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HEGEMONIE/1821: Europa - auf geht's ... (SB)



Für die deutsche Politik und Wirtschaft ist es höchste Zeit, den Ernst der Lage zu begreifen: Donald Trump ist nur ein Symptom grundlegender sozioökonomischer und politischer Verwerfungen der USA, die sich auch nach seiner Amtszeit auf Europa und die Welt auswirken werden.
Josef Braml von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik [1]

Als Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 imperialistischen Klartext redete, schien die Welt aus Perspektive deutschen Hegemonialstrebens in Europa und weit darüber hinaus noch in Ordnung zu sein: "Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen." Es sei schlicht "zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren". Wie im Strategiepapier "Neue Macht. Neue Verantwortung" (2013) und im "Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr" (2016) dezidiert nachzulesen ist, sollen deutsche Interessen Zug um Zug die Lücken in Afrika wie auch im Nahen und Mittleren Osten schließen, die der tendenzielle Rückzug der USA hinterläßt, die sich im pazifischen Raum auf die Einkesselung Chinas konzentrieren.

Der "Finanzplan des Bundes 2016 bis 2020" nahm ausdrücklich auf die im Weißbuch "identifizierten sicherheitspolitischen Werte, Interessen und Prioritäten der Bundesrepublik Deutschland" bezug, die "den strategischen Rahmen für Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr als Instrument deutscher Sicherheitspolitik" bilden. Deutschland müsse "einen aktiven Beitrag zu politischen Konfliktlösungen" leisten, "der dem politischen Gestaltungsanspruch und dem Gewicht Deutschlands in der Welt angemessen ist". Um diesen Ambitionen deutscher Führung zur Durchsetzung zu verhelfen, wurde die Nutzung militärischer Instrumente explizit in die Handlungsoptionen eingeschlossen.

Der angestrebte Aufstieg zum neuen Hegemon im europäischen Umfeld, der unvermeidlich auf eine Konfrontation mit Rußland hinausläuft, erwies sich für hiesige Herrschaftsinteressen zwangsläufig als ein höchst komplexer und schwer auszusteuernder Vorgang. Zum einen sollte die Wachablösung möglichst einvernehmlich und nahtlos vorangetrieben werden, zum anderen sorgten partielle, aber an Schärfe zunehmende Interessenkonflikte mit Washington für Unwuchten, die das ambitionierte Berliner Vorhaben schlingern ließen und aus der Bahn zu werfen drohten. Die Bundesrepublik glich einem Juniorpartner der USA, der jedoch eigenständige Absichten verfolgt und aus dem Windschatten heraustritt. Weder durfte die US-Politik in dieser kritischen Phase des Übergangs unvermittelt umsteuern, noch die deutsche Expansion mit Widerständen konfrontiert werden, die ihre aktuellen Potentiale überforderte.

Schon US-Präsident Barack Obama hatte bei der deutschen Kanzlerin höhere Ausgaben im Rahmen der NATO angemahnt, da nur wenige europäische Länder die Vereinbarung erfüllen, zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für die Rüstung aufzuwenden. Als man mit dem Wahlsieg Hillary Clintons rechnete, standen deren dezidierte Forderungen im Raum, die Europäer müßten erheblich zulegen, um ihren Bündnisverpflichtungen gerecht zu werden. Nachdem Donald Trump überraschend das Rennen gemacht hatte, wurde dies um so mehr als Begründung für vermehrte europäische Anstrengungen zitiert. Zu diesem Zeitpunkt gaben die USA mit ungerechnet 600 Milliarden Euro dreimal so viel wie alle Länder der Europäischen Union zusammen für militärische Zwecke aus. Weil die USA ihre waffengestützte Vorherrschaft keinesfalls preisgeben wollen, aber längst die Überstreckung in Folge der immens kostspieligen Kriegsführung und Militärpräsenz in aller Welt spüren, nehmen sie ihre Verbündeten in die Pflicht, sich stärker zu beteiligen. Diese Forderung war Wasser auf die Mühlen der EU-Kommission und der Bundesregierung, die seit langem den Ausbau eigener militärischer Kapazitäten planen und dafür die Wünsche Washingtons instrumentalisieren.

Die Einbettung in die transatlantische Partnerschaft und das westliche Bündnis, seit Gründung der Bundesrepublik deren Schild und Schwert im Zuge wirtschaftlicher, politischer und militärischer Expansion, geriet aus den Fugen, als Trump und Konsorten jede Verantwortung für die globale Katastrophe und deren Bewältigung aufkündigten. Damit geben sie den ideologischen Führungsanspruch preis, der stets das Markenzeichen US-amerikanischer Hegemonie gewesen war, welche die Welt angeblich zu einem besseren Ort machen wollte. Indem die USA unter dieser Regierung selbst die Illusion entsorgen, sie hätten der Menschheit eine Vision zu bieten, beschleunigen sie ihren eigenen Niedergang, was sie freilich auf absehbare Zeit um so gefährlicher macht.

Die dem Machiavellismus der politischen Konkurrenz abholde Vorschlaghammermentalität der regierenden Administration in Washington entledigt sich auch jener Instrumente, die ihre Vorgängerinnen als Pforten der Einflußnahme zu nutzen pflegten. Bündnisse, internationale Übereinkünfte und sogar die Vereinten Nationen werden zur Makulatur erklärt, sofern sie nicht zuvorderst US-amerikanische Interessen bedienen, so wie die Trumps sie verstehen. Die sogenannte Weltgemeinschaft hat selbst als ideologisches Konstrukt ausgedient, womit freilich keine emanzipatorische Aufklärung, sondern im Gegenteil die ausschließlich exekutierte Gewalt des Stärkeren bar jeder Restbestände potentieller Vermittlung oder Zügelung aufgrund sich gegenseitig überschneidender Vorteils- und Überlebenserwägungen verbunden ist: America first!

"Deutschland, Deutschland über alles ..." kann jedoch nicht die naheliegende Replik hiesiger Eliten sein, und dies nicht nur, weil die erste Zeile der Nationalhymne aus naheliegenden Gründen wenig zitierfähig ist, wenn man einmal von der aufstrebenden Rechten absieht. Deutschland ist trotz aller diesbezüglichen Anstrengungen noch längst nicht in der Lage, das ambitionierte Vorhaben allein zu schultern, das ohnehin stets im Kontext einer Führerschaft im europäischen Verbund konzipiert worden war. Was Washington auf Grundlage seiner überlegenen Waffengewalt für sich allein reklamieren kann, gilt für die führenden Mächte Europas nicht gleichermaßen, auch wenn die allenthalben aufblühenden nationalistischen und rassistischen Fraktionen das ihrerseits fordern.

Da Deutschland im Falle eines Krieges in Mitteleuropa das allererste Schlachtfeld oder ein Bündnis zwischen Washington und Moskau eine andere Variante hiesiger Alpträume wäre, stehen die Zeichen auf Sturm. Trumps Handels- und Sanktionspolitik droht deutsche Interessen derart zu schwächen, daß man seine Amtszeit nicht einfach aussitzen kann, ohne schweren Schaden zu nehmen. Zugleich sind sich die maßgeblichen Akteure bewußt, daß der Trennungsprozeß von den USA schon vor Trump begonnen hat und nach ihm kaum enden wird. Die vielzitierte Neuordnung oder auch Chaotisierung der internationalen Beziehungen ist nicht mehr rückgängig zu machen, und wer sich nicht schleunigst in der Gemengelage eine günstige Position verschafft, bleibt auf der Strecke. Diese Konstellation erzwingt geradezu den Spagat, sich gleichzeitig zur Partnerschaft mit den USA zu bekennen und sie aufzulösen.

An dieser Stelle kommt Außenminister Heiko Maas ins Spiel, der die lange schon gärenden Erwägungen, auf welche Weise sich Deutschland innerhalb der EU von den USA emanzipieren könnte, in einen strategischen Entwurf faßt, mehr Verantwortung in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu übernehmen. Er stellt die transatlantische Partnerschaft nicht grundsätzlich in Frage, argumentiert aber, es gelte sie "neu zu vermessen". In einer "balancierten Partnerschaft" sollen die Europäer einen "ausgewogenen Teil der Verantwortung übernehmen". Bei seiner Definition bedient sich Maas einer heiklen Wortwahl, wenn er davon spricht, ein Gegengewicht zu bilden, "wo die USA rote Linien überschreiten". Den Begriff "rote Linien" hatte Barack Obama im Jahre 2012 mit Blick auf den möglichen Einsatz chemischer Waffen durch den syrischen Machthaber Baschar al-Assad, also im Kontext einer feindlichen Auseinandersetzung, verwendet.

Auf die Neuorientierung der USA zu reagieren sei nötig, ob mit oder ohne Trump: "Daran wird sich, abseits der Frage, ob Trump wiedergewählt wird oder nicht, strukturell wenig verändern." Die Europäer sollten ihre Souveränität dort bündeln, "wo die Nationalstaaten nicht mehr annähernd die Kraft aufbringen, die ein einiges Europa entfaltet". Auch wenn man in der NATO oder im Kampf gegen Terrorismus die USA weiter brauche, gelte es, "den europäischen Pfeiler des Nordatlantischen Bündnisses zu stärken". Diesen Weg habe die Bundesregierung mit der "Kehrtwende bei den Verteidigungsausgaben" eingeschlagen. Schritt für Schritt gehe es nun darum, "eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion aufzubauen".

Zugleich wirbt Maas für eine "Allianz der Multilateralisten", die er schon im Juni während seiner Reise nach Japan und Südkorea ins Gespräch gebracht hatte. Sie solle ein "Zusammenschluss multilateraler Überzeugungstäter, die auf Kooperation und die Stärke des Rechts setzen", sein. So, wie Rußland, China und die Vereinigten Staaten teilweise im internationalen Raum agierten, "liegt es nahe, mit Staaten enger zusammenzuarbeiten, die denselben Wertekanon besitzen wie wir". [2]

Daneben müsse Europa "von den USA unabhängige Zahlungskanäle einrichten, einen Europäischen Währungsfonds schaffen und ein unabhängiges Swift-System aufbauen". Swift steht für die Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication und stellt sicher, daß Mitgliedsbanken rund um den Globus Geschäfte über ein einheitliches Telekommunikationsnetz abwickeln können. Dazu zählen beispielsweise grenzüberschreitende Überweisungen an ausländische Geldhäuser. Das Bundeswirtschafts- und das Finanzministerium führen derzeit auf europäischer Ebene Gespräche darüber, wie sich trotz der neuen US-Sanktionen die Finanzierungskanäle in den Iran offenhalten lassen. Dazu waren zuletzt mehrere Optionen in der Diskussion, unter anderem auch die Nutzung von Notenbanken. Aber auch über die Frage der Sanktionen hinaus gebe es Gespräche, wie sich von den USA unabhängigere Zahlungskanäle und ein unabhängiges Swift-System etablieren ließen. Es geht also um nichts weniger, als von den USA verhängte Sanktionen, die nicht im europäischen Interesse sind, künftig zu unterlaufen.

Wenngleich der Aufbau eines europäischen Swift-Klons teils als extrem kompliziertes Unterfangen ohne große Erfolgsaussichten eingeschätzt wurde [3], erfuhr Maas doch weithin Zuspruch, als habe er jenen Schritt getan, nach dem sich viele gesehnt hatten. Wie die Kanzlerin betonte, handele es sich um keinen gemeinsamen Vorschlag der Bundesregierung: "Das war kein abgestimmter Artikel, sondern eine Meinungsäußerung." [4] Merkel fügte jedoch hinzu, es sei "ein wichtiger Beitrag", der zum Ausdruck bringe, was sie selbst bereits mit anderen Worten gesagt habe. Sie erinnerte an ihre früheren Äußerungen, wonach sich die Beziehungen zu den USA veränderten und "Europa sein Schicksal ein Stück weit selbst in die Hand nehmen muss".

Zumal sich Maas und Merkel in den vergangenen Wochen mehrfach über das transatlantische Verhältnis ausgetauscht haben, steht zu vermuten, daß Außenminister und Kanzlerin jenseits parteipolitischer Rivalitäten und Kontroversen im Detail hier am selben Strang ziehen. Das Problem ist zu drängend und seine Tragweite zu gewaltig, als daß zentrale deutsche Machtpolitik es dem Zufall überließe, wie der angestrebte Befreiungsschlag geführt wird.


Fußnoten:

[1] www.handelsblatt.com/politik/international/reaktionen-auf-vorschlag-des-aussenministers-experten-und-teile-der-union-loben-maas-usa-strategie-merkel-reagiert-verhalten/22938206.html

[2] www.welt.de/politik/deutschland/article181261774/Heiko-Maas-Aussenminister-will-Emanzipation-Europas-von-den-USA.html

[3] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/maas-vorschlag-ein-europaeisches-zahlungssystem-ist-unrealistisch-1.4101407

[4] www.tagesschau.de/ausland/maas-usa-107.html

23. August 2018


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