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HERRSCHAFT/1553: Thilo Sarrazin ... vom Aufstand der Anständigen zur Herrschaft der Eliten (SB)



Die Option, den neuen Volkstribun Thilo Sarrazin zu ignorieren, um ihm nicht noch mehr Breitenwirkung zu verschaffen, hat sich erledigt. Die Büchse der Pandora steht sperrangelweit offen. Der Versuch, den Bundesbanker mit beschwichtigenden Worten zurück auf die Größe zu schrumpfen, die er hatte, als seine mediale Präsenz noch nicht so dominant wie heute war, lockt die Ungeister, die er ruft, erst recht aus ihrem Versteck hervor. Auch die häufig gestellte und meist negativ beantwortete Frage, ob Sarrazin ein Nazi wäre, verschafft ihm eher Rückenwind, als daß sie seine populistische Wirkung mindern könnte.

Wenn diese Frage selbst in linken Blättern wie dem Neuen Deutschland negativ beantwortet wird, um zu dem Schluß zu gelangen, daß Sarrazin lediglich ein Volkswirtschaftler und Ökonom wäre, der alles auf die Waage des ökonomischen Nutzens lege und einem gnadenlosen Erfolgsdenken huldige, dann zeigt sich, daß der NS-Vergleich zum Erfassen und Bewerten seiner Ideologie eher kontraproduktive Auswirkungen hat. Sarrazin propagiert im Unterschied zum Rassedenken der Nazis eine moderne Form sozialdarwinistischer Ausgrenzungslogik, die jedoch nicht minder als die NS-Ideologie das gesellschaftliche Axiom des Humanismus negiert. An die Stelle des prinzipiell gewährten Anspruchs auf Gleichberechtigung frei von jeglichem religiösen, ethnischen oder sozialen Vorbehalt tritt ein ökonomisch und soziobiologisch determiniertes Menschenbild, mit dem letztlich die Existenzberechtigung all derjenigen in Frage gestellt wird, die seinen Parametern produktiver und reproduktiver Leistungsfähigkeit nicht genügen.

Wo sich die neoliberale Ideologie noch mit der Gutheißung rechtstaatlicher und demokratischer Grundwerte freihält, um Klassenherrschaft mit dem Mittel kapitalistischer Vergesellschaftung durchzusetzen, greift Sarrazin zu einem kulturalistisch aufgeladenen Gruppendenken, mit dem die Welt in "wir" und "die anderen" eingeteilt wird. Das dabei gemachte Identifikationsangebot setzt zwar im ersten Schritt auf der sozialökonomischen Kategorie der "produktiven" Bürger auf, lädt den Machtanspruch der leistungsorientierten Meritokratie jedoch mit der Unterstellung einer populationsgenetisch bedingten Untauglichkeit bestimmter Gruppen der Bevölkerung vor allem orientalischer Herkunft ethnisch-religiös auf.

Im Ergebnis hat man es mit einer Form des vulgärwissenschaftlich bemäntelten Sozialrassismus zu tun, dessen letztlich genozidale Konsequenz verharmlost wird, wenn man ihr attestiert, natürlich nicht mit der Vernichtungspolitik des NS-Staates vergleichbar zu sein. Es ist kein Zufall, daß die antideutsche Antifa vor dem Problem steht, nicht gegen Sarrazin marschieren zu können, weil sie damit gegen ihren antiislamischen Grundkonsens verstieße, sich ihm aber auch nicht anschließen kann, weil sie aufgrund seiner Nähe zu NS-erprobter Sozialeugenik zur Kenntlichkeit verzerrt würde.

Die von Sarrazin salonfähig gemachte Verknüpfung ökonomischer Leistungsfähigkeit und humangenetischer Bemittelung ist anschlußfähig für Formen sozialtechnokratischer und biopolitischer Mangelregulation, bei denen, wenn es hart auf hart kommt, keine Köpfe rollen müssen, um bestimmte Menschengruppen eliminatorischen Wirkungen auszusetzen. Dies zu prognostizieren bedarf keiner dystopischen Paranoia oder verstiegenen Verschwörungstheorie. Auch ohne die neue europäische Rechte Marke Geert Wilders sterben jeden Tag Zehntausende Menschen an Folgen eines Mangels, den zu beheben gar nicht erst versucht wird. Besonders deutlich wird dies im Kriegsgebiet Afghanistan und Pakistan, wo der Hunger grassiert, während die NATO-Staaten unbeirrt ihre stragischen Ziele verfolgen und gerade mal ein Flugzeug für eine sogenannte Luftbrücke zur Unterstützung Millionen Hungernder bereitstellen. Von Hunger, Mangel an Trinkwasser und medizinischer Versorgung, an Energie, Kleidung und Wohnung in erster Linie betroffen sind Menschen nichtweißer Hautfarbe und nichtchristlicher Religionszugehörigkeit. Dieses Ergebnis einer mittels kolonialistischer und imperialistischer Expansion geschaffenen Weltordnung wird mit jedem Argument, mit dem die Betroffenen auf kulturalistische und biologistische Weise bezichtigt werden, selbst für ihre Misere verantwortlich zu sein, zementiert. Von der menschlichen Ignoranz und Rücksichtslosigkeit eines Sarrazin bestimmte Regierungen sind um so mehr dazu in der Lage, auch den bloßen Schein humanitären Engagements zugunsten einer Überlebenslogik aufzugeben, bei der es im Endeffekt "ihr oder wir" heißt.

Eine Feindbildproduktion, die dem im Klassenantagonismus westlicher Gesellschaften reproduzierten Nord-Süd-Gefälle der kapitalistischen Globalisierung adäquat ist, kann sich nicht auf die Instrumentalisierung interner Widersprüche beschränken. Der antiislamische Zug in dem keineswegs von Sarrazin erdachten, sondern von neokonservativen Strategieschmieden adaptierten Sozialrassismus ergibt sich nicht nur aus der stets zur Ablenkung von den eigentlichen Konflikten probaten Stigmatisierung des Fremden, sondern erweitert den Affront ganz gezielt auf ein zentrales globales Schlachtfeld im Kampf um knapper werdende Ressourcen. Mit der vielseitigen Verwendbarkeit dieser Offensive gegen sozial benachteiligte Minderheiten befindet sich Sarrazin und seine rasch anwachsende Schar von Anhängern ganz auf der Höhe krisenhafter Entwicklung und der sie regulierenden Geostrategie.

Dies gilt um so mehr, als die Bastionsfigur der neokonservativen Offensive ein genuines Produkt staatsbürokratischer wie finanzpolitischer Eliten ist. Wo NPD-Politiker an einem Aufstand der Anständigen scheitern, mit dem die rot-grüne Bundesregierung vor zehn Jahren versucht hat, dem Antifaschismus den antikapitalistischen Zahn zu ziehen und ihn herrschaftsförmig zu kooptieren, da reitet Sarrazin auf der Welle eines Aufstands der Eliten, mit dem letzte Reste egalitärer, solidarischer und basisdemokratischer Politik beseitigt werden sollen. Die polarisierende Wirkung seiner Propaganda resultiert aus dem Kurzschluß einer Schuldzuweisung, die sich jeder Differenzierung und Hinterfragung durch Verweis auf die angeblich schon lange schwelende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der regierungsamtlichen Integrationspolitik entzieht. Sarrazins Bilanz, laut der sich der Zuzug ausländischer Arbeitnehmer für "uns" nicht gelohnt habe, teilt auch hierzulande aufgewachsenen "bildungsfernen Schichten" mit hinreichender Deutlichkeit mit, daß ihre Leistungsbilanz negativ und ihre Anwesenheit verzichtbar ist.

Die Funktionseliten in Politik und Medien haben dementsprechend wenig Grund, den menschenfeindlichen Charakter dieser modernisierten Variante des Rassismus so konsequent aufzudecken, daß er zur Sicherung ihrer Privilegien nicht mehr verwendbar wäre. Sarrazin wird als "Provokateur" und "Tabubrecher" verharmlost, um den sozialen Charakter des Konflikts um die Integration in Deutschland lebender Muslime leugnen zu können. Die damit offengehaltene Gültigkeit seiner Anwürfe verschafft dem SPD-Politiker die Rolle eines Katalysators, mit dem neue Mehrheitsverhältnisse formiert werden können. Allein das zögerliche Vorgehen der sozialdemokratischen Führungsriege gegen ein Parteimitglied, dessen Rassismus den Aufstand der Anständigen auf entlarvende Weise konterkariert, dokumentiert das große Gewicht, das seiner auch an SPD-Wähler gerichteten Botschaft zugebilligt wird.

Sarrazin mehrt die Wucht seiner Offensive geschickt durch die Behauptung, er werde unter allen Umständen in der SPD bleiben. Dem stattzugeben bedeutete, daß die Partei Schaden an ihrem sozialdemokratischen Wertekern nähme, ihn dennoch auszuschließen bekränzte Sarrazin erst recht mit dem Glorienschein des politischen Märtyrers. Wer wie er, nur weil er die unbequeme Wahrheit ausspricht, gegeißelt wird, hat höchstes Lob für seine Unbestechlichkeit verdient. Beste Vorrausetzungen also für die Bildung einer neuen Rechtspartei, deren Wählerpotential in einer Emnid-Umfrage bereits mit 18 Prozent beziffert wurde. Mit dieser ließe sich das gesamte parlamentarische Spektrum deutlich nach rechts verschieben, so daß politischen Entscheidungen, die bislang noch am Konsens verfassungsrechtlicher Grundwerte scheitern, durchsetzbar würden.

Die Person Sarrazin kann denn auch als Chiffre für eine Form des Krisenmanagements verstanden werden, die sich das sozialrassistische Ressentiment nicht zu eigen machen muß, um es um so wirksamer werden zu lassen. Auch die innereuropäische Vertreibung der Roma von den Wohlstands- in die Elendszonen befleißigt sich administrativer Handlungszwänge, die als rassistisch zu brandmarken empört zurückgewiesen wird. Die Zurückhaltung der EU-Eliten, die daran beteiligten Regierungen explizit zu verurteilen, entspricht dem Zögern bundesrepublikanischer Eliten, mit Sarrazin einen der ihren in seiner Feindseligkeit bloßzustellen. Wo einem Jörg Haider vor zehn Jahren von der Regierung Frankreichs anhand der diplomatischen Isolation Österreichs die rote Karte gezeigt wurde, erfreut sich ein Nicholas Sarkozy heute mit der Stigmatisierung einer ethnischen Minderheit, die zudem von der Massenvernichtung des NS-Rassismus betroffen war, einer Schonung, die den Aufstieg sozialrassistischer Ideologie zu hegemonialer Wirkmächtigkeit nicht besser dokumentieren könnte.

Es ist mithin nicht übertrieben, dieser Entwicklung historische Bedeutung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland zuzuweisen. Der antifaschistische Konsens, so oberflächlich und widersprüchlich er auch in der BRD daherkam, hat ausgedient und mündet in das Paradigma einer sozialtechnokratischen Sachzwanglogik, die letzte Berührungsängste mit dem Einsatz biologistischer Konzepte in der neokonservativ formierten Klassengesellschaft aufgibt. Der An- und Aberkennung menschlicher Lebensberechtigung anhand der geistigen wie körperlichen Verwendbarkeit des Einzelnen für übergeordnete Interessen hat bereits mit dem Setzen bioethischer Grenzmarkierungen, hinter denen der fremdnützigen Verwertung keine Hindernisse mehr im Weg stehen, und der Negation gesellschaftlicher Faktoren der Krankheitsgenese ihren Schatten vorausgeworfen. Mit der erbbiologischen Fixierung des Sozialen wird die herrschaftsaffine Funktion gesellschaftlicher Widersprüche vollends in Abrede gestellt, um einen neofeudalen Ständestaat zu etablieren, in dem alles seine Ordnung hat, wenn nur jeder den ihm per Herkunft und Geburt zugewiesenen Platz einnimmt.

7. September 2010