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HERRSCHAFT/1912: Covid - der Vorwand für Verschärfungen ... (SB)



Großbritannien schickt sich an, nach dem erfolgreichen Lichten des Ankers in kontinentalen Gewässern allein auf Kaperfahrt zu gehen. Den Ballast EU-europäischer Integrationspolitik mit dem Brexit abgeworfen segelt es sich leichter und schneller, was beste Startbedingungen für erfolgreiche Beutezüge bietet. Staatliche Regulationen und sozialpolitische Einschränkungen abwerfen, wo es nur geht, lautet das Credo erfolgreichen Unternehmertums, das gilt im Vereinigten Königreich nicht nur für die Privatwirtschaft, sondern für alle staatliche Administration, die deren Geschäftsbetrieb einschränken könnte. Daher muss der Pflichtenkatalog der Seuchenbekämpfung ein Ende haben. Wenn nicht heute, wann dann, rief Boris Johnson der leidgeprüften Bevölkerung von der Brücke zu, und so wurden fast alle öffentlichen Auflagen am 19. Juli, dem "Freedom Day", fallen gelassen. In Innenräumen und Menschenmengen eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen unterliegt nun ebenso der persönlichen Verantwortung wie das Halten von Abstand zum nächsten Menschen, über dessen Infektionsstatus nicht mehr bekannt ist als womöglich über den eigenen.

In London wurde schon vor einem Jahr laut über das schnelle Erreichen der Herdenimmunität nachgedacht, und das vor der Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe. Covid treffe ohnehin vor allem alte Menschen, war vom Premierminister als Argument gegen das Verhängen eines Lockdowns zu vernehmen, wie sein in Ungnade gefallener Berater Dominic Cummings der Presse verriet. Als handle es sich bei der Pandemie um eine Art Frischzellenkur für das Land wurde ernsthaft erwogen, dem in seinen Auswirkungen noch weitgehend unverstandenen Erreger SARS-CoV-2 freie Bahn zu geben. Unter erheblichem öffentlichen Druck wurde schließlich zurückgerudert und das ganze Arsenal öffentlicher Infektionsschutzmaßnahmen aufgefahren, aber die Idee, der Biologie ihren Willen zu lassen und wie der Phönix aus der Asche gestärkt aus dieser Rosskur hervorzugehen, war in der Welt.

Obschon die britische Bevölkerung mit fast 130.000 Todesopfern erheblich unter der Pandemie gelitten hat, konnte sich die Regierung aufgrund einer frühzeitig eingeleiteten Impfkampagne eines besonders effizienten Krisenmanagements rühmen, das auch zur Beschönigung anderer Defizite Verwendung fand. Das Versäumnis, die Einschränkung des Flugverkehrs von Indien nach Großbritannien trotz des Ausbruchs der Delta-Variante dort drei Wochen lang zu verzögern, um ein bilaterales Handelsabkommen mit dem Subkontinent nicht zu gefährden, schrumpfte unter der Blendwirkung der Impfkampagne zu einer lässlichen Sünde. Dabei hatte das leichtfertige Durchwinken tausender Flugpassagiere aus Indien wesentlichen Anteil daran, dass UK heute nach Indien das zweite Land mit hundertprozentiger Prävalenz der hochinfektiösen Delta-Variante ist, obwohl gerade erst die hohen Inzidenzzahlen nach Verbreitung der in der Grafschaft Kent zuerst aufgetretenen Alpha-Variante zurückgegangen waren.

Wenn nun mit dem Argument, durch die Immunisierung der Bevölkerung sei die Verbindung von Infektion und schwerer Erkrankung erfolgreich unterbrochen worden, die vermeintliche Freiheit von staatlicher Maßregelung gefeiert wird, dann ist das nicht nur aus infektionsmedizinischer Sicht fatal, wie die von zahlreichen EpidemiologInnen im Medizinjournal The Lancet publizierte Warnung vor der unregulierten Verbreitung der Pandemie zeigt. Das Land, in dem der Manchesterkapitalismus den historischen Beginn der industrialisierten Klassengesellschaft markiert und dessen liberale Tradition stets dem Schutz der herrschenden Eigentumsordnung und Standesprivilegien diente, ist bis heute von tiefgreifenden sozialen Widersprüchen gekennzeichnet. Die hauptsächlich von der Aufhebung verpflichtender basaler Infektionsschutzmaßnahmen Betroffenen arbeiten im Dienstleistungs- und Niedriglohnsektor, wo zahlreiche Publikums- und KundInnenkontakte die Regel sind. Die Beschäftigten im Einzelhandel und in der Gastronomie, im öffentlichen Nahverkehr und Gesundheitswesen, in der Tierindustrie und anderen Teilen des in UK besonders stark aufgeblähten Servicesektors waren und sind überdurchschnittlich stark gefährdet, an Covid zu erkranken oder zu versterben.

Diese Auswirkungen wurden zwar durch die zweifache Impfung von 55 Prozent der Bevölkerung stark reduziert, doch die hohe Zahl von rund 30.000 neu Infizierten täglich sorgt auch unter Immunisierten zuverlässig dafür, dass weiterhin Menschen erkranken und sogar sterben. Für die Gruppe der aus verschiedenen Gründen nicht Geimpften, zu denen nicht nur Menschen gehören, die sich aus prinzipiellen Gründen einer Impfung verweigern, sondern auch Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, wie Personen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können oder befürchten, wegen impfbedingter Einschränkungen ihren Job zu verlieren, stellt der Freedom Day eine akute Bedrohung dar. Auch hier kann der Klassenantagonismus über Leben und Tod entscheiden - wohlhabende Menschen können sich vielleicht auf ihrem Landhaus verbarrikadieren oder in ein Land mit geringer Inzidenz reisen, aber Lohnabhängige müssen sich allein des täglichen Sattwerdens wegen einem Infektionsrisiko aussetzen.

Mag die lautstark proklamierte Freiheit auch mit der Warnung des Premierministers einhergehen, weiterhin vorsichtig zu sein und es nicht zu übertreiben, so handelt es sich dabei um nicht mehr als eine im Vorweg erteilte Rückversicherung, gegebenenfalls die Verantwortung für größere Ausfälle an die Betroffenen delegieren zu können. In der neoliberalen Gesundheitswirtschaft fungiert das Prinzip der Eigenverantwortung in erster Linie als Bezichtigungskonstrukt, mit dem die Kosten kapitalistischer Vergesellschaftung auf die Marktsubjekte abgewälzt werden sollen, um die Profite zu privatisieren und die Kosten zu sozialisieren. Nicht der Stress des täglichen Überlebens, die chemische Verseuchung der Nahrungsmittel, die toxische Belastung der Atemluft oder andere Folgen fossilistischer Industrieproduktion sollen krank machen, sondern individuelles Fehlverhalten wird zur Universalbegründung medizinischer Ausfälle erhoben.

Während die häufig aufgrund permanenter Belastung sozialökologischer Art chronifizierten Erkrankungen, die mit dem prothetischen Arsenal der Hochleistungsmedizin und Pharmaindustrie zumindest so weit eingeschränkt werden, dass die Menschen erwerbsfähig bleiben, was als zentralen biopolitischen Zweck staatlicher Gesundheitsfürsorge zu bezeichnen nicht übertrieben sein dürfte, als vermeintliches Individualgeschehen für das Raster der Eigenverantwortung passförmig gemacht werden können, sind die Verbreitungswege eines Erregers mit hoher Infektiosität wie SARS-CoV-2, der vor allem über das gemeinsam genutzte Fluidum der Atemluft um sich greift, hochgradig sozial bestimmt. Die von Boris Johnson propagierte individuelle Freiheit ist schon deshalb eine Mogelpackung, weil an einem infektiösen Geschehen mindestens zwei Personen beteiligt sind. Die Entpflichtung gerade so einfach und direkt zu vollziehender Infektionsschutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken, das Halten von Abstand und das Verbot des Zusammentreffens großer Menschenmengen in Innenräumen ist mithin nicht weit entfernt von einer sozialdarwinistischen Maßnahme zur Verlängerung der Front klassenspezifischer Auseinandersetzungen.

Eine Gesellschaft wie die britische, deren Gesamtprodukt in erster Linie dem finanzkapitalistischen Akkumulationsmodell der Londoner City geschuldet ist, macht Menschen aufgrund ihres geringen und weiter sinkenden Anteils an konventioneller Mehrwertproduktion systematisch für den Produktionsprozess überflüssig. Zugleich wird ein erheblicher Optimierungsdruck entfacht, der den Geschäftsbetrieb rationalisieren und die Arbeit produktiver machen soll. Das fast zeitgleiche Ausscheren Großbritanniens aus der EU, das diesen Rationalisierungsprozess auf die Spitze treiben und das globale Geschäft des britischen Kapitals effizienter machen soll, und des Beginns der Pandemie hat die herrschenden Geld- und Funktionseliten dazu veranlasst, die bei Arbeitsschutz, Arbeitsplatzgarantie und Sozialfürsorge flexibilisierte Bewirtschaftung der Bevölkerung auch auf das administrative Gesundheitsmanagement zu übertragen.

Wo biopolitische und staatsökonomische Zwecke in eins fallen, wird die Lebenskraft und -zeit der Menschen kalt kalkuliert auf rabiate Weise zum Verbrauchsstoff gemacht. Der Begriff des "Humankapitals" ist so zynisch nicht, denn die bei seiner Kritik in Anspruch genommene Moral hat in kapitalistischen Gesellschaften lediglich Feigenblattfunktion. So lange deren Betriebsmodus in der Verwertung des Kapitals um seiner selbst willen besteht, was in der Gleichgültigkeit des jeweiligen Gegenstands der Rechnung, aus Geld mehr Geld zu machen, in Erscheinung tritt, ist die Austauschbarkeit und Objektivierbarkeit dieses Produktionsfaktors mit der betriebswirtschaftlichen Vokabel "Human Ressources" korrekt benannt. Demgemäß geht es bei der Seuchenbekämpfung nicht um den Menschen an und für sich, sondern die Sicherung seiner Verwertbarkeit durch eine Form der sozialen Reproduktion, deren Hauptzweck der Bestand gesellschaftlicher Integrität und imperialistischer Handlungsfähigkeit ist.

"Freedom Day" meint genau dies - der gesellschaftliche Gesamtbetrieb soll auf die Höhe pandemischer Resilienz gebracht werden, um die möglichst unbehinderte Entfachung der Produktivkräfte auch bei höheren Verlusten in der Bevölkerung garantieren zu können. Dazu gehört selbstverständlich die Freiheit zu feiern und zu konsumieren, so lange zahlungsfähige Nachfrage abzuschöpfen und die Zustimmung für systemtragende Professionen und KapitaleignerInnen zu erlangen ist. Partiell wieder aufzunehmender Einschränkungen wie die von Johnson nach den großen Partys am Freedom Day ins Gespräch gebrachten Impfpässe für NachtklubbesucherInnen, deren Vorzeigen ab September verpflichtend werden soll, wie situativ abgestimmter seuchenpolitischer Maßnahmen eingedenk hat die Gewährleistung des Gesamtbetriebs auch als nach außen gewendeter Standortvorteil Vorrang. Als Vorwand für repressive Maßnahmen, die über das epidemiologisch Sinnvolle hinausgehen oder gleich auf andere Felder staatlicher Sozialkontrolle überblenden, hat sich die Pandemie längst bewährt, denn die Freiheit der Eigentumsordnung ist die Fessel all jener, die nichts besitzen als ihre durch Verkauf stets fremdbestimmte Arbeitskraft.

Dass die Privilegien der EigentümerInnen, die sich Freiheiten aller Art in Form besonderer Leistungen und Kaufangebote herausnehmen können, desto wertvoller werden, als der Schatten, der auf den davon ausgeschlossenen GeringverdienerInnen, MigrantInnen und Flüchtenden lastet, düsterer wird, vertieft den klassenantagonistischen Charakter des Freedom Days. Meritokratische Effekte sind in das pandemische Krisenmanagement eingepreist, denn soziale Ungleichheit ist ein besonders heiß brennender Treibstoff, dessen der Phönix bedarf, wenn er sich über die bei seinem Aufstieg produzierten Ascheberge erheben will. Ein treffendes Sinnbild dafür ist der Start des milliardenschweren englischen Unternehmers Richard Branson ins All - wo der Schub seines Raumschiffes auf dem Rücken von Millionen erwirtschaftet wird, ist der lebensfeindliche Gehalt einer möglichen Flucht von der Erde hinter keinem Euphemismus menschlichen Fortschritts mehr zu verstecken.

Das gilt auch für die aktuelle Aussage des britischen Gesundheitsministers Sajid Javid, es sei an der Zeit zu lernen, mit dem Virus zu leben, anstatt sich weiter vor ihm wegzuducken. Wenn mit Freiheit gemeint ist, sich ganz auf die Impfung zu verlassen und alle anderen Schutzvorkehrungen zu ignorieren, dann kann das nur als Affront für all diejenigen verstanden werden, die weiterhin Vorsicht walten lassen. Resilienz erweist sich ganz im Sinne der sogenannten Risikogesellschaft, in der unternehmerisches Kalkül zur zentralen Ratio aller Tausch- und Wechselverhältnisse erhoben wird, als marktförmige Anpassungsstrategie, der ein gewisser Abrieb in Form permanenter Verluste an Menschenleben oder Long Covid-Fälle unabdinglich ist.

Die langfristigen Schäden, die durch das aktive Entfachen des Infektionsgeschehens angerichtet werden und insbesondere die nichtgeimpfte Altersgruppe bis 18 Jahre treffen könnten, beunruhigen große Teile der Bevölkerung, wie Umfragen zeigen, bei denen mehr als 50 Prozent gegen die Aufhebung des verbindlichen Infektionsschutzes votieren. Der Preis für das forcierte Erreichen der Herdenimmunität, die angesichts der höheren Infektiosität der Delta-Variante bei über 90 Prozent der Bevölkerung liegen dürfte, deutet sich bereits in der anwachsenden Zahl jüngerer Covid-PatientInnen auf den Intensivstationen an. Die Prognose, dass rund 10 Prozent aller Infizierten mit Long Covid-Symptomen zu kämpfen haben werden, von denen wiederum ein Viertel dauerhafte Organschäden davontragen könnte, ist bei einer möglichen Zahl von bis zu 100.000 Neuinfektionen am Tag ebenfalls nicht gering zu schätzen.

Die umfangreiche Literatur zum Zusammenhang des Überspringens in Tieren residenter Infektionsagentien via tierischem Zwischenwirt oder direkter Übertragung auf den Menschen als auch die von EpidemiologInnen befürchtete Qualifizierung der Infektiosität und des Überspringens von Immunschranken durch weitere Mutanten von SARS-CoV-2 legt nahe, dass die destruktiven sozialen, medizinischen und ökologischen Auswirkungen der fossilistischen Produktionsweise und des globalen Reiseverkehrs wie Warenhandels in anwachsender Häufigkeit Pandemiegeschehen hervorrufen werden. Die durch den kapitalistischen Wachstumszwang befeuerten, auf immer mehr Lebensbereiche ausgreifenden und deren Reproduktionsfähigkeit erschütternden Produktivkräfte bewegen sich auf einem Verbrauchs- und Zerstörungsniveau, das mehr in Frage stellt als die Freiheitsversprechen eines Liberalismus, der die Fortsetzung dieses Entwicklungspfades im Zweifelsfall gewaltsam durchsetzen will.

Die durch die Krise des Klimas, der Biodiversität und der weltweit anwachsenden sozialen Verelendung aufgeworfene Frage, wie wir in Zukunft arbeiten und leben wollen, erhält durch die Pandemie nicht nur zusätzliche Brisanz, sondern lässt die radikale Überwindung der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse für immer mehr Menschen alternativlos erscheinen. Ein gesellschaftliches Großexperiment wie das in UK verfolgte Projekt, sich unter kapitalistischen Bedingungen als imperialistischer Akteur auf der Weltbühne behaupten zu wollen, indem die eigene Bevölkerung als Brennstoff viraler Reproduktion einem Härtetest mit ungewissem Ausgang unterzogen wird, könnte vielleicht sogar diejenigen, die selbst dann noch abwarten und zuschauen, wenn der Himmel in Flammen steht oder Wassermassen biblischen Ausmaßes aus seinen Pforten entlässt, während der Boden in der Sonnenglut unfruchtbar wird oder in Schlammfluten wegsackt, eines Besseren belehren.

26. Juli 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 165 vom 31. Juli 2021


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