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HERRSCHAFT/1489: Nichtereignis des Jahres - BRD vollendet EU-Integration (SB)



Mit der Ausfertigung der Ratifikationsurkunde des EU-Reformvertrags durch Bundespräsident Horst Köhler und ihrer Hinterlegung in Rom am Freitag hat die Bundesrepublik die europäische Integration abschließend vollzogen. Selten hat ein Vorgang von solchem Gewicht so geringe Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Schon die Verabschiedung der Begleitgesetze durch Bundestag und Bundesrat in der ersten Septemberhälfte sowie deren Unterzeichnung am Mittwoch durch den Bundespräsidenten waren bestenfalls Fußnoten im täglichen Nachrichtengeschäft. Auch wenn es sich in den Augen der Vertragsbefürworter lediglich um die formelle Absegnung eines längst beschlossenen Schrittes gehandelt haben mag, würde einem derartigen Rechtsakt unter normalen Umständen schon aufgrund seiner symbolpolitischen Verwertbarkeit erhebliche Bedeutung zugemessen.

Nicht so in diesem Fall. Zwei Tage vor der Bundestagswahl wurde ein für die Zukunft der Bundesrepublik überaus bedeutsamer Prozeß zuendegebracht, der von Anfang an gegen das Gros der Bevölkerung durchgesetzt werden mußte. Erwirkt werden soll die Überantwortung wesentlicher legislativer und exekutiver Kompetenzen an die EU, indem die rot-grüne wie die amtierende Bundesregierung es tunlichst unterließen, die Bürger in diese Entscheidung einzubeziehen. Das Ausbleiben eines Diskussionsprozesses, in dem die Bevölkerung die Gelegenheit gehabt hätte, sich über die Folgen dieses Schrittes klarzuwerden, ging mit der Abwehr der Forderung, sie mittels eines Referendums an ihm zu beteiligen, Hand in Hand.

Nachdem der Verfassungsvertrag an den Vetos der Franzosen und Niederländer 2005 gescheitert war, dauerte es zwei Jahre, bis das Integrationsprojekt unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wieder angeschoben wurde. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann sich als größte außenpolitische Leistung dieser Legislaturperiode, ja als historischen Verdienst zuguteschreiben, diesen Prozeß wieder gestartet und zumindest für die Bundesrepublik zum Abschluß geführt zu haben. Sie hat damit im Interesse der deutschen Eliten Großes vollbracht, mehrt die Reform der EU-Institutionen doch das Stimmengewicht der die Europäische Union ohnehin dominierenden BRD und legt sie auf eine marktwirtschaftliche Grundordnung fest, mit der das Gespenst des Kommunismus endgültig der Geschichte überantwortet werden soll.

Die Geräuschlosigkeit und Geschwindigkeit, mit der die Ausarbeitung, Verabschiedung und Ratifikation des Reformvertrags in den letzten zwei Jahren vollzogen wurde, belegt die hochgradige Effizienz, mit der Regierung und Parlament Projekte verwirklichen können, die in ihrem gemeinsamen Interesse liegen. Um der einzigen Volksabstimmung zum Reformvertrag in Irland am 2. Oktober auf jeden Fall zuvorzukommen, wurden Beratung und Verabschiedung der durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 erforderlich gewordenen Neuverhandlung der Begleitgesetze in wenig mehr als fünf Wochen über die parlamentarische Bühne gebracht. Erfreute sich dieser Vorgang noch einer gewissen öffentlichen Beachtung, so ging sein Abschluß in angeblich wichtigeren Dingen wie dem Wahlkampf, der UN-Generalversammlung und dem G-20-Treffen unter.

All dies geschah nicht zufällig, sondern ist Ausdruck des herrschaftsichernden Charakters des Reformvertrags. Es handelt sich, auch wenn man die Bezeichnung "Verfassungsvertrag" dieses Mal tunlichst fallen ließ, um ein fast alle Kriterien der Konstitution eines staatlichen Gemeinwesens aufweisendes Dokument, das im Unterschied zu früheren vertraglichen Integrationsschritten finalen Charakter hat. Da mit der fast vollständigen Übernahme des Inhalts des gescheiterten Verfassungsvertrags die damals vielfach kritisierten Kompetenzerweiterungen der EU-Institutionen Gültigkeit erlangen werden und der Europäische Rat künftig prozedurale Möglichkeiten besitzen wird, weitere Vollmachten auch ohne die Zustimmung der Parlamente der Mitgliedstaaten an sich zu reißen, wird mit dem kaum noch aufzuhaltenden Inkrafttreten des Reformvertrags die Debatte um die Gestalt der Union - Staatenbund oder Bundesstaat - zugunsten letzterem entschieden werden.

Auf wichtigen Politikfeldern werden schwerwiegende Demokratiedefizite wie die nichtvorhandene Beteiligung des EU-Parlaments an Entscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und sein nur eingeschränktes Gesetzgebungsrecht auf Dauer festgeschrieben. Die Position des Rates wird zu Lasten der demokratischen Partizipation der nationalen Parlamente erheblich gestärkt, obwohl er nicht direkt demokratisch legitimiert ist. Das gilt um so mehr für die Kommission, in der die administrativen Interessen der EU gebündelt sind. Mit der weiteren, im Reformvertrag verankerten Abkoppelung der Verfügungsgewalt über wichtige Entscheidungsprozesse von den Volksvertretungen der EU-Staaten verselbständigt sich die Integration im Sinne der gouvernementalen und bürokratischen Dynamik, die dem supranationalen Charakter der EU eigen ist.

Vor allem jedoch wird mit der inhaltlichen Festlegung der EU auf kapitalistische Marktprinzipien jede systemische Veränderung in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaft von vornherein ausgeschlossen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fällt grundsätzlich zugunsten der wirtschaftlichen Grundfreiheiten der EU aus, wie zahlreiche Urteile gezeigt haben, und versieht die marktliberale Ausrichtung des Reformvertrags mit der erforderlichen Rechtskraft. Selbst kleine Schritte zugunsten einer Stärkung nachfrageorientierter Wirtschaftskonzepte werden auf diese Weise blockiert, um von der Aushebelung demokratischer Ansprüche, die konträr zu Kapitalinteressen laufen, nicht zu sprechen.

Der Reformvertrag dient nicht nur dem integrationsfördernden Strukturwandel im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU-Institutionen, er legt die europäischen Bevölkerungen auf eine spezifische Gesellschaftsordnung fest und unterschreitet damit die im Grundgesetz theoretisch gegebene Möglichkeit, auf demokratischem Wege systemische Veränderungen zu erwirken. Dies ist in einer Zeit, in der die kapitalistische Verfaßtheit der Industriestaaten mehr denn je in Frage gestellt ist, von besonderer Bedeutung, wird mit dem Reformvertrag doch der Formierung einer antikapitalistischen Gegenbewegung der EU-Bevölkerungen ein Riegel vorgeschoben.

Im Nachhinein kann der Umweg über den gescheiterten Verfassungsvertrag als der direktester Weg zum Erfolg bezeichnet werden. Indem die in der Bundesrepublik aufgrund der nichtvorhandenen Abstimmungsmöglichkeit der Bürger ohnehin nur rudimentär geführte Debatte um das Vertragswerk bereits absolviert wurde, fiel das Interesse an seiner Neuauflage praktisch vollständig aus. Die Bevölkerung wurde nicht nur durch den Entzug ihrer Mitbestimmung und die daher müßige Beteiligung an der Erörterung des Für und Wider des Verfassungsvertrags immunisiert, sie wurde auch durch den abstrakten Charakters des gesamten konstitutiven Prozesses erfolgreich von dem Versuch abgeschreckt, auch nur Fragen zu stellen, die das Projekt ins Wanken hätten bringen können. Allein dieses Vorgehen demonstriert den dominanten Einfluß einer dezisionistischen Intelligenz, die den Anspruch auf Demokratie ausschließlich aus legitimatorischer Notwendigkeit auf den Lippen führt.

Wenn ein neokonservativer Populist wie der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers dem Bundesverfassungsgericht "überholtes Denken" vorwirft, weil es mit seinem Urteil zu den Begleitgesetzen angeblich "zu traditionell, zu sehr auf eine angebliche Einheit von Volk, Nation und Staat fixiert" sei, wird deutlich, wie elementar der Paradigmenwechsel ist, der mit dem von Rüttgers anvisierten Ziel der Bildung der "Vereinigten Staaten von Europa" (Das Parlament, 21./28. September 2009) einhergeht. Indem der CDU-Politiker das ihm parteigemäß zugeschriebene konservative Werteverständnis dementiert und die verfassungsrechtliche Kritik am Reformvertrag als nationalkonservativ stigmatisiert, diskreditiert er, auch wenn diese ideologische Linie durchaus Spuren im Urteil der Karlsruher Richter hinterlassen hat, alle demokratisch und sozial gesonnenen Kräfte, die gute Gründe dafür haben, sich nicht konstitutionell auf eine Europäische Union festschreiben zu lassen, die zu kapitalistischer Herrschaft und imperialistischer Weltordnung ermächtigt.

25. September 2009