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HERRSCHAFT/1715: Selektive Flüchtlingsabwehr - Die Guten ins Töpfchen ... (SB)



"Grenzen und Fluchtwege sind Selektionsstrecken" [1] - was der Migrationsforscher Eberhard Jungfer 2009 über "Migrationen im Sozialen Weltkrieg" schrieb, erweist sich in der sogenannten Flüchtlingskrise vollends als strukturelle Matrix administrativen und ökonomischen Handlungsbedarfs. Die über Bleiberecht oder Abschiebung befindenden Unterscheidungen - Deutsche-Ausländer, Staatsbürger-Migrant, Europäer-Nichteuropäer, Christ-Muslim, Asylberechtigter-Wirtschaftsflüchtling - etablieren eine Rangfolge sozialer Privilegien respektive Verluste, die das Fußvolk bundesrepublikanischen Wertwachstums ohne eigenes Zutun in die Oberklasse globaler Überlebensansprüche hievt. Doch dieses auf bloße Zugehörigkeit zu Staat und Nation fundierte Vorrecht scheint in Frage gestellt zu sein, wie die gegen Flüchtlinge und Bundeskanzlerin gleichermaßen gerichteten Schmähungen der Pegidisten zeigen. Es wird ungemütlich in Deutschland, wenn die vom expansiven Charakter hiesiger Wohlstandsproduktion betroffenen Menschen auch nur den Anschein erwecken, sie könnten ihrerseits nach den Früchten greifen, die das globale Produktivitätsgefälle in Richtung Investivkapital und Kaufkraft nach oben durchreicht.

Die Befürchtung, in der zugespitzten Konkurrenz um Erwerbsmöglichkeiten den kürzeren zu ziehen, ist so abwegig nicht, geht es doch die ganze Zeit darum, den Preis der Arbeit niedrig und die Profitrate hoch zu halten. Der Ruf nach der Aussetzung des Mindestlohns nicht nur für Flüchtlinge und einer neuen Agenda 2010, so Hans-Werner Sinn vom Münchner Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), ist symptomatisch für die Produktion eines Mangels, den zu fliehen nirgendwo auf der Welt mehr möglich sein soll. Die mit Brandanschlägen und Haßparolen angefeindeten Flüchtlinge müssen die Not, die sie nach Europa treibt, nicht mitbringen. Am Ort ihrer Rettung treffen sie auf die Voraussetzungen der Misere, die sie in ihrem Herkunftsland erlitten haben. Imperialistischer Krieg, globalisierter Kapitalismus und sozialdarwinistische Marktdoktrin haben den Nahen und Mittleren Osten nachhaltig erschüttert und vorhandene Bruchlinien so weit aufklaffen lassen, daß selbst bescheidene Lebensansprüche nicht mehr gesichert sind [2].

"Schauen Sie sich die Flüchtlingswege an: wie aufwendig und gefährlich die sind. Dies schafft nur, wer sein Leben in die Hand nehmen will. So jemand hat doch hervorragende Voraussetzungen, .... " [3] - die von Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer zelebrierte Willkommenskultur gibt nicht nur den nach lebensgefährlichen Strapazen über jede kleine Handreichung frohen Migrantinnen und Migranten zu verstehen, daß ihnen der eigentliche Härtetest im Stahlbad der Produktion noch bevorsteht. Die Funktionseliten in Politik und Wirtschaft münzen eine von vielen Menschen mit solidarischer Unterstützung beantwortete humanitäre Notlage in eine Forderung nach Leistungs- und Unterwerfungsbereitschaft um, die nicht zuletzt die einheimischen Insassen der Arbeitsgesellschaft in die Pflicht nehmen soll.

Wenn die Pegidisten Merkel und Gabriel anhand eines Galgens bedeuten, wie mit ihnen zu verfahren wäre, wenn sie nur das Heft der Staatsgewalt in den Händen hätten, dann verkennen sie die herrschenden Verhältnisse gründlich. Die Bundesregierung ist längst dabei, mit der Anerkennung der Türkei, deren Präsident Erdogan als Sachwalter gigantischer Auffanglager für die nahöstlichen Flüchtlingsströme umworben wird, als sicherem Herkunftsstaat und der Einrichtung sogenannter Transitzonen Tatsachen zu schaffen, an denen kein Mensch ungeschoren vorbeikommt, der meint, hierzulande auf karitative Milde zu treffen. Die regulierte Aufnahme und Abwehr von Flüchtlingen entlang der ganzen Strecke ihrer Not bringt eine Form exekutiver Gewalt hervor, die vom militärischen Kriegseinsatz über das Einziehen blutiger Grenzen und ein davor errichtetes Lagersystem bis zur Beschränkung der bürgerlichen Rechte jener Menschen, die diese Selektionsstrecke überwunden haben, das ganze Arsenal interventionistischen Krisenmanagements mobilisiert.

Wenn sich die Gelegenheit bietet, gibt es keine moralische und verfassungsrechtliche Instanz, die nicht zur Disposition ihrer Aufhebung steht. Weit unterhalb der Schwelle der Aufnahmebereitschaft von Ländern wie Jordanien oder Libanon rechtfertigt der Unmut der Brandstifter und Abendlandsverteidiger die Etablierung von Formen der Bewegungs- und Menschenkontrolle, die der staatsapologetische Bildungsauftrag bislang als Vergehen zweier deutscher Diktaturen verurteilte. Zu meinen, die nationale Zugehörigkeit könne auch in Zukunft davor schützen, nicht das gleiche Los wie die Hungerleider in den Ländern des Südens erleiden zu müssen, hebt die patriotische Selbstbeweihräucherung, die das vermeintliche Anrecht auf besonderen Schutz begründet, konsequenterweise gerade dann auf, wenn es eingelöst werden soll. Das nationale Ressentiment war nie zu etwas anderem gedacht als den eigenen Staatssubjekten mehr Blut, Schweiß und Tränen abzuverlangen und die eigene Herrschaft vor ihrem Aufbegehren zu schützen.

Wer nicht zu jenen Funktionseliten gehört, die an jeden Punkt der Erde jetten können, um in den Global Cities transnationaler Kapitalakkumulation stets den ganzen Komfort zu genießen, den die gutbewachten Fluchtburgen der Staats- und Wirtschaftsbürokratie bieten, soll durch den Grenzzaun oder das Abschiebelager, durch Arbeitsdruck und Totalüberwachung in Fabrik, Büro und Dienstleistungsjob davon abgehalten werden, das verbindende Element widerständigen Zorns zu entdecken [4]. Die sich derzeit in der Bundesrepublik in bedrohlicher Form zuspitzende Feindseligkeit ist das Ergebnis sozialstrategischer Klassenspaltung und auch als solche in einem emanzipatorischen Sinne zu überwinden. Gelingt dies nicht, dann stehen Formen materiellen Zwanges, ideologischer Indoktrination und staatlicher Repression auf dem Programm, die sich nicht als Fluchtgründe anführen lassen werden, weil es keinen Ort mehr gibt, der sich außerhalb dessen befindet.


Fußnoten:

[1] labournet.de/diskussion/grundrechte/asyl/jahrbuch09.pdf

[2] HERRSCHAFT/1713: Die Moral der Habenichtse ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1713.html

[3] zitiert nach Freerk Huisken, GegenRede 37 "Überleben auf der Flucht als Qualifikationsnachweis: 'Gelobt sei, was hart macht!'"
http://www.fhuisken.de/downloadable/Gegenrede37.PDF

[4] RAUB/1080: Die Teilung der Welt über den Tod hinaus (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1080.html

14. Oktober 2015


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