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HERRSCHAFT/1751: Staatsräson Siedlungsbau - Räumung konterkariert (SB)



Setzt die Räumung der illegalen jüdischen Siedlung Amona ein Zeichen, das auf einen moderateren Kurs oder gar ein Einlenken der israelischen Regierung in der Siedlungsfrage schließen läßt? Das Gegenteil ist der Fall, gilt Amona doch gerade deswegen als Symbol der Siedlerbewegung mit ihrer Besetzung und Bautätigkeit auf palästinensischem Grund, weil seine Räumung so lange verzögert worden ist. Zudem hatte die rechts-religiöse Regierung in Jerusalem erst am Vorabend die Errichtung von 3000 neuen Siedlerwohnungen genehmigt.

Um die vor mehr als 20 Jahren gegründete illegale Siedlung Amona, die nordöstlich von Ramallah auf palästinensischem Privatland errichtet wurde, wird seit langem ein erbitterter juristischer und politischer Streit geführt. Ihr Abriß war bereits vor mehr als zehn Jahren angeordnet worden, doch kam es 2006 beim Versuch der Räumung einiger Häuser zu Zusammenstößen, bei denen mehr als 250 Menschen verletzt wurden. Das Oberste Gericht Israels ordnete Ende 2014 den Abriß der Häuser an. Dieser Beschluß sollte eigentlich bis Ende 2016 umgesetzt werden, doch wurde die Frist, den Ort mit seinen rund 280 Einwohnern zu räumen, zuletzt bis zum 8. Februar verlängert. [1]

Nach diesen langen Verzögerungen hat die israelische Polizei nun endlich mit der Räumung der nicht genehmigten Siedlung begonnen. Deren Bewohner waren am Vortag per Flugblatt dazu aufgefordert worden, das Gebiet innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Einige Familien verließen die Siedlung bereitwillig, die meisten hatten jedoch angekündigt, sich der Räumung zu widersetzen. Sie riefen jugendliche Räumungsgegner zu gewaltfreiem Protest auf, sprachen sich aber laut Times of Israel dafür aus, die Räumung so langwierig und schwierig wie möglich zu gestalten. Einer der Organisatoren des Protests erklärte, man wolle die Evakuierung "so rau wie möglich" machen. "Das ist nicht Gusch Katif", betonte er in Anspielung auf die Räumung israelischer Siedlungen 2005 im Gazastreifen. "Wir werden die Soldaten nicht umarmen und ihnen keine Lieder singen." [2]

Hunderte blau gekleidete Polizisten rückten in langen Reihen langsam in Richtung der Ortschaft vor. Sie trugen keine offen sichtbaren Waffen und gingen nicht auf Versuche von Räumungsgegnern ein, Diskussionen zu beginnen. Es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten, bei denen Medienberichten zufolge eine Polizistin und ein Siedler verletzt wurden. Vermummte Jugendliche hatten die Zufahrtsstraße zuvor mit brennenden Reifen blockiert und die vordringenden Sicherheitskräfte mit Steinen beworfen. Hunderte Räumungsgegner verbarrikadierten sich mit Einwohnern in den Häusern von Amona. [3] Im weiteren Verlauf der Räumung kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen, bei denen ein Siedler getötet und 20 Polizisten verletzt worden sein sollen. Dreizehn Menschen seien festgenommen worden. [4]

Dessen Sprecher Avichai Boaron beklagte einen "schwarzen Tag für den Zionismus". Der Fall ist für die Regierung in Jerusalem von höchster Brisanz, da die Ultranationalisten in der rechts-religiösen Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf seiten der Siedler stehen. Landwirtschaftsminister Uri Ariel und andere Abgeordnete der rechtsradikalen Partei Jüdisches Haus wohnten der Räumungsaktion vor Ort bei. Justizministerin Ajelet Schaked von der Siedlerpartei sprach von einem "sehr schweren Tag". Die Regierung habe "endlose Bemühungen unternommen, damit es nicht so weit kommt". Der Fall Amona habe jedoch dazu geführt, daß sich die Koalition für ein Gesetz zur Legalisierung von Siedlungen auf palästinensischem Privatland einsetze: "Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg."

Dieser umstrittene Gesetzentwurf sieht eine rückwirkende Legalisierung von rund 4000 illegalen Siedlerwohnungen auf palästinensischem Privatland vor. Die damit de facto zwangsenteigneten palästinensischen Eigentümer sollen finanziell entschädigt werden. "Das Gesetz soll die Besiedlung von Judäa und Samaria ein für alle Mal regeln", verkündete Netanjahu während der wöchentlichen Kabinettssitzung. Das Gesetz gilt allerdings nicht für Siedlerhäuser wie jene im Außenposten Amona, deren Räumung durch ein Gericht angeordnet worden ist. Netanjahu hat jedoch bereits den Bau von 68 neuen Wohnungen in der nahe gelegenen Siedlung Ofra Ofra angekündigt, in denen Familien aus geräumten Häusern eine neue Bleibe finden sollen. [5]

Unterdessen hat die Regierung den Bau von Tausenden neuen Häusern in Siedlungen im Westjordanland gebilligt. Wie es in einer Mitteilung der israelischen Armee hieß, hätten sich Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und Premierminister Benjamin Netanjahu auf den Bau von insgesamt 3000 Wohneinheiten in den Siedlungen geeinigt. Davon sollten mehr als 2000 sofort gebaut werden, die restlichen zu späteren Zeitpunkten. Es war bereits die vierte Ankündigung von Siedlungsprojekten seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump vor knapp zwei Wochen. "Wir sind in einer neuen Periode, in der das Leben in Judäa und Samaria wieder auf seinen Pfad zurückkehrt", zog Lieberman zufrieden Bilanz.

Was er damit meint, führte Naftali Bennet, Erziehungsminister von der Partei Jüdisches Haus, nach Trumps Wahlsieg dezidiert aus, als er das Ende der Zwei-Staaten-Lösung proklamierte. Angesichts der stetig zunehmenden Besiedlung des Westjordanlandes ist dieses Ziel ohnehin kaum noch erreichbar, da aus den jüdischen Siedlungen inzwischen 300.000 bis 450.000 Menschen umgesiedelt werden müßten, was niemand für machbar hält. Shilo Adler, der die Nachfolge Bennets an der Spitze der Siedlerbewegung angetreten hat, will weiter Fakten schaffen: "Bis zum Jahr 2020 werden knapp eine Million Israeli in Judäa und Samaria sein. Das ist mein Ziel, das ist unsere Vision." [6]

Die palästinensische Politikerin Hanan Aschrawi sprach von einer "wahnsinnigen Eskalation von Israels illegalem Vorgehen". Es signalisiere "das absolute Ende der Zwei-Staaten-Lösung". Das Schweigen der neuen US-Regierung ermutige Netanjahu, mit den Siedlungsaktivitäten voranzuschreiten, warnte sie in einer Stellungnahme.

Im seit 1967 besetzten Westjordanland und im von Israel annektierten Ost-Jerusalem leben in mehr als 200 Siedlungen inzwischen rund 600.000 Menschen. Ein Teil der Siedlungen wurde mit ausdrücklicher Genehmigung der Regierung errichtet, doch auch die sogenannten wilden Siedlungen werden von ihr weitgehend geduldet. Der Weltsicherheitsrat hatte im Dezember einen vollständigen Siedlungsstopp gefordert, doch wird dieser Beschluß von der israelischen Regierung als irrelevant bezeichnet und ignoriert. Netanjahu erhofft sich nach dem Amtsantritt Trumps deutlich mehr Unterstützung für seine Siedlungspolitik. Nach seiner Vereidigung sagte dieser der Regierung in Jerusalem denn auch seine uneingeschränkte Unterstützung zu.

Die Bundesregierung hat den geplanten Bau weiterer israelischer Wohnungen in den besetzten Gebieten kritisiert und Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob die israelische Regierung überhaupt noch zu dem von ihr offiziell vertretenen Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung stehe. Sollte Israel von diesem Ziel abrücken, werde die Grundlage des gesamten Nahost-Friedensprozesses in Frage gestellt. Auch die Arabische Liga verurteilte den angekündigten Siedlungsbau. Mit den Plänen offenbare die israelische Regierung einen Ansatz der "Missachtung und Herausforderung des Willens der internationalen Gemeinschaft", kritisierte Generalsekretär Ahmed Abul Gheit. Der Staatenbund warf der israelischen Führung vor, alle Bemühungen um eine Zwei-Staaten-Lösung zum Scheitern zu bringen. [7]

Daß solche Einwände, soweit sie nicht wie jene von deutscher Seite ohnehin bloße Lippenbekenntnisse sind, weniger Konsequenzen denn je zeitigen, ist nicht nur den veränderten internationalen Kräfteverhältnissen geschuldet, sondern auch der zunehmenden Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft. So dokumentieren die von der NGO Breaking the Silence gesammelten Zeugenaussagen israelischer Soldaten den dramatisch wachsenden Einfluß radikaler Siedler in Zusammenarbeit mit der Armee. Als der kürzlich von einem Gericht in Tel Aviv wegen Totschlags verurteilte Soldat Elor Azaria den wehrlos am Boden liegenden Palästinenser Abdel Fattah Al-Sharif aus nächster Nähe exekutierte, waren nicht nur Soldaten, sondern auch zahlreiche ortsansässige Siedler aus Hebron am Tatort. Nach der Tat legte Azaria seine Waffe weg und reichte Baruch Mazel, dem radikalen Anführer der jüdischen Siedler in der Stadt, die Hand.

Anderen Berichten zufolge haben nicht nur die Palästinenser Angst vor den Siedlern, vielmehr würden auch Soldaten unter Druck gesetzt, als Nazis beschimpft oder sogar angegriffen, wenn sie nicht im Siedlerinteresse handelten. Die Palästinenser im Westjordanland stehen unter Militärrecht, so daß sie von Soldaten angehalten, kontrolliert und verhaftet werden können. Für die Siedler gilt hingegen ziviles Recht, was bedeutet, daß von ihnen angegriffene Soldaten die Polizei rufen müssen. Diese träfe jedoch meist viel zu spät ein und nehme so gut wie nie einen Siedler fest.

Damit nicht genug, haben demnach die sogenannten "zivilen Sicherheitschefs" der Siedler Zugang zur örtlichen Operationszentrale der Armee. Sie nehmen an Planungstreffen und militärischen Übungen teil und hören den Armeefunk mit. Zudem patrouillieren solche bewaffneten Sicherheitsleute der Siedler gemeinsam mit den Soldaten in arabischen Dörfern. Das stellt eine Verletzung internationalen Rechts dar, das eine solche Vermischung von militärischen und privaten Sicherheitskräften untersagt.

Armeechef Gadi Eizenkot wies die Vorwürfen von Breaking the Silence als unwahr zurück und erklärte, zivile Sicherheitschefs hätten keine Befehlsgewalt über Soldaten, seien aber als legale Sicherheitskräfte anerkannt. Zu ihren Aufgaben gehöre es, der Armee zu helfen und Informationen weiterzugeben. Die Beziehung zwischen Militär und Siedlern sei "ein signifikanter Faktor für die Kapazität der Armee bei der Erfüllung der Sicherheitsverantwortung in den Gebieten". [8]

Der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten ist eine jahrzehntelange Konstante israelischer Regierungspolitik, die nicht nur die Gebietsansprüche der Palästinenser für nichtig erklärt, sondern auch deren Staatsgründung systematisch verhindert hat. Daß die radikale Siedlerbewegung mit ihrer Variante des Gottesstaats derart an Einfluß in der Regierung, in den Streitkräften wie auch vor Ort gewinnen konnte, ist das Ergebnis von 50 Jahren Besatzung, die der Staatsräson Israels entsprang und von dessen Verbündeten niemals wirksam in Frage gestellt wurde.


Fußnoten:

[1] http://www.wochenblatt.de/nachrichten/welt/Israels-Polizei-beginnt-mit-Raeumung-der-umstrittenen-Siedlung-Amona;art29,420458

[2] http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27702

[3] http://www.zeit.de/news/2017-02/01/konflikte-israel-billigt-3000-weitere-siedlerwohnungen-01073204

[4] http://www.deutschlandfunk.de/westjordanland-zwischenfall-bei-raumung-israelischer.447.de.html?

[5] https://www.merkur.de/politik/israel-will-siedlungen-auf-palaestinenserland-legalisieren-zr-7336396.html

[6] http://www.deutschlandfunk.de/junge-israelis-und-us-praesident-trump-gefuehle-zwischen.724.de.html

[7] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-01/israel-zwei-staaten-loesung-palaestina-wohnungsbau-westjordanland

[8] http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-juedische-siedler-beeinflussen-armee-im-westjordanland-a-1132244.html

1. Februar 2017


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