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HERRSCHAFT/1507: Menschenrechtler für Stärkung von Frontex (SB)



An der Süd- und Ostgrenze der Europäischen Union kommen regelmäßig Flüchtlinge beim Versuch, illegal in die EU einzureisen, ums Leben. Andere werden schon auf afrikanischem Boden abgefangen und in Lager gesteckt oder in der Wüste ausgesetzt. Wiederum andere müssen kurz nach Verlassen der afrikanischen Küste mit ihrem Boot umkehren, da ihnen Mitarbeiter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Benzin und Wasser weggenommen haben, so daß eine Weiterfahrt absehbar in den Tod führen würde. Die Not all dieser Flüchtlinge ist inakzeptabel - so inakzeptabel wie die Lebensverhältnisse, die diese Menschen offensichtlich zur Flucht getrieben haben.

Wenn nun Menschenrechtsorganisationen eine Abhilfe der Not der Flüchtlinge fordern, dann ist das Anliegen nur zu verständlich. Wenn sie dabei jedoch eine Stärkung von Frontex verlangen, dann sprechen sie sich damit nicht nur für eine verbesserte Flüchtlingsabwehr aus, sondern vernachlässigen den Zusammenhang zwischen den Fluchtgründen vieler Menschen und dem armutsfördernden Maßnahmen der Europäischen Union. Diese versucht unter anderem, bilaterale Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) mit den 79 AKP-Staaten (davon 48 in Afrika) zu schließen, so daß deren Regierungen die Zollschranken aufheben, die Wirtschaft liberalisieren und umfangreiche Privatisierungen durchsetzen. Auf diese Weise werden den nicht industrialisierten Staaten wichtige Lenkungsinstrumente aus der Hand geschlagen.

Als sogenannte Gegenleistung öffnet die Europäische Union partiell ihre Zollschranken (was sie teils durch ihre anspruchsvollen Lebensmittel-, Gesundheits- und Fertigungsstandards bei Importen kompensiert), so daß die AKP-Staaten erheblich gegeneinander konkurrieren dürfen, wenn sie ihre Waren in Europa absetzen wollen. In den nächsten Jahren könnte die Zahl der Flüchtlinge aus Afrika aufgrund solcher wirtschaftlichen Gängelungen, aber sicherlich auch des Klimawandels und seinen mannigfachen Folgen für die Überlebenssourcen wie Nahrung und Trinkwasser zunehmen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International begrüßt in einem offenen Brief vom 25. November an die Justiz- und Innenminister der Europäischen Union den Entwurf des Stockholm-Programms, über den die Minister am Montag und Dienstag beraten haben, und bezeichnete ihn als "Schritt in die richtige Richtung" .

Der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember in Kraft getreten ist, wird explizit gelobt, da sich die EU darin für gemeinsame Standards bei der Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen hat. Amnesty glaubt jedoch "einige Lücken und Widersprüche" in der EU-Flüchtlingspolitik zu erkennen und schlägt, vereinfacht gesagt, eine engere Zusammenarbeit der Frontex mit den Herkunftsländern vor. Auch sollten die Rechte der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union angeglichen werden, und sie sollte darauf achten, daß es zu keiner Ausbeutung von Flüchtlingen kommt.

Die Forderungen der Menschenrechtler sind ein zweischneidiges Schwert. Einerseits dürfte jeder Flüchtling, der beispielsweise nicht wochenlang in einem hoffnungslos überfüllten griechischen Hochsicherheits-Flüchtlingslager verbringen muß, erleichtert sein, wenn seine Rechte nicht nur anerkannt, sondern auch eingehalten werden. Andererseits ist das Auffinden von Lücken in einem Gesetzentwurf der Europäischen Union eine durch und durch administrative Funktion innerhalb des System. Wo also steht dann eine "Nichtregierungs"-Organisation, die ursprünglich einmal angetreten war, sich auf die Seite des einzelnen (politischen Gefangenen) zu stellen und dessen Rechte gegenüber der Gesellschaft zu verteidigen, und anscheinend nun auf der Seite der vorherrschenden gesellschaftlichen Kräfte steht und ihnen hilft, die gegen den einzelnen gerichteten politischen Abwehrmaßnahmen zu qualifizieren?

Bestünde nicht nach dem hier vorgetragenen Wunsch, daß die EU enger mit den Herkunftsländern kooperieren soll, folglich die effizienteste "Lösung" des sogenannten Flüchtlingsproblems in der 2004 vom damaligen deutschen Innenminister Otto Schily und seinem italienischen Amtskollegen Giuseppe Pisanu geforderten (und inzwischen mit EU-Geldern verwirklichten) Einrichtung von Vorfeld-Flüchtlingslagern auf afrikanischem Boden? Das würde die Abschottung des Wohlstandsraums EU gegenüber der krisengeschüttelten Welt, respektive den Dauerhungerregionen Afrikas, tief befestigen. Und die toten Flüchtlinge würden nicht mehr an die europäischen Gestade gespült, sondern - mit allen erdenklichen Rechten versorgt - in der Sahara verdorren. Frontex in Perfektion.

1. Dezember 2009