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HEGEMONIE/1812: Zur Pathologie der deutsch-türkischen Beziehungen (SB)



Die dramatische Verknappung der Überlebensmöglichkeiten weltweit, nur unzureichend beschrieben unter inflationärer Anwendung des Krisenbegriffs auf mannigfaltigste Verwerfungen, nimmt die Züge eines Katastrophenszenarios ohne Aussicht auf Besserung an. Was man für trittsicheren Grund erachtete, schwankt unter Rissen und Brüchen. Vermeintlich festgefügte Strukturen taumeln auf tönernen Füßen. Für ehern erklärte Bündnisse brechen. Die nie überwundene Barbarei bricht allenthalben hervor. Wer irgend kann, rüstet auf, so auch die Bundesrepublik, deren Kriegsetat binnen weniger Jahre nahezu verdoppelt werden soll. In die kühle strategische Ratio machiavellistischer Ambitionen mischt sich in zunehmendem Maße der panikgetriebene Drang, sich in der eskalierenden Abfolge unablässiger zivil wie militärisch ausgetragener Kriege die bestmögliche Ausgangsposition für die nächstgrößeren Schlachten zu sichern.

In diesem Umfeld forcierter Brachialgewalt reißt das aufgeheizte deutsch-türkische Verhältnis in immer kürzerer Taktfolge des Schlagabtausches versiegelt geglaubte Pforten zu stets präsenten Abgründen auf. Wenn Recep Tayyip Erdogan im Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland der Bundeskanzlerin "Nazi-Methoden" vorwirft und Europa bezichtigt, dort könnten "Gaskammern und Sammellager" wieder zum Thema gemacht werden, aber "das trauen sie sich nur nicht", droht diese kaum noch steigerbare Bezichtigung die Brücke zu einer Deeskalation hinter sich zu verbrennen. Wenngleich Erdogans Machtergreifung von einem hochentwickelten taktischen und strategischen Kalkül, gepaart mit dem Instinkt der Straße, zeugt, nimmt seine irrlichternde Unberechenbarkeit doch zugleich pathologische Züge an. Um jeden Preis Stärke zu zeigen, als sei dies die einzige Sprache, die Freund und Feind in diesem Konflikt verstehen, tendiert in seinem Fall offensichtlich dazu, selbst die Ratio einschätzbarer eigener Vorteilsnahme zugunsten apokalyptischen Größenwahns zurückzulassen.

Man könnte natürlich einwenden, daß auch Schaum vor dem Mund und Wahnwitz im Blick letzten Endes ein gezielt eingesetztes Mittel seien, die Gegner einzuschüchtern und die eigene Anhängerschaft in Raserei zu versetzen. Das unterstellte freilich ein Ausmaß an Selbstkontrolle und folglich auch Kontrollierbarkeit, das die Gefahr noch dramatischerer Folgeschritte, die ihre eigene Dynamik des Verhängnisses entwickeln, sträflich unterschätzt. Erdogan hat kurdische Städte in Schutt und Asche legen lassen, greift Rojava mit den Streitkräften an und verfolgt den fanatischen Plan, die Kurdinnen und Kurden physisch zu vernichten, restlos zu unterwerfen und ihre Kultur auszulöschen. Mit massenhaften Entlassungen und Verhaftungen unterdrückt er die Opposition im eigenen Land, das Präsidialsystem soll ihm die Alleinherrschaft auf Lebenszeit sichern. Welche Versöhnung, Versachlichung, Normalisierung sollte da noch möglich sein - es sei denn am Tisch europäischer Eliten, den die EU der Türkei jedoch systematisch verweigert.

Die zutiefst reaktionäre Mischung aus Nationalismus, Islamismus und einem zunehmend diktatorisch geprägten Gesellschaftsentwurf schlägt jegliches emanzipatorisches Potential aus dem Feld. Wenngleich das Regime die Kapitalfraktionen des Landes umgepflügt hat, rührt es doch nicht am Besitzstand als solchem, an der profitgetriebenen Wirtschaftsweise und der staatlichen Verfügungsgewalt. So gesehen gibt es aus Perspektive deutscher und europäischer Interessen an und für sich tragfähige Gründe, mit dem NATO-Mitglied und Handelspartner zusammenzuarbeiten, was auch auf diversen Kanälen und Feldern weiterhin geschieht. Daß sich das Erdogan-Regime etablieren konnte und es zum aktuellen Zerwürfnis kam, läßt sich in seiner Genese nicht zuletzt auf das blockierte Bestreben türkischer Regierungspolitik zurückführen, auf gleicher Augenhöhe in die EU aufgenommen zu werden.

Der grüne Außenminister Joseph Fischer machte sich noch für eine Vollmitgliedschaft der Türkei stark. In seinem Drang, sich den Interessen Washingtons anzudienen und es als Pudel Madeleine Albrights zum gesamteuropäischen Staatsmann zu bringen, beförderte er die Pläne der USA, das deutsche Übergewicht in Europa einzuhegen. Nachdem die größten europäischen Nationalstaaten durch die Kopplung des Stimmengewichts an die Bevölkerungszahl ihren Einfluß in den maßgeblichen Gremien der EU erheblich ausgebaut hatten, sollte die Türkei der deutschen Übermacht und der aus dieser Führungsposition resultierenden Stärkung der eigenständigen Potentiale Europas als globaler Konkurrent Einhalt gebieten.

Das wußte Angela Merkel zu verhindern, unter deren Führung der Türkei lediglich eine privilegierte Partnerschaft und damit ein Platz am Katzentisch in Aussicht gestellt wurde. Wenngleich die Beitrittsverhandlungen fortgesetzt wurden und Ankara die damit verbundenen EU-Gelder gern in Anspruch nahm, war die Verweigerung der Vollmitgliedschaft doch ein Schlag ins Gesicht türkischer Hoffnungen auf eine Integration in Europa. Die antiislamische Feindbildproduktion, der Vorwurf einer türkischen Parallelgesellschaft in Deutschland, das rassistisch und kulturalistisch befeuerte Mißtrauen gegenüber der als rückständig und integrationsunwillig bezichtigten Menschen türkischer Herkunft verschärften die Zurückweisung und Ausgrenzung, die den Nährboden türkischer Selbstbehauptung unter der Führerschaft Erdogans bereitete.

Wie Erdogan jüngst erklärte, sei ein "Ja" beim Referendum das beste Mittel gegen das "faschistische Europa". Deutschland, die Niederlande und weitere europäische Staaten seien "rassistisch, faschistisch und grausam". Die türkischen Wähler müßten daher bei der Volksabstimmung eine Antwort geben, die "die ganze Welt hören kann". Europa sei nicht nur islamfeindlich, sondern auch gegen die Türkei gerichtet. Die europäischen Länder hätten ihr "wahres Gesicht" gezeigt. Als er die versammelte Menge seiner Anhänger fragte, ob sie für "eine einzige Nation, eine einzige Flagge, ein einziges Vaterland und einen einzigen Staat" seien, antworteten sie mit einem donnernden "Ja". [1]

Hatten Umfragen bislang gezeigt, daß eine knappe Mehrheit von 52 Prozent der Wählerschaft gegen Erdogans Referendum stimmen wollten, droht dieser geringe Vorsprung nun verlorenzugehen. In europäischen Ländern leben rund fünf Millionen Türkinnen und Türken, darunter allein in Deutschland 1,4 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsbürger. Diese Wähler könnten für den Ausgang der Volksabstimmung entscheidend sein. Obgleich Erdogan und die AKP im eigenen Land dasselbe gewaltsam exekutieren, was sie den europäischen Regierungen vorwerfen, setzen sie alles daran, eine Gegnerschaft zur Verfassungsänderung mit den Auftrittsverboten ihrer Parteigänger in Europa gleichzusetzen.

Dieses Kalkül droht in erheblichen Maße aufzugehen. Die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) als Bündnispartner der AKP tritt nun geschlossen für ein "Ja" beim Verfassungsreferendum ein. Doch auch die Republikanische Volkspartei (CHP), die bislang für ein "Nein" beim Referendum plädierte, paßt sich der nationalistischen Rhetorik der AKP an. So behauptete ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu, die europäischen Verbote hätten nichts mit dem Referendum zu tun: "Das ist eine nationale Frage. Es ist die Pflicht jeder politischen Partei, egal ob rechts oder links, die Rechte der Türkei zu verteidigen. Wir sind bereit, unsere Pflicht zu erfüllen." [2]

Die USA und teils auch europäische Mächte haben schon vier erfolgreiche Militärputsche in der Türkei unterstützt: 1960, 1971, 1980 und 1997. Das Scheitern des Putschversuchs vom 15. Juli 2016, dessen Urheberschaft nicht zweifelsfrei geklärt ist, spielte Erdogan jedenfalls in die Hände. Wenn er sich nun in die Brust wirft, er werde solchen Übergriffen ein für allemal ein Ende setzen und die allseits bedrängte und diffamierte Türkei zu einer starken und stolzen Nation erheben, rührt dieser zutiefst reaktionäre Pathos doch an einer nur allzu realen Gemengelage der Abhängigkeit von fremden Interessen, die der Machthaber zu seinen Gunsten auslegt und instrumentalisiert. Sollte Recep Tayyip Erdogan beim Referendum am 16. April die Oberhand behalten und das Land in eine Präsidialdiktatur verwandeln, könnte man durchaus von einem Schulterschluß finsterster Interessen in der Türkei und in Europa sprechen, auch wenn diese vordergründig zu jeweils eigenen Zwecken gegeneinander ausgespielt werden.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-regierungspartei-akp-sagt-alle-ministerauftritte-in-deutschland-ab-a-1139758.html

[2] https://www.wsws.org/de/articles/2017/03/15/turk-m15.html

22. März 2017


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