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HERRSCHAFT/1798: SPD - vage Ein- und Aussichten ... (SB)



Ich habe den Eindruck, wenn wir weiter unser Koordinatensystem nach rechts verschieben, ist das so wie in anderen europäischen Ländern, dass wir nicht mehr sichtbar sind, und dann wird wirklich die Frage eine zentrale Existenzfrage, gehen wir raus oder bleiben wir. Ich persönlich bin der Auffassung, dass man irgendwann mal einen Schnitt machen muss, um nicht ganz unterzugehen.
SPD-Linke Hilde Mattheis zur Lage ihrer Partei [1]

Die SPD liegt im Trend. Europaweit sind sozialdemokratische Parteien auf dem absteigenden Ast, einige bereits in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wollte man von ihrer historischen Rolle sprechen, sich als die wahre Volkspartei zu präsentieren und dabei der Bevölkerung reibungsärmer als die Konservativen Schübe sozialer Grausamkeiten zu verabreichen, scheint sich die Sozialdemokratie weithin überflüssig gemacht zu haben. Ihr Absturz ist bemerkenswert. In Frankreich brach die zuvor regierende PS bei den Wahlen 2017 um 21,91 Punkte auf 7,44 Prozent ein. In den Niederlanden verlor die Partij van de Arbeid im März 2017 19,14 Punkte und sackte auf 5,7 Prozent ab. In Tschechien schrumpfte die CSSD im Oktober 2017 um mehr als die Hälfte auf 7,32 Prozent. In Polen scheiterte die SLD mit 7,55 Prozent an der dort geltenden Acht-Prozent-Hürde. In Ungarn hat die MSZP lediglich 15 der insgesamt 199 Sitze im Parlament inne. Etwas besser sieht es in Spanien und Österreich aus, eine Ausnahme vom Negativtrend ist neben Portugal vor allem das Vereinigte Königreich, wo die Labour Party in den letzten Jahren wieder Zugewinne verzeichnete. Die Stärke des linken Flügels um Jeremy Corbyn scheint nahezulegen, daß es doch eine Medizin gegen den epidemischen Niedergang geben könnte. [2]

Auch in der Bundesrepublik taumeln die Sozialdemokraten in Richtung Abgrund und sind jüngsten Umfragen zufolge nur noch viertstärkste Partei. Wenngleich man die Ergebnisse sogenannter repräsentativer Umfragen im Detail nicht auf die Goldwaage legen sollte, zeichnet sich doch auch hier über die Wochen und Monate eine unaufhaltsame Talfahrt ab. Laut neuem ARD-Deutschlandtrend und einer Erhebung des Instituts GMS hat die Große Koalition im Bund keine Mehrheit mehr, wobei die SPD mit nur noch 15 Prozent hinter Union, Grüne und AfD zurückfällt. Wenngleich auch der Stern der CDU/CSU sinkt, profitieren die Sozialdemokraten nicht von ihrem Platz auf der Regierungsbank. So gaben 76 Prozent der Befragten an, sie seien weniger oder gar nicht mit der Arbeit der Koalition zufrieden. [3]

Dramatisch sieht es für die SPD in Bayern aus, wo sie vor der Landtagswahl am Sonntag in Umfragen nur noch knapp über zehn Prozent rangiert. Während vor allem die Grünen von dem katastrophalen Niedergang der CSU zehren, gilt das nicht für die Sozialdemokraten, sofern kein Wunder geschieht. Ein solches beschwören wollte offenbar Andrea Nahles, die sicher nicht zufällig unmittelbar vor dem Urnengang in Bayern und Hessen in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit erstaunliche Neuigkeiten bekanntgab. Die SPD-Vorsitzende kündigte eine Abkehr von der Agenda 2010 und statt dessen ein neues, modernes Konzept für den "Sozialstaat 2025" an. "Wir werden uns aus dem gedanklichen Gefängnis der Agendapolitik, über die wir viel zu lange rückwärtsgewandt geredet haben, befreien", sagte Nahles. Sie wolle "mit einigen Sachen aufräumen", die die Partei immer noch blockierten, das neue Konzept solle "die sozialdemokratische Antwort auf die Herausforderungen des digitalen Kapitalismus" sein, orakelte Nahles frohgemut, aber nebulös. Wer Genaueres darüber wissen möchte, muß sich wohl gedulden, denn das neue Programm soll erst Ende 2019 vorgelegt werden.

Zu den Reformen der Agenda 2010 gehörten das Hartz-IV-Gesetz, die Absenkung des Rentenniveaus und weitere Leistungskürzungen im Sozialbereich. Kann man aus der Botschaft der Parteivorsitzenden schließen, daß diese einschneidenden Angriffe auf die arbeitende und ausgegrenzte Bevölkerung beendet werden? Oder kann man wenigstens davon ausgehen, daß die SPD-Führung vorhat, entschieden dafür einzutreten, daß das geschieht? Das wäre denn doch eine beachtliche Kehrtwende, da Nahles bislang zwar einzelne Elemente von Hartz IV wie etwa die Sanktionen gegen Jugendliche kritisiert, aber explizit von Verbesserungen, nicht jedoch einer Rücknahme von Hartz IV gesprochen hat. Aus ihren Formulierungen im Interview geht nicht hervor, mit welchen "Sachen" sie aufräumen will und was genau die "Herausforderung" sei, auf die die Partei eine eigenständige Antwort geben werde.

Da niemand weiß, was Andrea Nahles damit im Schilde führt, könnte es hilfreich sein, ihre Parteigenossinnen und -genossen zu Rate zu ziehen, die doch Näheres darüber wissen sollten. Da gibt es zum einen die Aussage des parlamentarischen Geschäftsführers der SPD im Bundestag, Carsten Schneider, nach dessen Worten die Zeit der Kürzungen und Einschränkungen in der gesetzlichen Sozialversicherung beendet sei. Bei der Rentenversicherung beginne jetzt vielmehr "die Zeit der Stärkung", sagte er mit Blick auf das Rentenpaket der Koalition, das erstmals im Bundestag beraten wurde. Dieses sieht eine Stabilisierung des Rentenniveaus auf dem jetzigen Stand von 48 Prozent bis 2025 vor, der Beitragssatz von derzeit 18,6 Prozent soll bis dahin nicht über 20 Prozent steigen. Da die SPD diesen Schwerpunkt bereits im Wahlkampf und in den Koalitionsverhandlungen gesetzt hatte, ist das insofern nichts Neues und vor allem eine Verschiebewurst. Denn wie Schneider einräumte, werde man dann "die finanziellen Ressourcen für andere Bereiche nicht haben". [4]

Der Deutschlandfunk wollte der Sache auf den Grund gehen und fragte bei Hilde Mattheis, Vorsitzende des Forums Demokratische Linke in der SPD, nach. Wie sich im Laufe des Gesprächs abzeichnete, wußte Mattheis auch nicht mehr, als im Interview nachzulesen war. Auf die Frage, ob Nahles womöglich selber nicht wisse, wovon sie da redet, erwiderte die Parteilinke diplomatisch, sie wünsche sich ein Gespräch darüber und hoffe, daß in der Führung die Notwendigkeit einer Kurskorrektur angekommen sei. Der Verdacht, die SPD-Vorsitzende habe vor den Wahlen in Bayern und Hessen schlichtweg etwas zusammenfabuliert, das ihrer absackenden Partei einige Wählerstimmen retten könnte, ist nach diesem Interview mit Mattheis eher genährt als entkräftet. Von einem bereits existierenden Diskussionsprozeß in der SPD, auf den Nahles in ihren Äußerungen verwiesen hätte, kann offenbar keine Rede sein.

Wie Mattheis sagte, sei ihr nicht klar, ob Nahles wirklich Fehler in den Sozialreformen aus der Zeit von Kanzler Schröder korrigieren wolle. Die Leute säßen im Hartz-IV-Gefängnis und hätten den Eindruck, daß ihre Kinder ohne Zukunft seien. Hier müsse die SPD Perspektiven aufzeigen. Die Sozialdemokraten dürften in der großen Koalition nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Mattheis warnte, wenn die SPD ihre Koordinaten noch weiter nach rechts verschiebe, sei sie nicht mehr sichtbar. Hier müsse man irgendwann einen Schnitt machen, um nicht ganz unterzugehen.

Zuletzt hatten linke Sozialdemokraten einen gemeinsamen Aufruf veröffentlicht, in dem es heißt, man sei nicht zum Vergnügen in der Großen Koalition und halte sie auch nicht für eine wünschenswerte Option. Ziel müsse eine solidarische, freie und gerechte Gesellschaft sein. Auch das Festhalten an der "Schwarzen Null" sei zum Fetisch geworden, ersetze aber kein politisches Konzept. Die Zeit des Taktierens, Lavierens und der Eitelkeiten müsse vorbei sein. Zu den Parteilinken in der SPD zählen unter anderem der stellvertretende Parteivorsitzende Stegner, Juso-Chef Kühnert, der Sprecher der parlamentarischen Linken im Bundestag, Miersch, und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Müller. [5]

Am Wochenende kommt in Berlin der linke SPD-Flügel zusammen, um auf einem Basiskongreß seine Thesen zur Erneuerung der Sozialdemokratie zu formulieren. Im November sollen die Ergebnisse auf einem Treffen der gesamten Partei diskutiert werden. Die SPD-Linken kündigen an, daß sie "spätestens" zur Halbzeit der großen Koalition im Sommer 2019 schauen wollen, ob die Politik des Koalitionsvertrags auch ausreichend umgesetzt wurde. "Wir wollen stabile Verhältnisse, aber unser Geduldsfaden ist bis zum Zerreißen gespannt", schreiben sie. [6] Säumig sein sollten sie jedenfalls nicht, scheint doch der Geduldsfaden der Wählerschaft längst gerissen zu sein.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/hilde-mattheis-zur-lage-der-spd-wir-duerfen-unsere.694.de.html

[2] www.heise.de/tp/features/Niederlaendischer-Juncker-Stellvertreter-soll-EU-Spitzenkandidat-der-Sozialdemokraten-werden-4189300.html

[3] www.zeit.de/politik/deutschland/2018-10/spd-umfrage-bundestagswahl-sonntagsfrage-gms

[4] www.welt.de/politik/deutschland/article181872366/Andrea-Nahles-verkuendet-Abkehr-von-Agenda-2010.html

[5] www.deutschlandfunk.de/hilde-mattheis-die-spd-muss-eine-andere-perspektive.1939.de.html

[6] www.zeit.de/politik/deutschland/2018-10/grosse-koalition-spd-linke-kritik

12. Oktober 2018


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