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HERRSCHAFT/1693: Innovationsoffensive im Ausnahmezustand der Krise (SB)




127 Abgeordnete werden aller Voraussicht nach künftig die Opposition in einem Parlament bilden, in dem den Regierungsparteien mit 504 Abgeordneten mehr als drei Viertel der Stimmen zur Verfügung stehen. Der insgesamt 631 Sitze umfassende Bundestag kann mithin, ausschließlich auf die Stimmen der Regierungsmehrheit gestützt, mit Zweidrittelmehrheit Änderungen des Grundgesetzes beschließen. Die erste Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt nutzte dies 1968 zur Verabschiedung der Notstandsgesetze, mit Hilfe derer Grundrechte im Katastrophen-, Spannungs-, Verteidigungsfall wie auch inneren Notstand eingeschränkt werden können. Die Bundesrepublik sollte als antikommunistisches Bollwerk in der Blockkonfrontation gegen jegliche revolutionäre Veränderung gefeit sein, daher hatten die drei Westalliierten die Notstandsgesetzgebung zur Voraussetzung eines Verzichts auf ihre Vorbehaltsrechte gemacht.

Die neoliberale Zurichtung der Arbeitsgesellschaft hat den sozialen Widerstand in der Bundesrepublik so wirksam eingehegt, daß sich die Notwendigkeit drastischer Formen exekutiver Ermächtigung eigentlich erledigt haben sollte. Die tief in die Überlebenskonkurrenz getriebenen, maximal atomisierten Marktsubjekte zeigen wenig Neigung, am Ast ihrer materiellen Sicherheit zu sägen, auch wenn dieser immer dünner wird. Doch diese Momentaufnahme kann täuschen, denn die Bundesbürger stehen vor tiefgreifenden Umwälzungen, die im Kern auf die weitere Rationalisierung der Arbeit zugunsten des gesellschaftlichen Gesamtprodukts abzielen. Wo immer dessen Erwirtschaftung durch Kosten behindert wird, die in der unternehmerischen Bilanz negativ zu Buche schlagen, sollen diese gekürzt werden, wo immer sich Gewinne durch die Begünstigung privatwirtschaftlicher Interessen steigern lassen, sollen Regeln und Hindernisse, die den Primat des Marktes in Frage stellen, geschleift werden.

Diese Maxime ist nicht neu, kann künftig allerdings besser denn je durchgesetzt werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Rationalisierung der politischen Willensbildung selbst. Nie ist das von Bundeskanzlerin Angela Merkel favorisierte "Durchregieren" machbarer geworden als in einer Legislaturperiode, in der der vermeintliche Sachzwang der Krise zu außergewöhnlichen Maßnahmen berechtigt, gegen die kein oppositionelles Kraut gewachsen sein soll. Daß es damit in der Vergangenheit ohnehin nicht weit her war, weil der kapitalistische Staat jene Produktionsverhältnisse repräsentiert, die seinen Bestand am meisten sichern, heißt nicht, daß die dies bewirkende Klassenmacht nicht noch weiter ausgebaut werden könnte.

Der als Übergang bis zur Konstituierung einer neuen Bundesregierung eingerichtete Hauptausschuß des Bundestags vermittelt einen ersten Eindruck davon, daß ganz ungeniert regiert, wessen Ruf nicht ruiniert werden kann, weil er adressaten- und resonanzlos im Raum einer von Überlebensängsten getriebenen Gesellschaft verhallt. Im Bundestag eine Art Direktorat einzurichten, das die "moderne Staatsgewalt", um eine berühmte Sentenz aus dem Kommunistischen Manifest auf das Parlament anzuwenden, wie ein "Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Kapitalistenklasse verwaltet", verkörpert, entspricht der in der Eurozone verbreiteten Etablierung von Technokratenadministrationen, die auf unbürokratische, sprich undemokratische Weise die Interessen der Gläubiger der überbordenden Staatsschuld vertreten sollten.

Doch damit nicht genug. Wie der Staatsrechtler Martin Morlok im Deutschlandradio [1] erklärte, verliert die Opposition im Bundestag künftig nicht nur das Recht, eigenständig einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen und damit Auskünfte der Exekutive zu erzwingen, die diese nicht freiwillig preisgibt. Auch kann sie künftig keinen Antrag auf Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht stellen, also eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns vornehmen lassen. Auch dazu bedarf es mindestens eines Viertels der Stimmen im Bundestag. Die parlamentarische Opposition ist so schwach, daß der Entzug weiterer Rechte auf dem machiavellistischen Fuß folgt. Was unter Verweis auf Weimarer Verhältnisse an antidemokratischen Vorbehalten wie die Fünf-Prozent-Sperrklausel ins Grundgesetz aufgenommen wurde, begünstigt das Gegenteil dessen, was damit angeblich bezweckt wurde - die Maßnahmen gegen die Gefährdung der Demokratie tragen zu ihrer weiteren Zersetzung bei.

Warum diese Instanz bürgerlicher Herrschaft zusätzlich zum ohnehin gegebenen Konsens aller Parteien bis auf Die Linke in Sachen Nation, Kapital und Krieg zu außerordentlicher Verfügungsgewalt ermächtig wird, zeigen einige Schlaglichter aus dem Koalitionsvertrag [2]: "Mehr Wettbewerbsfähigkeit durch Strukturreformen und neue Wachstumsimpulse in allen Mitgliedsstaaten" zu realisieren heißt im Klartext, noch mehr Spardiktate für die öffentlichen Haushalte und den weiteren Abbau von Arbeiterrechten in Ländern durchzusetzen, die bereits jetzt Beute des deutschen Imperialismus sind. "Alle Qualifizierungsreserven in Deutschland müssen genutzt werden" meint nichts anderes, als daß der Wert der eigenen Arbeit durch die Preisgabe jeglichen Anspruchs, nicht für den Lohn zu lernen, sondern für das Leben, gesteigert werden soll. Wer sich nicht mit dem Mittel der Selbstoptimierung nach der Decke des Leistungsgebots streckt, wer nicht flexibel und mobil den Käufern seiner Arbeit nachläuft, der hält "Qualifizierungsreserven" zurück. So wird die "Initiierung von Innovationsprozessen zum Beispiel durch Spitzenclusterwettbewerbe" Maßgabe einer Innovationsstrategie, die nicht nur die Produktivität steigern, sondern den Menschen in Gänze in den Produktionsprozeß einspeisen soll.

Die Aufrüstung der Republik zum weltweiten Anbieter von Spitzentechnologien zieht sich wie ein roter Faden durch das Koalitionspapier. Deutschland soll "seine führende Rolle als Industrie-, Produktions- und Dienstleistungsstandort und Exportnation" behalten, indem ein Innovationsdruck entfacht wird, demgegenüber jeder Mensch rechenschaftspflichtig ist, selbst wenn er physisch oder psychisch für Lohnarbeit ausfällt. Die "fortwährende organisatorische und technische Veränderung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen", unter anderem initiiert durch Fortschritte in der "Arbeits-, Produktions- und Dienstleistungsforschung", verheißt nichts geringeres als eine Steigerung jener "kreativen Zerstörung", die als Grundbewegung neoliberal befeuerter Produktivität die Asche der in Wert gesetzten und dabei verheizten Ressourcen natürlicher wie menschlicher Art in Form von anwachsendem Mangel an Lebenssicherheit und -qualität aufhäuft. Der Ausnahmezustand der Krise geht mit dem des Staates zwingend einher, wenn die Konzentration hochqualifizierter und dementsprechend gut entlohnter Arbeit auf immer weniger Hände eine immer größere Menge niedrig entlohnter oder gänzlich verarmter Menschen hinterläßt.

Die Zurichtung des Menschen auf seine möglichst konkret kalkulierbare Verwertung verlangt die Zerschlagung aller Formen antikapitalistischer Selbstorganisation, jeglicher Subjektivität, die gegen die Bezichtigungslogik schuldhaften Vergehens am Gemeinwesen immun ist, und allen solidarischen Widerstands von unten. Um der im Koalitionsvertrag geforderten Effizienzsteigerung gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, die nicht zuletzt durch die allgegenwärtige und multiskalare Digitalisierung erfolgen soll, entgegenzutreten, bedarf es weit mehr als einer durch den parlamentarischen Normalbetrieb ohnehin weitreichend für diese Ziele rekrutierten Opposition. Daß diese schon zu Beginn der Legislaturperiode zahnlos auf der Strecke bleiben soll, muß als akute Bedrohung jeder Form des außerparlamentarischen Widerstands verstanden werden, denn nur dort könnten grundstürzende Fragen entwickelt werden.

2. Dezember 2013


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandradiokultur.de/bundestag-staatsrechtler-hauptausschuss-schnell-wieder.1008.de.html?dram:article_id=270731

[2] https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf