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HERRSCHAFT/1678: Der SPD graust vor den Grünen (SB)




Das grün-alternative Projekt, die versprengten Fraktionen einer vordem radikalen Linken parteipolitisch aufzusaugen und in einen herrschaftskonformen Zukunftsentwurf zu überführen, ist noch längst nicht am Ende. Die Jahre interner Kämpfe um die Entsorgung der Fundis sind passé, hat doch die Regierungsbeteiligung an der Seite der Sozialdemokraten eindrücklich unter Beweis gestellt, zu welch innovativer sozialtechnokratischer Zugriffsgewalt und bellizistischer Renaissance die Grünen fähig sind. Heute werden Schlüsselpositionen wie das Ministerpräsidentenamt in Baden Württemberg oder der Posten des Stuttgarter Oberbürgermeisters besetzt, und man schickt sich nach offizieller Lesart an, mit der SPD ein zweites Mal die Bundesregierung zu stellen.

Vor dem Hintergrund schwacher Umfragewerte für Rot-Grün, die fast ausschließlich auf das Konto der Sozialdemokraten gehen, streiten SPD und Grüne jedoch mit wachsender Intensität über ihre jeweiligen Bündnisoptionen und das Profil ihrer Parteien. Die historische Aufgabe der Grünen sei es, die Wohlhabenden mit dem Thema soziale Gerechtigkeit zu versöhnen, erklärt Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion apodiktisch. [1] Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Rot und Grün ist Geschichte, die Grünen wollen die Sozialdemokraten nicht länger ergänzen - sie wollen sie ersetzen. Die SPD sei eine sterbende Partei, die im 150. Jahr ihrer Existenz keine Idee mehr davon habe, wo es für sie hingeht, heißt es in Kreisen der Grünen. Diese reklamieren Nachhaltigkeit auf allen Ebenen, von der Tierhaltung bis zur Bürgerversicherung, für sich, als verspreche diese neoreligiöse grüne Leerformel Schutz und Trost im Schoße der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ausgerechnet auf dem Gebiet der Sozialpolitik, wo die SPD ungeachtet der Agenda 2010 und Hartz IV seit jeher ihre Kernkompetenz sieht, kündigen die Grünen die Komplementarität auf und setzen aggressive Rivalität auf die Tagesordnung. Als sich führende Sozialdemokraten abmühten, das Wahlvolk im Zuge der Agenda-2010-Feiern allen sozialen Grausamkeiten zum Trotz auch noch mit dem fatalen Reformwerk zu versöhnen, warf ihnen Jürgen Trittin einen Knüppel zwischen die Beine. Im Vertrauen darauf, daß nichts so kurz ist wie das Gedächtnis der Wähler, nahm er eine Uminterpretation der damaligen Rolle seiner Partei vor. Sie seien immer für einen Mindestlohn und gegen harte Sanktionen zu Lasten der Arbeitslosen gewesen, stritt er frühere Positionen der Grünen rundweg ab.

Legt man ihr Wahlprogramm und viele ihrer Parteitagsbeschlüsse zugrunde, besetzen die Grünen in etlichen wichtigen Fragen Positionen links von der SPD. Sie wollen angeblich die Sanktionen für Arbeitslose aussetzen, die sich nicht um Jobs bemühen. Sie wollen die Wohlhabenden nicht nur mit einer höheren Einkommensteuer und einer Vermögensabgabe zur Kasse bitten, sondern auch noch mit diversen anderen Kosten belasten. Besonders weitreichend ist das grüne Rentenkonzept - 800 Euro monatlich sollen alle bekommen, die über 30 Jahre dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, also auch ehemalige Arbeitslose. Das macht sich in Wahlkampfzeiten gut und könnte geeignet sein, der SPD den Saft abzudrehen. Mit den bitteren Erfahrungen grüner Regierungsbeteiligung deckt sich das freilich nicht. Wo die Grünen regieren, üben sie sich in sogenannter pragmatischer Wirtschaftspolitik, beim Sparen sind sie oft ehrgeiziger als die Sozialdemokraten. In den gemeinsamen Regierungsjahren mit der SPD wollten sie das Rentenniveau schneller senken und in der Haushaltspolitik einen härteren Sparkurs fahren als ihr Koalitionspartner.

Nachdem der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel davor gewarnt hatte, daß die Grünen nach der Bundestagswahl ein Bündnis mit der Union ins Auge fassen könnten, wies deren Parteichef Cem Özdemir - bekanntlich ein Sympathisant schwarz-grüner Ideen - dies dennoch vehement als Schaumschlägerei zurück. Und Volker Beck schoß mit dem Hinweis zurück, daß sich die SPD-Wähler im klaren darüber sein müßten, daß die Sozialdemokraten in mehreren Bundesländern mit der CDU gemeinsam regieren und eine Große Koalition nach der Bundestagswahl auch im Bund keineswegs ausgeschlossen sei. Als Gabriel erklärt hatte, die Grünen würden nie verstehen, wie eine Verkäuferin bei Aldi denke, konterten die so Gescholtenen mit der Behauptung, ein grüner Lebensstil müsse keine Frage des Einkommens mehr sein. Die Fraktionschefin der Grünen nannte Gabriels Äußerungen "Quatsch" und verkündete in bestem Neusprech: "Wir Grüne wissen, wie soziale Gerechtigkeit geht." [2]

Da beide Parteien entgegen allen historischen Erfahrungen bundesdeutscher Geschichte behaupten, die sozialen Belange der Bürger seien bei ihnen am besten aufgehoben, wechselt der erbitterte Streit um die Frage, wer auf diesem Feld die Nase vorn habe, mit Phasen beschworenen Gleichschritts zum Nutzen und Frommen der Mehrheitsgesellschaft. So verkündete der SPD-Vorsitzende jüngst, die Grünen seien die "Liberalen des 21. Jahrhunderts". Und das war keineswegs abwertend gemeint: "Liberalität im ursprünglichen Sinn ist ja eine Haltung, die die Menschen vor der Übermacht des Staates ebenso schützen will wie vor der Übermacht des Kapitalismus". Das habe die FDP längst vergessen, während die Grünen dieses Erbe angenommen hätten. Folglich sei eine rot-grüne Koalition so gesehen "im besten Sinne des Wortes die neue sozial-liberale Koalition".

Daraufhin wies der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, die Bezeichnung einer rot-grünen Koalition als "sozial-liberal" als "lächerlich" zurück. Die Sozialdemokraten seien "ungefähr so sozial wie die Grünen liberal sind". Eine "rosa-grüne" Koalition bedeute "Hartz IV plus Vollkornbiedermeier", so der Linkenpolitiker. Allerdings muß sich Riexinger die Frage gefallen lassen, wieso er dann seine Partei durch die Andeutung ins Gespräch gebracht hat, sie könnte eine rot-grüne Minderheitsregierung dulden und einen SPD-Kanzler mitwählen.

Von einer rot-grünen Minderheitsregierung, wie sie jüngst auch der Berliner SPD-Vorsitzende Jan Stöß als Option ins Spiel gebracht hat, will Gabriel nichts wissen. Man müsse mehr für eine rot-grüne Mehrheit tun, statt sechs Monate vor der Wahl über Minderheitenregierungen zu schwadronieren, kanzelte er seinen Parteigenossen ab. "Die größte Volkswirtschaft Europas mit einer unsicheren Minderheitsregierung führen zu wollen, wäre unverantwortlich." Für derlei Abenteuer sei die SPD nicht zu haben, weder im Wahlkampf noch danach, zieht Gabriel im Zweifelsfall die Große Koalition allen anderen Möglichkeiten vor. [3]

An eine gemeinsame Zukunft nach der Bundestagswahl im Herbst glauben offenbar noch die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und ihr grünes Pendant, Steffi Lemke. Um einer künftigen rot-grünen Regierungskoalition einen besseren Start zu verschaffen als jenen der Schröder-Fischer-Regierung im Jahr 1998, haben sie einen Thinktank gegründet - das "Denkwerk Demokratie", mit eigenem Personal und Sitz im Haus der IG Metall in Berlin. Cem Özdemir hatte vergeblich dagegen protestiert und macht inzwischen aus der Not eine Tugend, indem er auf Veranstaltungen das industrielle Wachstumsmodell der SPD für überholt erklärt, da es Wachstum künftig nur noch nachhaltig und umweltverträglich geben dürfe.

Warum Özdemir im Grunde nichts von einer rot-grünen Denkfabrik hält, liegt auf der Hand. Bis zur Bundestagswahl im Herbst marschiert man eher im Stolper- als im Gleichschritt gemeinsam voran, doch hinter dem Rücken hält man den Dolch bereit. Die Grünen haben hochfliegendere Ambitionen, als daß sie sich an die schrumpfende Sozialdemokratie binden wollten, die sich zunehmend überflüssig macht. Während die SPD der Form halber einem Gesellschaftsmodell nachhängt, zu dessen Zerstörung sie selbst maßgeblich beigetragen hat, sehen sich die Grünen als die Gewinner dieses Entwurfs kreativer Zerstörung der traditionellen Schichten und sozialstaatlichen Verantwortung. Als Protagonisten eines neuen Bürgertums, das sich von dem Heer der prekären Verlierer und Habenichtse pekuniär und ideologisch abgrenzt, haben sie sich die Vollendung des gesellschaftlichen Kompromisses per endgültiger Entsorgung des Klassenbegriffs auf die Fahnen geschrieben. Ihr Aufstieg zur treibenden politischen Kraft, so steht zu befürchten, wird nachhaltig sein.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/2013/13/Gruene-Sozialpolitik/seite-2

[2] http://www.neues-deutschland.de/artikel/817330.linken-chef-warnt-vor-hartz-plus-vollkornbiedermeier.html

[3] http://www.welt.de/politik/deutschland/article114870233/Gabriel-pfeift-Berliner-SPD-Chef-zurueck.html

31. März 2013