Abgeordnetenhaus getan hat. Während die Kiewer Regierung die eigene Bevölkerung im Donbass mit schweren Waffen dezimiert, agiert der Kreml defensiv und diplomatisch. Und was die auch in deutschen Medien breit kolportierte angebliche Mißachtung der Toten des Fluges MH17 durch die Rebellen betrifft, so handelt es sich durch die Bank um unbelegte Propaganda [2].

Das Aufbauschen dieses tragischen Absturzes, für dessen Urheberschaft diverse, auch die Regierung der Ukraine einbeziehende Theorien kursieren, zu einer Initialzündung für schärfste Maßnahmen gegen Rußland ist bar jeder Verhältnismäßigkeit. Als die US Navy 1988 einen iranischen Airbus über dem Persischen Golf abschoß und fast die gleiche Zahl an Todesopfern verschuldete, erhielt der zuständige Offizier eine militärische Auszeichnung. Der Vorfall wurde international nicht weiter untersucht, die US-Regierung wurde nicht sanktioniert, und sie entschuldigte sich auch nicht bei den Angehörigen der iranischen Opfer. Im Falle Rußlands, dessen unmittelbare oder mittelbare Verantwortung für den Tod der Insassen des Fluges MH17 vielfach unterstellt wird, greift hingegen die seit dem Aufstand des Euromaidans und dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch immer heißer laufende Feindbildproduktion. Als habe man nur auf ein derartiges Ereignis gewartet, sollen nun Nägel mit Köpfen gemacht werden, wie die zur Verabschiedung vorlegende Ermächtigung des US-Senats zum Ergreifen drastischer, bis an eine militärische Konfrontation reichender Maßnahmen gegen Rußland belegt.

Da die konkreten, auf die Person Putins geeichten Vorwürfe dazu allein nicht ausreichen, bedient man sich der bewährten Dichotomie zwischen dem angeblichen Diktator im Kreml und den Freiheit und Demokratie verkörpernden USA. Der US-Senat, der einen Querschnitt der reichsten, mindestens über mehrere Millionen Dollar an Vermögen verfügenden Elite des Landes darstellt, repräsentiert ein politisches System, das 50.000 Strafgefangene zum Teil jahrzehntelang in Isolationshaft hält, das sogenannten Terrorverdächtigen die Chance vorenthält, ihre Unschuld und damit Entlassung aus jahrelanger Administrativhaft vor Gericht zu erwirken, das sich 40 Millionen mangelernährte Menschen in der eigenen Bevölkerung leistet, das Menschen in aller Welt ausspioniert, völkerrechtswidrige Kriege gegen andere Staaten führt und Anschläge auf Menschen in aller Welt aus heiterem Himmel verübt.

Daß dies und vieles mehr, was den Anspruch auf eine demokratische, egalitäre und freiheitliche Gesellschaftsordnung überzeugend widerlegt, die Regierung in Washington dazu qualifiziert, im Sinne des auch von Präsident Barack Obama vertretenen "American Exceptionalism" die Belange von Menschen in aller Welt im eigenen Interesse zu bestimmen, ist kein Widerspruch, sondern die konsequent weitergedachte Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols nach außen. Das Vorbild einer Staatsmacht, der die exekutive Ermächtigung zur Gewaltanwendung quasi als Blankoscheck vorliegt, scheint auch bei der Bundesregierung auf fruchtbaren Boden zu fallen. Obwohl die objektiven Nachteile eines Wirtschafts- und vielleicht sogar militärischen Krieges mit Rußland ganz auf Seiten der EU liegen, dreht sie an der Eskalationsschraube, ohne über belastbare Beweise für die vermeintlich aggressive Politik des Kreml zu verfügen.

Mit einer moralischen Suprematie, deren ethischer Anspruch ohne die politische und ökonomische Macht des deutschen Imperialismus wie ein Kartenhaus zusammenstürzte, setzt sie sich darüber hinweg, daß der Verbündete in Kiew einen Teil der ukrainischen Bevölkerung als Terroristen stigmatisiert und umbringt, daß neofaschistische Abgeordnete im Kiewer Parlament einen kommunistischen Abgeordneten verprügeln und die Kommunistische Partei der Ukraine trotz gültigen Mandats verboten werden soll. Während die Bundesregierung die Oligarchie der Ukraine als Sachwalter eigener Hegemonialpolitik hofiert, fordert Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, insbesondere die russischen Oligarchen mit Sanktionen zu belegen, um damit die Machtbasis des Kreml zu unterminieren. Er tut dies wohlwissend, daß es Putin war, der den Primat der Politik gegen die Oligarchen durchsetzte und damit die Position des russischen Staates als souveräner Akteur stärkte. Sich mit dem russischen Kapital gegen Putin zu verbünden, könnte mithin ein wirksames Konzept sein, um auch dieses große Land in einen Abgrund aus menschlicher Not und permanentem Bürgerkrieg zu stürzen.

Auch Gabriel setzt auf die Wirkkraft der moralischen Suprematie, wenn er angesichts der absehbar negativen Wirkung gegen Rußland gerichteter Sanktionen auf die Wirtschaft in der EU barmt: "Aber (...) welche Folgen hätte es, wenn Europa aus Angst vor wirtschaftlichen Einbußen dem Bürgerkrieg und dem Tod von Unschuldigen tatenlos zusehen würde?" [3]. Selbstverständlich weiß der SPD-Politiker, daß in Gaza Menschen wie in einem Käfig schutzlos israelischen Bomben und Granaten ausgesetzt sind, daß im Irak und in Libyen seit den dort durch diverse NATO-Staaten vollzogenen Regimewechseln permanenter Bürgerkrieg herrscht, daß die Militärregierung in Ägypten die politische Opposition blutig unterdrückt. Die Liste ließe sich verlängern, doch untermauerte das nur die in Berlin längst etablierte Praxis, derartige Inkonsistenzen der eigenen wertegestützten Außenpolitik nicht zum Anlaß des Innehaltens und der Besinnung auf menschenfreundlichere Praktiken zu nehmen. Das eine zu tun und das andere zu sagen, sprich sich sogenannter doppelter Standards im operativen Politikmanagement offensiv zu bedienen und damit zu demonstrieren, was man sich aus einer Position der Stärke heraus alles leisten kann, ist Ausdruck und Merkmal des Machiavellismus, der in die Berliner Republik immer unverhohlener Einzug hält.

"Stoppt Putin jetzt!" Wer bezahlt das sogenannte Nachrichtenmagazin Der Spiegel eigentlich dafür, mit solchen Titelseiten Stimmung für eine Konfrontation zu machen, die Europa 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs in eine weitere Katastrophe führen könnte? Die Frage ist natürlich rein rhetorischer Art, denn so viel weiß man über den Zusammenhang von kapitalistischer Krisenpolitik und Kriegsgefahr, um den Standort der Verlagskonzerne im globalen Klassenkampf eindeutig auszumachen. Egon Bahr hat schon recht, Angst zu empfinden angesichts dieser Folge der von ihm mitorchestrierten Entspannungspolitik. Daß diese der Möglichkeit, die Oktoberrevolution vielleicht doch noch in eine menschenfreundliche Zukunft münden zu lassen, den Rest gab, erweist sich im nachhinein als um so tragischer.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/eu-sanktionen-davon-wird-putin-nicht-zittern.694.de.html?dram:article_id=292770

[2] Russia Bashing: Hatred, Hysteria and Humbug - by Brian Cloughley
http://www.counterpunch.org/2014/07/25/russia-bashing-hatred-hysteria-and-humbug/

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-krise-steinmeier-gabriel-ueber-sanktionen-gegen-russland-a-983005.html

27. Juli 2014